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Der Genozid in Russland in Bezug auf das deutsche Volk in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges und der Nachkriegszeit

Bogotolsker Allgemeinbildende Oberschule
Bogotolsker Bezirk, Region Krasnojarsk

Autor: Artjom Panow - Schüler der 10. Klasse

Leitung: Lehrerin des höheren Bildungswegs,
Verdiente Mitarbeiterin in der Allgemeinbildung
Nadeschda Aleksandrowna Golowkowa

2013

Einführung

Am 30. Oktober 2009 wandte sich der russische Präsident Dmitrij Medwedjew im Zusammenhang mit dem Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen an das russische Volk.

Das Staatsoberhaupt verkündete, dass die „Erinnerung an die nationalen Tragödien ebenso heilig sind, wie die Erinnerung an die errungenen Siege“. Er fügte hinzu, dass es „wichtig sei, angesichts der Rekonstruktion der historischen Gerechtigkeit keinerlei Rechtfertigung für jene zuzulassen, die ihr Volk vernichtet haben“.

1941, nach dem Beginn des Großen Vaterländischen Krieges, änderte sich das Schicksal der Wolga-Diaspora von Grund auf. Die Loyalität der Deutschen gegenüber der Sowjetmacht wurde unter Zweifel gestellt. Am 26. August verabschiedeten der Rat der Volkskommissare der UdSSR und das Zentralkomitee der Allrussisch en Kommunistischen Partei eine Anordnung, welche die Umsiedlung aller Deutschen aus der Wolga-Autonomie, den Gebieten Saratow und Stalingrad in die östlichen Regionen der RSFSR und der Kasachischen SSR vorsah. Die Anordnung enthielt eine Liste der Regionen und Gebiete, in denen die Menschen angesiedelte werden sollten, außerdem Unterbringungsquoten für die deportierten Deutschen. Insgesamt sollten 433.000 Personen umgesiedelt werden. In der Anordnung sind auch die zur Durchführung dieser Operation anzuwendenden Maßnahmen aufgeführt, welche am 20. September 1941 abgeschlossen sein sollte.

Auf Befehl des NKWD vom 27. August wurden Mitarbeiter dieser Behörde, Mitarbeiter der Miliz und Angehörige der Roten Armee in die Republik der Wolgadeutschen geschickt. Für jede deutsche Familie wurden Erfassungskarten angelegt. Mitunter wurde die Zählung den Deutschen selber befohlen: Mit der ihnen eigenen Genauigkeit erstellten die Bewohner der Dörfer diese Listen, ohne zu wissen, welchen Sinn und Zweck sie hatten.

Eine offizielle Information zu der bevorstehenden Deportation gab der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 „Über die Umsiedlung der in den Wolga-Rayons lebenden Deutschen“. Die Deutschen wurden beschuldigt, in ihren Reihen Spione und Saboteure versteckt zu halten. Die Regierung hatte beschlossen, alle Deutschen von der Wolga in die Gebiete Nowosibirsk und Omsk, die Altai-Region und die Region Krasnojarsk sowie nach Kasachstan und die benachbarten Gegenden umzusiedeln und den Umsiedlern in den neuen Gebieten Grund und Boden sowie Nutz-Land zuzuweisen.

Wir sind der Ansicht, dass das von mir für Forschungszwecke gewählte Thema „Der Genozid in Russland in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges und der Nachkriegszeit in Bezug auf das deutsche Volk“ sehr aktuell ist, 50 Jahre lang durfte man über die aus dem Wolgagebiet nach Sibirien ausgesiedelten Deutschen nicht sagen, dass sie Repressionen ausgesetzt waren. Die Menschen Russlands müssen wissen, dass es nicht nur von Seiten Hitlers einen Genozid in Bezug auf das jüdische, russische, polnische Volk und andere gab, sondern auch seitens der Regierung der Sowjetunion gegenüber den Deutschen, die seit Katharina II. auf russischem Territorium lebten.

In diesem Zusammenhang wurde die These aufgestellt – dass die Wolgadeutschen nicht nur deswegen verschleppt wurden, weil die Faschisten auf Stalingrad losmarschierten, und das war der reinste Genozid. Um unsere Hypothese zu beweisen, setzten wir uns ein Ziel und stellten uns verschiedene Aufgaben.

Ziel: Enthüllung des Repressionssystems der UdSSR anhand von Menschenschicksalen.

