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Die unrussischen Söhne des russischen Vaterlandes

Historische Forscher:

1. Tatjana Malinowskaja
Schülerin der 11. Klasse an der städtischen Bildungseinrichtung der Schadrisnker allgemeinbildenden Oberschule,
heimatkundliche Vereinigung „Wiedergeburt“
2. Sergej Putinzew
Schüler der 10. Klasse an der städtischen Bildungseinrichtung der Schadrisnker allgemeinbildenden Oberschule,
Heimatkundliche Vereinigung „Wiedergeburt“

Leitung:
Margarita Iwanowna Sysoejewa
Walentina Prokopjewna Manchajewa
Ortschaft Schadrino

Einführung

Die größten Wissenslücken in der Geschichte unseres Landes fallen in die Zeit der Repressionen. Es ist unmöglich, sie allein mit Hilfe von Archiv-Dokumenten zu stopfen.

Viele Millionen Menschen waren von politischen Verfolgungen betroffen. Doch es sind nur äußerst wenige schriftliche Zeugnisse und Memoiren erhalten geblieben. Dafür gibt es eine Erklärung. Es ist nämlich so, daß die Leidtragenden, die all das selber miterlebt haben, niemals angefangen haben aufzuschreiben, was ihnen widerfahren ist. Und das betrifft sowohl enteignete Bauern, als auch Menschen, die aufgrund der zahlreichen stalinschen Ukase verurteilt wurden – wegen Zuspätkommens zur Arbeit, Nichterfüllung der Tagesarbeitseinheiten, Verübung unbedeutender Diebstähle (wie es im Volke hieß „wegen ein paar Kornähren“). Diese Menschen ausfindig zu machen, ihre Erzählung aufzuschreiben – das ist eine Aufgabe von großer historischer Bedeutung. Denn bisweilen liegt ein weitreichender biographischer und sogar historischer Sinn in einem einzigen, ganz alltäglichen Detail.

Die Geschichte fast jedes menschlichen Schicksals ist im 20. Jahrhundert mit freiwilligen oder aufgezwungenen Migrationen und Umsiedlungen verbunden. Die Leute wurden aus ihren angestammten Heimatorten herausgerissen. Viele mußten lange Zeit in der Rolle eines „Fremden“ ausharren, andere – und auch das waren sehr viele – stießen in ihrem Leben auf Fremde“. Eine andere Nationalität, eine andere Religion, andere Überzeugungen sind nicht nur wichtig für die Analyse der Vergangenheit – sie haben auch in unserer heutigen Zeit nicht an Aktualität verloren. Leider nehmen Feindseligkeit und Mißtrauen in Zeiten politischer Spannungen jäh zu. Es ist schon sehr einfach, in einem „Fremden“ den konkreten Schuldigen für das eigene Unglück zu sehen. Und nur ein ganz unvoreingenommener Bericht wird in gewissem Maße zur Grundlage für die Schaffung eines Klimas gegenseitiger Toleranz in unserer Gesellschaft.

Anmerkungen

„Es lohnt sich nicht, sich endgültig von der Vergangenheit zu verabschieden,
Das Gedächtnis muß sich klären durch die Erinnerung,
Wie der Gedanke durch das Wort.
Das Gedächtnis braucht Papier und Bleistift und … Zuhörer“
Daniil Granin

Ziel: die historischen Ereignisse auf Grundlage der zerstörten Siedlungen wiederherzustellen, die während der Sommer-Flößerei auf dem Fluß Tschulym in der Nähe des Dorfes Tamoschenka, Bezirk Nasarowo, Region Krasnojarsk, entdeckt wurden.

Aufgabenstellung:
1. Schüler zur Erforschung historischer Fakten über politische Repressionen heranzuziehen.
2. Kommunikative Fertigkeiten und Kenntnisse herauszubilden.
3. Die zu diesem Thema im Bezirksarchiv sowie im Rahmen von Erinnerungen von Repressionsopfern und ihrer Angehörigen erhaltenen Materialien zu verallgemeinern.
Untersucht wurden konkrete Fakten in der Biographie von Verbannten, Lebensbedingungen und die Arbeit unter konkreten Bedingungen.

