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Das Jahrhundert zieht sich hin – von allem bekommt man etwas ab. Ein Leben zu leben bedeutet nicht einfach nur ein Feld zu überqueren

Städtische Bildungseinrichtung
Nikolajewksker allgemeinbildende Mittelschule
Irbejsker Bezirk

Autorin: Anastasia Pawlowa, Schülerin der 10. Klasse
Region Krasnojarsk, Irbejsker Bezirk, Ortschaft Iwanowka

Projektleiterin: Galina Michailowna Raiswich

Kindheit.


Am 1. April 1923 wurde Emma Jakowlewna Dupper in der Moldawischen SSR, im Dorf Glücksthal, Grigoropolsker Bezirk, geboren.


Vater: Jakob Iwanowitsch Dupper, geb. 1897.


Mutter: Magdalina (Magdalena) Georgiewna Dupper, geb. 1888.

Die Familie war groß, die Mutter schenkte neun Kindern das Leben, sieben Töchtern und zwei Söhnen. Alle lebten einträchtig miteinander und waren sehr fleißig. Dann verkleinerte sich die Familie: ein Zwillingspaar starb gleich nach der Geburt, eine weitere Tochter starb im Alter von zwei Jahren. Ein Bruder wurde nur 13 Jahre alt: er fiel vom Pferd und erlitt tödliche Verletzungen. Fünf der Geschwister blieben am Leben.

Der Vater war als Lagerarbeiter in der Kolchose tätig. Im Haus gab es ein Rotes Eckchen, wo sich die Bauernbrigade versammelte, Sitzungen abgehalten und diejenigen im Lesen und Schreiben unterrichtet wurden, die noch Analphabeten waren.


(von links) Jakob Iwanowitsch mit der Bauernbrigade neben der Kornschwinge.

In der Schule bekam sie in allen Fächern die Note „sehr gut“, außer in Russisch – in diesem Fach erhielt sie die Note „gut“. Emma Jakowlewna sagt: „Wir hatten nur eine Stunde Russisch pro Woche, was konnten wir in einer Unterrichtsstunde schon groß lernen? Im Schriftlichen war ich gut; ich schrieb immer alles von der Tafel und aus dem Lehrbuch ab, aber was ich da genau schrieb, das wußte ich nicht“. Sie war Pionierin, Aktivistin, Mitglied des Redaktionskollegiums, denn sie konnte gut zeichnen und mit großen Buchstaben Losungen schreiben. Für alle Feiertage fertigte sie die Losungen an.

1933 war ein Hungerjahr. Das Dorf, in dem die Großmutter lebte, litt nicht so sehr, denn man baute dort Mais an. In manchen Dörfern herrschte schrecklicher Hunger, und die Menschen liefen durch die Dörfer und versuchten sich durchzubetteln. In genau diesem Jahr kamen 200 Kinder aus Samara ins Dorf. Sie wurden auf die Familien verteilt, in denen es keine Kinder gab, damit sie nicht vor Hunger starben. Als es im Land wieder besser ging, fuhren die Kinder wieder nach Hause; nur ein Junge blieb, weil er nicht wußte, zu wem er fahren sollte – seine Verwandten waren bereits alle am Hunger zugrunde gegangen.

1934 bekamen sie den ersten Traktor. Großmutter sagt: „Sie brachten ihn mitten in der Nacht. Es war für uns etwas völlig Neues und wir, alle Kinder und sogar die Erwachsenen, rannten hinter dem Trecker her. Witzig sah es aus, wie wir alle so hinterherliefen. Später kamen dann auch die ersten Fahrzeuge auf“. Nach und nach kam das Leben in der Kolchose in Gang. Die menschen verrichteten ruhig und friedlich ihre Arbeiten. Es gab Brot; es wurde nur ein geringer Arbeitslohn gezahlt. Für die geleisteten Tagesarbeitseinheiten gab es hauptsächlich Weizen, Mais, Sonnenblumenkerne. Den Weizen mußten die Leute an den Staat abgeben, und der Staat gab dafür im Laden Waren aus. Die Familie Dupper lebte recht gut, sie hatte alles, was sie brauchte.