Aufgaben:
1) Studium von Quellen, in denen Informationen über Repressivmaßnahmen am Volk enthalten sind;
2) Durchführung einer Umfrage unter Menschen, die in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges in den Bogotoler Bezirk verschleppt wurden;
3) Analyse der erhaltenen Informationen und Schlussfolgerungen.

Kapitel 1

Die Besonderheiten der sowjetischen National-Politik in Bezug auf die Russland-Deutschen definieren in vielerlei Hinsicht sowohl das historische Schicksal dieses Volkes, als auch seine heutige Lage. Offensichtlich sind die Wurzeln der komplizierten, gegenwärtigen ethnopolitischen Probleme der Russland-Deutschen im häufig inkonsequenten, willkürlichen politischen Kurs der Sowjet-Führung zu suchen, in ihrer Repressionspolitik während des Großen Vaterländischen Krieges.

Schauen wir uns einmal die Frage an, wie die Deutschen in Russland aufkamen.

Zur Erforschung der gestellten Probleme haben wir die deutsche Diaspora an der Wolga ausgewählt, die zu den Gruppen Russland-Deutscher gehören, welche sich zeitlich am frühesten in den inneren Landesregionen formiert haben. Die lokale Diaspora entstand nach den von Katharina II 1762-1763 herausgegebenen Kolonisationsmanifesten, in denen sie Ausländern anbot, sich in Russland niederzulassen. Den ausländischen Siedlern wurden eine Reihe von Privilegien und Vergünstigungen für ihren Neuanfang im russischen Imperium bewilligt. Als Ergebnis einer solchen Politik entstanden in den sechziger Jahren des XVIII . Jahrhunderts an der Unter-Wolga mehr als hundert deutsche Kolonien. Die deutsche Diaspora ,achte eine der größten ethnischen Gemeinschaften an der unteren Wolga aus und war gleichzeitig eine der zahlenmäßig umfangreichsten Gruppen der Russland-Deutschen.

Im XX. Jahrhundert handelt es sich bereits um ein russifiziertes Volk, das sich jedoch seine genetische Mentalität, sine Sitten und Gebräuche sowie seine Sprache bewahrt hatte. Die Deutschen lebten einträchtig miteinander, konnten gut wirtschaften, entsprachen den sowjetischen Zeiten.

An den neuen Wohnorten waren die deportierten Deutschen gezwungen, ihr Leben völlig neu zu ordnen. Häufig herrschte Mangel an Wohnraum, und in einem Haus wurden gleich mehrere Familien untergebracht. So wurden nach den Erinnerungen der Befragten in einem Haus fünf Familien einquartiert.. Unter Bedingungen, in denen die Nahrungsmittel knapp waren, mussten die Umsiedler nicht selten ein halbes Hungerdasein fristen.
Die Repressionspolitik in Bezug auf die Deutschen, welche mit der Deportation begann, fand ihre Fortsetzung in den nachfolgenden Maßnahmen.

Am 14. September 1941 trafen in der Region Krasnojarsk die ersten beide Züge mit deutscher Bevölkerung ein. 2270 Personen aus dem ersten Zug ließ man in Bolschaja Murta aussteigen, die 2336 Menschen aus dem zweiten in den Bezirken Scharypowo und Abakan.

Am 17. September 1941 kam der dritte Zug an der Station Atschinsk mit 2318 Menschen an, 2000 von ihnen wurden auf Lastschiffen weiter auf dem Fluss Tschulym nach Biriljussy geschickt. In Bogotol wurden 49 Familien abgesetzt.

1942 begann die Mobilisierung der Deutschen in Arbeitskolonnen (Trudarmee). Am 10. Januar wurde die Anordnung des Staatlichen Komitees für Verteidigung über die Mobilisierung aller in die Gebiete Nowosibirsk und Omsk sowie die Region Krasnojarsk, das Altai-Gebiet und die Kasachische SSR ausgesiedelten deutschen Männer im Alter zwischen 17 und 50 Jahren in Arbeitskolonnen. Es war vorgeschrieben, die Mobilisierten zum Holzeinschlag, zum Bau von Fabriken und Eisenbahnlinien zu entsenden. Am 7. Oktober 1942 erging eine neue Anordnung. Sie sah die zusätzliche Einberufung aller deutschen Männer im Alter von 15-16 und 51-55 Jahren vor, darunter auch in die Kasachische SSR und die östlichen Regionen der RSFSR Umgesiedelte aus den zentralen Regionen der UdSSR und der Republik de Wolgadeutschen sowie deutsche Frauen im Alter von 16 bis 45 Jahren. Sie sollten zu Unternehmen der Volkskommissariate für Kohle und Erdöl bzw. Gas geschickt werden.