Für die vorliegende Arbeit wurden folgende Methoden verwendet:
1. bibliographische Materialsuche
2, Archivsuche
3. Gespräche
4. Interviews

Die vorliegende Arbeit kann für den Geschichtsunterricht an der Schule, in den Heimatkundestunden sowie im Schulmuseum Verwendung finden. Das Material ist wertvoll wegen seiner neuen Fakten, welche die Geschichte des Rußlands vergangener Tage betreffen.

Hypothese: Bei der Realisierung unseres Bildungsprojekts „Kleine Reise auf einem großen Fluß“ (per Floß über den Fluß Tschulym), entdeckten Schüler unserer Schule am Ufer des Tschulym Überreste von barackenähnlichen Gebäuden. Zu der Zeit waren weder der Leiter der Gruppe S.A. Gardt (Hardt?) noch die Schüler selber in der Lage, auf die Frage „Was ist das?“ zu antworten. Von den Alteingesessenen bekamen wir eine Menge darüber zu hören, daß es in der Nähe des Dorfes Tamoschenka in den Nachkriegsjahren ein Lager für Verbannte gab. Wir beschlossen, konkrete historische Fakten darüber aufzustellen, ob die von uns entdeckten Überreste tatsächlich von einem einstigen Lager für repressierte politische Häftlinge stammten. Im Verlaufe der Forschungsarbeit ergaben sich folgende Resultate:

1. Ergebnis der Gespräche mit Alteingesessenen war die vollständige Feststellung der Tatsache, daß ein Lager für politisch gefangene Verbannte im Dorf Tamoschenka, Bezirk Nasarowo, Region Krasnojarsk, existiert hat
2. Die gesammelten Dokumente, Fotografien und Briefe haben ein weiteres Mal bestätigt, daß ein solches Lager in den Jahren der Repression tatsächlich in Betrieb war.

Man möchte so gern alle namentlich benennen,
Aber sie haben die Listen weggenommen,
Und nun kennt sie niemand mehr …..
A.A. Achmatowa

Die Vergangenheit ist unwiderruflich. Und im Nachhinein können wir heute die unschuldig Verurteilten nicht mehr vor der Erschießung bewahren, und wir haben auch nicht die Möglichkeit, die Kugeln von unseren Landsleuten abzulenken. Wir sind aber fähig, die Zukunft vor den verbrecherischen Praktiken der Vergangenheit zu bewahren, und wir sollten auch alles daransetzen dies zu tun. Dazu ist die historische Erinnerung unerläßlich. Um sich zu erinnern, muß man Kenntnisse besitzen! Denn die Geschichte eines Landes spiegelt sich in den Schicksalen seiner Staatsbürger wider. Je mehr man über das Leben seiner Vorfahren weiß, um so besser erkennt man die Nuancen der gewaltigen historischen Ereignisse, um so genauer versteht man ihren Einfluß auf die Schicksale der Menschen. Das Bild des Lebens im Lande wird unvollständig bleiben, wenn man für seine Erforschung ausschließlich offizielle Materialien, Mitteilungen, Chroniken verwerndet. Um objektiv urteilen zu können, muß man die Berichte der Menschen berücksichtigen und mit einflechten, die Augenzeugen der Geschehnisse waren, über die wir hier berichten wollen.

„Wenn ein Mensch aus dem Leben scheidet – dann ist das eine Tragödie.
Wenn tausende sterben – so handelt es sich um reine Statistik“
Josef Stalin