Auf dem Foto der Kolchos-Vorstand im Jahre 1935: der Vorsitzende, die Kontrolleure, Buchhalter, 11 Angehörige der Feldarbeiter-Brigade, 1 Brigadier für Tabak-Anbau, 1 Weinbau-Brigadier, 1 Gartenbau-Brigadier sowie Viehzucht-Brigadiere.


Oktober-Demonstration 1935. Die Veranstaltung wird vom Präsidium der Kolchose durchgeführt, in der Großmamas Lehrerin die Grundschulklassen unterrichtete.

Die Verhaftung des Vaters.

Am 23. Februar 1937, mitten in der Nacht, klopfte es ans Fenster und jemand rief: „Jakob, mach auf!“ In dieser schrecklichen Nacht wurden 24 Mann festgenommen, und alle waren sie Familienväter. Vor der Verhaftung fand eine Durchsuchung und Überprüfung statt. Bei ihnen war alles in Ordnung – es gab weder Fehlbeträge noch waren Überschüsse vorhanden. Aber eine Woche später holten sie ihn dann doch. Sie brachten den Vater ins Tiraspoler Gesfängnis. Ein Paket für ihn nahmen sie im März an; zwei Wochen nach dieser ersten Übergabe war er schon nicht mehr dort. Das zweite Paket nahmen sie nicht mehr entgegen, gaben aber auch keine Erklärung ab. Sie sagten nur: „Den haben wir hier nicht!“ Was aus ihm geworden, wo er hingekommen war, das teilten sie nicht mit. Wir wissen es bis heute nicht.

Emma Jakowlewna mußte die Schule verlassen, sie beendete sieben Schulklassen. Der Schuldirektor begab sich zu ihrer Mutter und bat darum, ihre Tochter doch weiter zur Schule gehen zu lassen. Aber die Mutter erwiderte: „Einer muß doch unser tägliches Stückchen Brot verdienen!“ – Die Mutter selbst konnte nicht zur Arbeit gehen, denn Tochter Lida war behindert. Sie war Jakobs älteste Tochter, alle anderen waren jünger.

Im Alter von 13 Jahren mußte Großmutter bereits arbeiten, genauso wie die Erwachsenen.

Krieg

22. Juni 1941. Die Großmama erinnert sich: „Ich und die anderen Mädels waren zum Unkrautjäten auf das Hirsefeld gegangen; jeder einzelne Grashalm mußte mit den Händen harausgezogen werden. Wir brachten den ganzen Tag auf den Knien zu. Am Abend, als wir nach Hause gingen, sahen wir einen Mann, der eine große Glocke bei sich hatte. Er blieb von Zeit zu Zeit stehen und sagte den Leuten, sie sollten sich zu einer Brigade-versammlung einfinden“. Als alle da waren, sagte der Brigadier: „Morgen früh, bei Tagesanbruch, haben alle ihre Schaufeln und eine Tasche mit Lebensmitteln bereitzuhalten und sich in ihre Brigade zu begeben, denn der Krieg hat begonnen – es müssen Schützengräben ausgehoben werden“.

Großmama erzählt: „Der Gedanke daran war schrecklich. Das Getreide war bereits reif. In dem Jahr stand das Korn gut, die Ähren hingen voll und schwer herab. Am Morgen fuhren sie alle nach Grigoropol – kinderlose Frauen, junge Burschen, Mädchen, Männer. Dort fließt der Dnjestr, und neben dem Fluß zwangen sie uns 6 Meter breite Schützengräben auszuheben; auf einer Seite sollten sie 1 Meter 20 tief sein, auf der anderen 2 Meter 50, damit die Panzer zwar auf der einen Seite hineinfahren konnten, auf der anderen jedoch nicht wieder herauskamen“. Großmutter sagt: „Unsere Panzer fuhren Richtung Front, Tag und Nacht, es waren schrecklich viele, es war überhaupt kein Ende abzusehen“.

1943 wurde Großmama in der Kirche konfirmiert und erhielte darüber eine Urkunde.