In der Region Krasnojarsk arbeiteten die deutschen Trudarmisten beim Holzabflößen und in der Holzbeschaffung im Sajaner Bezirk am Fluss Kann Sie zeichneten sich durch Reinlichkeit, Rechtschaffenheit und Fleiß aus und gaben einander Halt.
Die Lebensordnung in den Trudarmee- Lagern war streng reglementiert. Faktisch unterschied sich die Lage der einberufenen Deutschen in nichts von der Situation der Gefangenen. Die Trudarmisten hatten in Reih und Glied, unter verschärfter Bewachung zu gehen und waren in von Stacheldraht umgebenen Baracken untergebracht.

Die schwierigen Lebensbedingungen und die unmäßige körperliche Arbeit führten zu einer Sterblichkeitsrate, die teilweise erhebliche Maßstäbe erreichte.

Kapitel 2

Bei der Arbeit am Thema der Nationalpolitik des Sowjetischen Staates in Bezug auf das deutsche Volk erstellten wir zuerst einen Fragebogen (einen Fragen-Katalog für auf dem Territorium der Ortschaft Bogotol lebende Deutsche). Als nächstes wurden Schüler der Bogotolsker Allgemeinbildenden Oberschule mit deutschen Nachnamen ermittelt: Ott, Werner, Luft, Krämer, Kraft, Miller (Müller?), Diehl, Weida.

Drittens brachten wir den Fragebogen bei deutschen Familien in Umlauf und erhielten daraufhin entsprechende Informationen. Aus diesen Angaben folgt: ursprünglich wurden alle Familien, mit Ausnahme der Familie Luft, im August – September 1941 aus der Ortschaft Krasnij Jar im Gebiet Saratow verschleppt. Alle erhielten die Anweisung, innerhalb von 24 Stunden das Allernötigste zusammenzupacken (nur so viel, wie sie mit den Händen tragen konnten). In der vorgegebenen Zeit trockneten die Leute Brot zu Zwieback, schlachteten Vieh, suchten Lebensmittel für unterwegs zusammen. Die Männer wurden in die Arbeitsarmee mobilisiert, Frauen und Kinder auf Viehwaggons verladen. Man transportierte sie zwei Wochen lang durch ganz Russland bis nach Sibirien. Bei vielen gingen die Lebensmittel zur Neige, sie begannen zu hungern, und draußen wurde es kälter und kälter. Warme Kleidung bewahrte sie davor nicht. Man brachte sie bis zur Bahnstation Bogotol in der Region Krasnojarsk. Untergebracht wurden sie in verschiedenen Dörfern. Die Familie Weida kam nach Tjuchtjet, die Simons ins Dorf Sekretarka, die Familien Ott, Kraft, Werner - in das Dorf Bogotol.

Ein ganz allgemeines Bild. Im Verlauf des unmittelbaren Kontakts mit konkreten Personen wurde bekannt, welchen Entbehrungen und Demütigungen, welchem offenen Hohn und Spott die Verschleppten ausgesetzt waren.

Aus den Erinnerungen von Anna Jakowlewna Werner.

„In der Ortschaft Krasnij Jar, im Gebiet Saratow, hatten wir kein schlechtes Leben, besaßen unsere eigene Hofwirtschaft: eine Kuh, Ziegen, Schafe, Schweine, Hühner. Die Eltern arbeiteten, die Kinder packten zu Hause mit an, kümmerten sich um die kleineren Brüder und Schwester. Mit der Umsiedlung verloren wir alles. Am Verbannungsort mussten wir Hunger und Kälte durchmachen. Wir hatten kein Geld. Ich, ein elfjähriges Mädchen, zog die vereisten, mit Wasser gefüllten Einer aus dem Tschulym-Fluss, transportierte mit einem Schlitten Brennholz aus dem Wald ab, damit wir unsere baufällige Behausung heizen konnten. Im Sommer half ich für Lebensmittel bei der Heumahd in der Kolchose. Erst nach dem Krieg fingen sie damit an, Brotrationen auszugegeben. Und Anfang der 1950er Jahre, als ich anfing, an der Maschinen- und Traktoren-Station zu arbeiten, wurde erstmalig Arbeitslohn ausbezahlt. Nach und nach lebten wir uns ein. Es gelang jedoch nicht, wieder so einen Hof aufzubauen, wie wir ihn an der Wolga besessen hatten“.