Die Deportation aufgrund nationaler Merkmale begann im Lande Mitte der 1920er Jahre. So waren beispielsweise im Zeitraum der Sowjetisierung des Baltikums (1931-1939) dort ansässige Völker von der Deportation betroffen, die mit der Parteipolitik nicht einverstanden waren. 6000 Personen wurden damals erschossen, 75000 verhaftet, 38000 Familien deportiert. Gegen Ende des Sommers 1941 wurde die gesamte Bevölkerung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen sowie Deutsche aus Saratow, Stalingrad und Moskau nach Sibirien und Kasachstan verschleppt. Ab November 1943 bis Juni 1944 nahm unser Sibirien deportierte Tschetschenen, Inguschen, Krim-Tataren und Kalmücken auf. Von der Krim und aus dem Kaukasus wurde die Zahl der Sondersiedler durch Griechen, Bulgaren und Armenier aufgestockt. Sibirien nahm etwa 100000 Menschen auf. 1991 wurde das Gesetz „Über die Rehabilitierung repressierter Völker“ verabschiedet, welches die vollständige politische, kulturelle und territoriale Rehabilitation der zwangsverschleppten Völker verkündete. Wie lebten nun in jener Zeit die verbannten Völker, wie wurden sie von den Alteingesessenen aufgenommen und welche Spuren haben sie an ihrem neuen Wohnort hinterlassen? Wir hoffen sehr, daß unsere Arbeit ein weiters Mosaiksteinchen bei der Wiederherstellung der Wahrheit und der Erinnerung an die Vergangenheit darstellt. In unserer schwierigen Zeit helfen die Erinnerungen über die Tragödien vergangener Jahre wenigstens bis zu einem gewissen Grade dabei, die Zukunft vor Grausamkeit und Unmenschlichkeit zu bewahren. Dokumentale Erinnerungen von Augenzeugen der Ereignisse ferner Jahre müsen unbedingt bewahrt und an die neue Generation herangeführt werden, und man muß dabei unterstreichen: „So ist es damals gewesen! Aber so soll es niemals wieder sein!“

In dieser Welt gibt es keine Schuldigen:
Die Dunkelheit bricht urplötzlich über den Staat herein,
Es triumphieren die Horden der Besessenen
Und wirkungslos bleibt jede Arzenei
Igor Guberman

Auf der steinigen Terrasse, inmitten dichten Hanfgestrüpps, steht ein Stein aus Granit. Einst führte ein Weg zu ihm, der heute mit Gras völlig überwuchert ist. Es gab auch einen kleinen Pfad vom Fluß hierher – auch er ist inzwischen im hohen Gras verschwunden. Auf dem Stein die Aufschrift: „An diesem schönen Ufer des Tschulym, unter dem Schatten des Kiefernwäldchens, stand bis 1975 das Dörfchen Parnowo, in dem einfache, fleißige Menschen wohnten, die durch die kurzsichtige Politik der Dörfer ohne Perspektiven an verschiedene Orte verstreut wurden. Ewiges Gedenken sei den Landsleuten und Dorfnachbarn, deren Asche in dieser Erde ruht“. Dankbare Nachfahren. Dieser Stein steht an der Stelle des ehemaligen Dorfes Parnowo im Balachtinsker Bezirk. Und wieviele solcher Gedenksteine könnte man noch aufstellen! Wieviele Dörfer wurden von der Landkarte ausradiert – aber in der Erinnerung der Menschen sind sie erhalten geblieben. Die Ufer des Tschulym könnten eine Menge davon erzählen.

Tamoschenka war 1940 ein kleines Dorf, in den Bergen gelegen, mit Taiga bewachsen; der Boden war nicht fruchtbar, die Gemüsegärten unscheinbar. Die Einwohner gingen im Winter die 12 Kilometer zufuß bis ins dorf Ammala, um dort einen Eimer gefrorener Kartoffeln zu kaufen … Über die ersten Siedler dort erfuhren wir von Walentina Filippowna Golosowa (geb. 1927), Einwohnern von Tamoschenka, die eine Zeit lang in der Siedlung Podsosnoje, Bezirk Nasarowo, gelebt hat.

„Während des Krieges gab es am Oberlauf des Tamoschensker Bachs, etwa 8 km von Tschulym enfernt, vier Baracken – ein Gefangenenlager. Ich arbeitete dort als Köchin. Es gab dort eine Gruppe verschleppter Geistlicher. Einer von ihnen – mein Onkel Aleksander Samjatin - war zu 10 Jahren verurteilt und aus dem Gebiet Tscheljabinsk ins Tamoschensker Lager deportiert worden. Nachdem er seine Strafe abgesessen hatte, lebte und predigte er im Dorf Ammala. Die Geistlichen sägten mit leichten Bügelsägen riesige Bäume ab und schleppten auf ihren Schultern die schweren Stämme über die Waldwege des Berges Rudnik. Das vorbereitete Holz transportierten sie auf Schlitten, mit Hilfe von Ochsen und Pferden, zum Tschulym“.