Konfirmationsurkunde
Emma Dupper
Geboren am 01.04.1923 in Glücksthal
Getauft am 08.04.1923 in Glücksthal
Nach Unterweisung im christlichen Glauben
am 07.02.1943 in Glücksthal konfirmiert.
Geistlicher
Unterschrift
Adolf Brukner (Bruckner)
Geistlicher der Evangelischen Kirche in Roismarkt
(Siebenbürgen).
Stempel: Land-Konsistorium der Evangelischen Kirche
in Rumänien

Am 18. März 1944 erging der Befehl: „Siedlung räumen!
Nehmt alles mit, was ihr tragen könnt!“ Sie packten alles zusammen, was sich auf dem Fuhrwerk verstauen ließ – Lebensmittel, Kleidung, aber es war nicht viel, denn sie mußten auf dem Wagen auch noch die behinderte Schwester, Großmutters Mutter und die drei kleinsten Kinder unterbringen. Die Kuh banden sie auch noch ans Fuhrwerk. Zurück blieben ein voller Weinkeller sowie jede Menge Weizen und Mais auf dem Dachboden. Keiner wollte sein haus verlassen. Aber es gab keine Wahl; sie durften nicht zurückbleiben: „Wer sich weigert, wird erschossen!“ Alle Menschen fuhren in einem großen Treck. Man zeigte ihnen den Weg nach Bessarabien, wer die FBeine bewegen konnte, ging zufuß. Großmama ging auch zufuß. So durchwanderten sie Bessarabien, Rumänien, Bulgarien, Jugoslwaien, Ungarn.

Die Kuh verkauften sie in Bessarabien, denn es fiel ihr schwer zu laufen. In Ungarn, in der Stadt Budapest, setzte man sie in einen Zug, mit dem sonst Vieh transportiert wurde; dort mußten sie Pferde und Wagen zurücklassen.

Mit dem Zug fuhren sie nun nach Polen, bis zur Stadt Pabianitz. Alle wurden in Schulen untergebracht und erhielten eine Bescheinigung ausgehändigt.

Ausweis
Für Schwarzmeer-Deutsche
Nachname: Dupper, Vorname: Emilia
Geboren: 01.04.23 ..... in .........
Wohnort: .............
Wo: .............
Bei den Eltern mit eingetragen: Magdalena Dupper
Ausweisnummer 71275
Registriert beim: Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums
Eingetragen als: Umsiedler. Ortschaft Lask.
Diese vorübergehende Bescheinigung bleibt bis zum Erhalt eines richtigen Ausweises gültig.
Die Stadtpartei bittet alle, den Inhabern dieses Dokuments bedingungslose Hilfe zu gewähren.
Pabianitz, 1.6.1944
Stempel. Unterschrift des Behördenleiters ................

Die Familie Dupper kam in die Schule N° 6. Dort befanden sich drei Familien in einem Klassenzimmer. Sie wohnten dort bis zum 10. Juli. Danach wurden die Menschen in die verschiedenen Dörfer verschickt. Die Familie geriet in das Dorf Karzewo, Bezirk Lask, dort wurden sie auf Hofwirtschaften verteilt. Die Familien Dupper und Brazel kamen zu einem Gutsbesitzer namens Schnaider.. Sie arbeiteten dort, halfen beim Dreschen und bei der Kartoffelernte.

Schwester Lida wurde sogleich bei ihrer Ankunft ins Kinderheim geholt. Bei dem Gutsbesitzer wohnten sie bis zum 22. Dezember; anschließend schickte man sie in die Siedlung Waltgammer, Bezirk Wollstein (Wolsztyn). Dort lebten sie in einem kleinen Holzhäuschen, ganz aus Baumstämmen gebaut und mit Stroh gedeckt. In zwei Zimmern mußten 8 Personen, zwei Familien, Platz finden. Sie arbeiteten für einen Gutsherrn namens Wais (Weiss). Sie molk Kühe, kochte Kartoffeln für die Schweine. Geld bekamen sie für ihre Arbeit nicht, obwohl sie körperlich schwere, schmutzige und grove Arbeiten verrichteten.