Aus den Erinnerungen von Fjodor Friedrichowitsch Ott.

„Meine Familie brachten sie in die Ortschaft Bogotol und quartierten sie in einem Speicher beim Sommerlager für Feldarbeiter, unweit des Flusses Tschulym, unter, wo das Flüsschen Listwjanka mündet. Früher war dort einmal der Kolchosgarten gewesen. Im Speicher war es sehr kalt, und wir hausten mit fünf Familien darin: Werner, Justas, zwei Familien Groo und wir – die Otts. Um uns zu ernähren, gruben wir mit der Hand das Neuland auf den Waldlichtungen um und säten dort aus. Im Herbst ernteten wir. Aber im Frühjahr nahen sie uns das Land weg. Und wir mussten erneut Neuland pflügen. Ganz besonders litten wir durch die Verhöhnung und dir Beleidigungen seitens der Skuratowa-Brigade. Später führte man bei ihr eine Revision durch und brachte sie wegen Unterschlagungen hinter Schloss und Riegel. Und keiner von uns hatte Mitleid mit ihr“.

Aus den Erinnerungen von Lidia Andrejewna Weida (Ott)

„Meine Eltern wurden nach Tjuchtjet geschickt. Es gab dort nichts, wo man hätte wohnen können. Sie gruben also eine Erd-Hütte aus und ließen sich darin nieder. In der Kolchose arbeiteten sie nicht nur tagsüber, sondern auch nachts. Sie sprachen schlecht Russisch. Man lachte uns aus. Die Kinder waren wie gehetzte Tiere. Mit großen Entbehrungen lebten sie bis 1947. Dann kehrte der Vater aus der Arbeitsarmee zurück, und das Leben wurde ein wenig leichter. Er arbeitete in der Tierklinik – dort zahlten sie Lohn. Er begann ein Haus zu bauen. Das Leben kam langsam in Ordnung, man gewöhnte sich an das sibirische Klima und die dortigen Lebensbedingungen“.

Aus den Erinnerungen von Lina Luft.

„Die Familie meiner Eltern wurde nicht von der Wolga verschleppt, denn sie lebte in der Ukraine, geriet unter Besatzung. Mama und die ältesten Kinder wurden nach Deutschland getrieben. Dort befanden sie sich in einem Lager. Es ist bekannt, dass die Faschisten die (aus der UdSSR zugereisten) Deutschen nicht besonders verhöhnten und verspotteten. Meine Mama gefiel dem Lager-Kommandanten; er wurde hartnäckig und fing an, sie zu bedrängen; und um ihre Kinder zu retten, willigte sie schließlich ein, mit ihm zusammenzuleben. Als die Sowjettruppen das Lager befreiten, wurde Mama mit den Kindern in die Sowjetunion deportiert. Sie war vom Lager-Kommandanten schwanger. In der Ukraine konnte sie nirgends bleiben: das Dorf war vernichtet worden. Man schickte sie nach Sibirien. Und so gerieten wir in den Bogotolsker Bezirk. Mama bekam einen Sohn, und als der Vater aus der Arbeitsarmee zurückkehrte, machte er ihr keine Vorwürfe und sagte keine kränkenden Worte zu ihr, sondern dankte ihr dafür, dass sie seine Kinder beschützt hatte. Das neugeborene Kind erkannte er als seinen eigenen Sohn an. Dieser Junge erwies sich als sehr fähig; er beendete die Militärfachschule und ist derzeit Offizier des Obersten Kommandostabs der russischen Armee. Anfangs, bei der Ankunft im Bogotolsker Bezirk, hatte unsere Familie ein sehr schweres Leben, aber hier waren bereits Deutsche, die sich an das sibirische Klima gewöhnt hatten, und sie brachten uns bei, wie es sich unter ungewohnten Bedingungen leben lässt.

Aus den Erinnerungen von Anatolij Diehl.