W.F. Golosowa berichtet weiter: „ Sie trieben Kalmücken zu uns ins Dorf. Das geschah zum Winter hin, und sie waren halb entkleidet. Lebensmittel wurden für sie nicht herangteschafft. Die Ortsansässigen konnten ihnen so gut wie überhaupt nicht helfen. Alle Kalmücken aus dieser Häftlingsetappe starben vor Hunger oder erfroren im Laufe des Winters. Beerdigt wurden sie nicht. Im Frühjahr wurden die aufgetauten Überreste von den Hunden zerrissen…“

Hier würde ich gern anmerken, daß wir Informationen darüber gewinnen konnten, daß man den kalmückischen Umsiedlern für den materiellen Verlust an den ihnen seinerzeit verloren gegangenen Behausungen Kompenesationszahlungen geleistet hat. Das klang in einem Brief von S.B. Rassadnikowa Aus der Ortschaft Schalinskoje im Mansker Bezirk durch, der an die Adresse des Regionalen Zentrums für Heimatkunde gerichtet war: „Jeder Kalmücken-Familie wurde sogleich bei der Ankunft in Sibirien eine Entschädigung gezahlt….“. Ausgehend von Golosowas Bericht kann man verstehen, daß die Kalmücken keine materielle Hilfe erhielten.

W.F. Golosowa fährt mit ihren Erinnerungen fort: „Ich kann mich noch gut an Nataschka, die Kalmückin, erinnern. Manchmal hatten wir Kontakt miteinander. Sie befanden sich damals etwa 8 km vm Dorf Tamoschenka entfernt. Dort gab es 3 Baracken; in jeder von ihnen lebten 50 Kalmücken. Was aßen sie? Verfaulten Kohl, und mitunter schlachteten sie auch kranke oder lahmende Pferde, die man schon nicht mehr zum Arbeiten einsetzen konnte – zu ihrer Kost gehörten auch gefrorene Kartoffeln. Einige Kalmücken, wie auch meine Bekannte Nataschka, zogen auf der Suche nach Lebensmitteln durch die nahegelegenen Dörfer Ammala, Polkanowka und Tamoschenka. Die versuchten sie dann gegen Kleidung einzutauschen, wenngleich gerade diese Kleidungsstücke schon ziemlich abgetragen waren“.

Das Dorf Tamoschenka beherbergte nicht nur Kalmücken. Unmittelbar am Dorfrand stand eine langgezogene Baracke, in der verbannte Litauer und Letten untergebracht waren (mehr als 50 Personen). Sie waren aber auch in den hölzernen Häusern alteingesessener Hausbesitzer einquartiert. Diese Umsiedler hatten alle möglichen Sachen, häusliche Gerätschaften mitgebracht – Dinge, die für ihr zukünftiges Leben nützlich und wertvoll und auf der langen Fahrt nicht allzu hinderlich waren. Auch sie waren gezwungen all das bei den Dorfbewohnern gegen Lebensmittel einzutauschen. Hauptsächlich erhielten sie dafür Milch, Kartoffeln und Kohl. Weswegen hatte man sie verschleppt? Darüber wurde zu der damaligen Zeit wenig gesprochen. Es gab nur eine Antwort: sie waren Volksfeinde. Sie alle waren ausgesprochen fleißig. Im wesentlichen arbeiteten sie irgendwo in der Taiga. Dort gab es die Waldwirtschaft „Plotbischtsche“ (etwa: „Flößplatz“; Anm. d. Übers.) – das Forstrevier des Dorfes Tamoschenka, unweit des Dorfes Krasnij Jar. Ich kann mich noch gut an eine ältere Lehrerin, eine Lettin, erinnern, die sehr still und gutmütig war. 1950 wurden 21 chinesische Familien hierher verschleppt. Auch vor ihnen hatte es in unserem Dorf schon Chinesen gegeben. Sie waren während des Krieges aufgetaucht. Alle waren in der Forstwirtschaft tätig. Gelegentlich kamen Mischehen mit russischen Familien zustande, zumindest galt dies nicht als Seltenheit“.

Besonders W.F. Golosowa erzählte von einer berühmten Eisstraße: „Die Brigadeführerin bei uns hieß Maria Iwanowna Melnikowa. Die Eisstraße verlief entlang des Flusses Tamoschenka, auf einer Länge von 7 km in Richtung des Flusses Tschulym. Dort wurden Baumstämme aufgestapelt, damit man sie im Sommer auf dem Fluß abflößen konnte. Die Straße wurde aus Schnee gebaut, den man mittels einer Walze plattdrückte. Das geschah zu Pferde; danach wurde ein Fahrspur hineingeschnitten, die dann mit Wasser ausgegossen wurde, damit sie schön rutschig war. Es wurden immer um die 7-8 Kubikmeter Fracht geladen. Die Schlitten waren groß. An jedem Straßenkilometer standen Frauen, die die Fahrspur mit Besen sauberfegten. Unser Verdienst betrug 300 Rubel – Brot kostete damals 2 Rubel das Kilo. So arbeiteten wir im Winter. Diese Eisstraße wird man bis an sein Lebensende nicht mehr vergessen.

Der Sommer kam. Die Arbeitsbedingungen änderten sich. Die Arbeiter errichteten auf einem Floß eine Baracke. Das Floß setzte sich aus 6 Platten von jeweils 12-14 Baumstämmen zusammen. Und genau darauf stand also die mit dünnen Brettern abgedeckte Baracke. Vierzig Mann lebten darin. Es ab ein eigenes kleines Lädchen sowie eine Küche. Mit uns zusammen wohnten die beiden Brigadeführer und der Leiter. Die Stämme wurden von beiden Seiten ins Wasser hineingestoßen, und das Floß mit der Baracke „schwamm als Schwanz hinterher“. Auf diese Weise also flößten wir das Holz bis zum Hafen der Stadt Hasarowo ab“.

Interessante Informationen über politische Gefangene und Repressierte in der Ortschaft Solgon gaben uns die Einwohner des Dorfes Podsosnoje - Ljubow Iwanowna Kriwowa und Anatolij Michailowitsch Parfenow: „In den Jahren 1937-1939 gab es am Fluß Talinowaja ein Lager. 1939 wurde es bereits wieder geschlossen. Die Häftlinge wurden nach Reschoty verlegt. Auf einer Anhöhe an der Mündung der Talinowaja befanden sich Dachshöhlen – der Friedhof von repressierten Letten … Während des Krieges lebten Letten und Litauer im Dorf Tamoschenka, unter ihnen folgende Personen: die Litauer Anton Algimontos, Anton Bilson, Wladimir Bilson sowie der Pole Aleksandr Tschurak (der heute in der Statdt Nasarowo wohnt).

1954 kehrten die überlebenden Litauer und Letten in ihre Heimat zurück.

Und am Fluß Beresowaja lebten und arbeiteten Gefangene des Siblon-Lagers. In den 1950er Jahren (bis Anfang der 1960er Jahre) gab es in Tamoschenka etwa 60 Wohnhäuser, im Dorf Talinowka, an der Mündung der Talinowaja, ungefähr 50. Damals war auch eine Fährverbindung über den Tschulym-Fluß in Betrieb. In der Waldwirtschaft wurde zu Beginn der 1960er Jahre die Arbeit eingestellt, die Bewohner von Tamoschenka und Talinowka verließen die Gegend und transportierten ihrer Häuser in die Ortschaften Schadrino und Podsosnoje. Bis 2001 stand noch ein einziges Haus (eines Waldarbeiters) in dem entlegenen Tamoschenka. Das Haus brannte ab. Heute befindet sich an den Stelle der ehemaligen Dörfer Tamoschenka und Talinowka sowie der alten Dorffriedhöfe das undurchdringliche Gestrüpp von Brennesseln und wilden Himbeersträuchern.

Was kein Lied ist – das ist Geschichte
M. Gorkij

Aus den Erinnerungen von Anna Prokopewna Belaja (geb. 19179 aus dem Dorf Ammala:
„Egal wie schwer die Arbeit auch war und ungeachtet all der schwierigen Alltagsbedingungen, haben die Leute stets versucht, sich ihr Leben irgendwie einzurichten.
Viele junge Familien entstanden als Resultat von Mischehen. In jenen Jahren sangen die Mädchen ein ganz bestimmtes Lied, an das ich mich noch oft erinnere. Wer es mitgebracht hat, von wem der Text geschrieben wurde – das wußte niemand. Aber häufig ertönten an den Abenden über den Wassern des Tschulym die traurigen Worte des Liedes, welche die Seelen der Umsiedler und Alteingesessenen gleichermaßen berührte:

Ich habe nicht gewußt und nicht gehört –
Mein Liebling, -
Wem ich in aller Heimlichkeit
Ein weißes Handtuch nähte.