Ich wurde bereits in Sibirien geboren. Die Eltern führten eine Mischehe: der Vater war Deutscher aus der Siedlung Krasnij Jar im Gebiet Saratow, Mama war Mordwinin. Auf uns, die Kinder, passte die deutsche Oma auf. Sie war eine charakterlich strenge Frau, die gegenüber uns Kindern keine Nachsicht walten ließ. Sie sagte, sie hätte im Leben so viel durchgemacht, dass sie ihre Enkel das Leben lehren müsste: plötzlich verändert sich im Lande irgendetwas, und dann müssen sie vielleicht Schlimmeres erleben, als das, was in den Kriegsjahren den ausgesiedelten Deutschen zu Teil wurde. Heute verstehe ich, dass sie, die die Ausweisung miterlebte, ihren gesamten Wohlstand verlor, Demütigungen und Erniedrigungen erduldete, große Angst hatte, dass auch die Enkelkinder sich an veränderte Situationen anpassen müssten. Sie sprach Russisch mit starkem Akzent und war mit uns böse, wenn wir sie nicht verstanden. Besonders ärgerlich wurde sie, wenn wir uns weigerten, mit ihr Deutsch zu reden. Wir brauchten die Muttersprache des Vaters schon nicht mehr. Jetzt begreife ich, wie dumm meine Entscheidung war. Mein Sohn musste die Sprache ganz von Null auf wieder lernen. Die Großmutter starb, Vater konnte nur schlecht Deutsch und ich kann zu meinem größten Bedauern überhaupt kein Deutsch. Das ist erst die dritte Generation, aber wir bereiten noch nicht einmal mehr nationale Gerichte zu, kennen die Sprache, Tradition, Sitten und Gebräuche bereits nicht mehr. Ob das schlecht oder gut ist – ich weiß es nicht. Wahrscheinlich ist es schlecht. Die deutsche Diaspora hatte seit den Zeiten Katharinas II bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ihre Eigenarten bewahrt und dann alles Nationale innerhalb von gerade einmal 50 Jahren verloren. Die Frauen waren gezwungen ortsansässige Männer zu heiraten: Russen, Tschuwaschen, Mordwinen. Das Deutsche Blut wurde ausgewaschen, fortgeschwemmt.

Kapitel 3

Der Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen tauchte erst vor 20 Jahren als offizieller Gedenktag im Kalender auf.

Die Erinnerung an nationale Tragödien ist ebenso heilig, wie die Erinnerung an die Siege. Und es ist außerordentlich wichtig, dass die jungen Leute nicht nur geschichtliche Kenntnisse erwerben, sondern auch bürgerliche Gefühle, damit sie in der Lage sind, eine der größten Tragödien in der Historie Russlands nachzuempfinden. Und hier ist nicht alles so einfach.

Vor vier Jahren führten Soziologen eine Umfrage durch – fast 90% unserer Bürger, junger Bürger im Alter von 18 bis 24 Jahren, konnten noch nicht einmal die Familiennamen berühmter Leute nennen, die in jenen Jahren unter den Verfolgungen zu leiden hatten oder sogar dabei umgekommen sind. Und das ist natürlich sehr besorgniserregend.

Es ist unmöglich sich die Wucht des Terrors vorzustellen, unter dem ganze Völker des Landes zu leiden hatten. Seinen Höhepunkt verzeichnete er in den Jahren 1937-1938. Für das deutsche Volk bedeutete das August – September 1941. „Des Wolga-Volkes Leid“ nannte Aleksander Solschenitzyn den nicht enden wollenden „Strom“ der Verfolgten jener Zeit. Im Verlauf der zwanzig Jahre vor dem Krieg wurden ganze Schichten und Stände unseres Volkes vernichtet. Praktisch liquidiert wurde die Kosakenschaft. „Entkulakisiert“ (als Großbauern enteignet; Anm. d. Übers.) und ausgesaugt die Bauern. Politischen Verfolgungen waren sowohl die Intelligenz, als auch Arbeiter und Militärangehörige ausgesetzt. Verfolgt wurden Vertreter absolut aller religiöser Konfessionen.

Der 30. Oktober – das ist der Tag des Gedenkens an Millionen verstümmelten Schicksale. An Menschen, die ohne Gerichtsverhandlung und Ermittlungsverfahren erschossen, an Menschen, die in Lager und in die Verbannung geschickt, an Menschen, denen die bürgerlichen Rechte entzogen wurden, weil sie nicht „jene Art“ der Beschäftigung ausübten oder aufgrund ihrer „sozialen Herkunft“. Der Stempel von „Volksfeinden“ und ihrer „Helfershelfer“ war damals ganzen Familien aufgedrückt.