Ihm, dem lieben Freund,
Nach dem ich mich die ganze Nacht so sehne,
Dem Unglücklichen, dem hier Fremden,
Den ich so sehr liebe.

Gewaltsam haben sie ihn hergetrieben –
Unter Bewachung und mit Waffen,
In unserer Taiga-Gegend,
Er hat gesehehn, wie wir leben.

Der Starost dann hat ihn geschickt
In unser Haus als Mitbewohner.
Er fühlt sich wie ein Falke im Käfig,
Sehnt sich so sehr nach draußen.

Bekümmertes Waisenkind,
Ohne Ackerland, ohne Hütte,
Wie ein Grashälmchen auf dem Feld –
Ein schlimmeres Schicksal gibt es nicht.

Er kommt nicht aus unserem Gebiet,
Muß aber nun ein Leben lang hier bleiben!
Ich werde hingehen und seine Ehefrau werden,
Dann werden wir uns nicht grämen.

Haben die Sondersiedler irgendwann einmal gesungen? Ja. Ihre Lieder waren langgezogen, traurig und ließen niemanden gleichgültig. Sie sangen die Lieder, von Schluchzern unterbrochen, waren bemüht, ihre Herzen auf irgendeine Weise zu erleichtern. Bald kannten wir die ausgedehnten kalmückischen Gesänge, erinnerten uns auch der Lieder der Letten und Litauer. Aber fröhlich Lieder hörte man nur äußerst selten. Vertrugen sich die Ortsansässigen mit den Neuankömmlingen? Was sollten wir schon groß gemeinsam teilen? Alle dachten doch nur an das Eine – wie sie überleben könnten. Die Fremden, die vom Tode verschont blieben, kamen sich nach und nach näher, und zwischen uns entstanden freundschaftliche Beziehungen. So trafen im Dorf Ammala im Jahre 1941 Sondersiedler aus dem Gebiet Astrachan, Siedlung Barun, Boris Sangadschijew und die Familie Abbja Zyganowa ein. Sie gründeten eine Familie, in der später fünf Kinder geboren wurden. Gegenwärtig leben sie im Dorf Ammana, in der Stadt Krasnojarsk und in Norilsk. Aus Archivdokumenten erfuhren die Kinder den wahren Namen ihres Vaters – Natar Ubumajewitsch, der im Jahr 2000 in seine Heimat zurückfuhr, wo man ihm den durch die ungesetzlichen Repressionen entstandenen Schaden ersetzte.

Schlußbemerkung

Überstürze nichts, bewahre die Erinnerung
(Volksweisheit)

Die im Rahmen unserer Forschungsarbeit aufgestellte Hypothese fand in folgenden Fakten Bestätigung: bei den zerstörten Siedlungen in der Nähe des Dorfes Tamoschenka handelte es sich tatsächlich um Lager von verbannten Polithäftlingen. Das Volk hat eine Zukunft, so lange es sich an die Vergangenheit erinnert. Wir hoffen, daß das Thema „Wir – die Fremden“ noch seine Fortsetzung finden wird. Wir beabsichtigen auch weiterhin nach den Nachfahren ehemaliger Verbannter zu suchen, denn es gibt noch zahlreiche ungeklärte Fragen: ist noch irgendjemand von den „Tamoschensker“ Kalmücken, Letten, Litauern, Polen am Leben? Wie gestaltete sich ihr weiteres Schicksal, nachdem sie die Tamoschensker Zwangsarbeit hinter sich gelassen hatten? Dieses Rätsel der Solgonsker Gebirgskette wird mit Sicherheit noch mehr als nur eine Generation interessieren. Heutzutage reißt uns mit ungeheurer Kraft der Sturm der Ohnmacht, der Brennesseln und des bitteren Wermuts menschlicher Gleichgültigkeit mit. Wir rufen alle dazu auf, sich im Hinblick auf die Erinnerung an unsere Vorfahren so zu verhalten, daß wir selber nicht von Abcheulichkeiten, Verwilderung und Vernachlässigung heimgesucht werden.

Räumen wir die überwucherten Pfade, die zu den Gedenksteinen aus Granit führen.

 


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