Millionen Menschen kamen infolge des Terrors und erlogener Anschuldigungen ums Leben – Millionen Menschen wurden sämtliche Rechte entzogen. Selbst das Recht auf ein würdiges menschliches Begräbnis – und für viele Jahre waren ihre Namen aus der Geschichte vollständig ausradiert.

Doch bis heute kann man die Meinung hören, dass diese zahlreichen Opfer durch gewisse höhere Ziele des Staates gerechtfertigt waren.

Wir sind überzeugt, dass keine Entwicklung des Landes, keine seiner Erfolge und Ambitionen um den Preis menschlichen Leids und menschlicher Verluste erreicht werden können. Nichts kann höher gestellt werden, als der Wert des menschlichen Lebens.

Schlussbemerkung.

Die Folgen der Repressionspolitik haben sich wesentlich auf die Kultur und die nationale Sprache der Wolga-Deutschen ausgewirkt.

Man muss noch anmerken, dass die Grundlage der deutschen Umgangssprache dieser Gruppe ursprünglich die Dialekte ausmachten. An der Wolga waren, mit Ausnahme der Mennoniten-Kolonien, nur die mitteldeutschen Dialekte vertreten. Als Verbreiter der deutschen Literatursprache dienten vor allem Kirche, Schule und Presse. Doch auch diese Sprachvariante barg den Anflug eines Dialekts in sich. Von den beiden unter der Wolga-Diaspora verbreiteten Sprachen spielte Russisch in den Nachkriegsjahren eine große Rolle, denn sie stellte das Mittel der Kommunikation zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen dar. Die zunehmende Bedeutung dieser Sprache zeugt von einer aktiv vorangeschrittenen Assimilation im Sprachbereich, die nicht weniger große Maßstäbe annahm. als auf dem Gebiet der traditionellen Kultur. In den Familien hörte man die deutsche Sprache immer seltener. Infolgedessen kennt die heutige Generation die Muttersprache nicht mehr. Auch das ist Genozid. Die Kultur ist verloren gegangen, die sprache in Vergessenheit geraten, das Blut fortgeschwemmt.

1964 wurden die Deutschen durch den Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR rehabilitiert. Nach acht Jahren, 1972, erließ man ihnen die Einschränkungen bei der freien Wahl des Wohnortes. Ein Teil der Deutschen kehrte an die Wolga zurück; in den 1990er Jahren reisten die Familien Ott und Groo aus Bogotol nach Deutschland aus, wo sie heute noch leben. Aus ihren Briefen mit der Verwandtschaft ist bekannt, dass sie Sehnsucht nach Sibirien haben.

Viel Aufmerksamkeit widmen wir dem Kampf gegen die Fälschung unserer Geschichte. Und aus irgendeinem Grund sind wir häufig der Meinung, dass immer nur die Rede von der Unmöglichkeit und Unzulässigkeit einer Überprüfung der Ergebnisse des Großen Vaterländischen Krieges die Rede ist.

Doch mindestens ebenso wichtig ist es, angesichts der Wiederherstellung der geschichtlichen Gerechtigkeit, keine Entschuldigung, keinen Freispruch für diejenigen zuzulassen, die ihr eigenes Volk vernichtet haben.

Seine Vergangenheit so zu nehmen, wie sie ist – darin liegt die Reife der bürgerlichen Position.

Nicht weniger bedeutend ist es, die Vergangenheit zu erforschen, die Gleichgültigkeit und das Bestreben, ihre tragischen Seiten zu vergessen, zu überwinden. Und niemand außer uns kann das tun.

Quellenangaben

1. Archiv des Museums „Erben“ der Allgemeinbildenden Oberschule Bogotol
2. Zeugnisse von Deutschen, die in die Ortschaft Bogotol, Bogotolsker Bezirk, Region Krasnojarsk verschleppt wurden.
3. Anhang zum Protokoll der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees der Allrussichen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) vom 20. Juli 1937 (N° P51/324).
4. Dmitrij Medwedjew “Keine Rechtfertigung für die Repressionen”
5. HTTPS://nsportal.ru/ap/drugoe/library/iz ....portation der Deutschen Republik vor dem Krieg.


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