Sie starb dort am 10. November 1944; man schickte eine Bescheinigung, in der es hieß, daß der Leichnam abgeholt würde. Aber beerdigen konnten sie sie nicht, denn die Gegend stand unter schwerem Bombenbeschuß und sie schafften es nicht, sich bis zum Invalidenheim durchzuschlagen. Es befand sich in einer anderen Ortschaft.

Am 22. Januar 1945 lief die Front durch dieses Dorf, die Rote Armee marschierte ein.

Die Sowjetregierung schickte am 16. Februar alle – Frauen ohne kleine Kinder und Männer, zum Ausheben von Schützengräben nach Deutschland, eine zweite Front wurde eröffnet. Aus ihrem Dorf waren es 11 Personen, alles Frauen, nur ein Mann darunter; er war der Ehemann von Großmutters Schwester. Bis zum 15. März hoben sie Gräben aus, schliefen in Häusern, die von ihren Besitzern verlassen worden waren. Polnische Frauen kochten Essen für sie. Die Polen trugen als Aufnäher ein rotes Band; die Deutschen sollten sich den Buchstaben „G“ auf die Brustseite nähen. Aber Großmama tat das nicht, denn sie hielt sich selbst für eine Rußland-Deutsche. Ihr Schwiegersohn nähte sich ebenfalls kein Erkennungszeichen auf die Kleidung, aber die anderen hatten Angst, sich dem Befehl nicht zu fügen. Am 16. März kehrten sie zur Familie in die kleine Kate zurück. In dieser Nacht kamen Rotarmisten und polnische Soldaten, um den Schwiegersohn zu holen. Wohin sie ihn bringen würden, sagte man ihnen nicht. Erst viele Jahre später erfuhren sie, daß er in der Trudarmee arbeiten mußte.

Am 22. April wurde Emma Jakowlewna in die Stadt Kepniz (?) zum Pferdehüten geschickt; sie sollte sich um die Tiere kümmern. Dort blieb Großmutter bis zum 11. Juni 1945. Eines Tages kam die Jüngere Schwester Frieda, geb. 1930, und sagte: „Sie schicken uns nach Hause!“ – Damit man sie fortließ, ging sie bis zum Stabschef und erzählte diesem, daß man sie nach Hause schicken würde, daß aber die Mutter ohne ihre Tochter nicht fahren wolle.

Der Kommandeur erwiderte: „Mädchen, sie schicken euch nicht nach Hause. Sie bringen euch nach Sibirien!“ – Aber die Großmutter antwortete: „Ich fahre lieber nach Sibirien, als daß ich hier in Polen bleibe! Lieber will ich schwarzes Brot essen und Wasser trinken, als in diesem fremden Land zu bleiben“. Der Kommandeur stellte eine Bescheinigung aus, in der stand, daß die Großmama von der Arbeit freigestellt sei und abfahren könnte. Leider ist diese Bescheinigung verloren gegangen.

Verbannung.

Am 14. Juni 1945 wurden alle zum Bahnhof gebracht und in einen Zug mit offenen Waggons gesetzt, in denen zerstörte Waffen transportiert wurden. Die Menschen fuhren zusammen mit oruzhie. Man brachte sie bis nach Brest und lud sie dort auf Waggons für Viehtransporte um. Viele Menschen überlebten die Strapazen nicht, sie starben, vor allem Kinder und älte Leute; man begrub sie während der Zughalte. Unterwegs bekamen sie eine Trockenration; an d den Haltestellen holten sich alle, die es schafften, schnell heißes Wasser; andere versäumten den Zug und blieben an den Stationen zurück. In Brest erhielten sie die Mitteilung, wer wohin weiterfahren sollte.

Am 15. August erreichten sie die Bahnstation Atbasar in Kasachstan. Sechs Familien wurden abgeladen, die anderen fuhren weiter. An dieser Station gab es weit und breit keine einzige Unterkunft. Zum Abholen der Menschen hatte man zwei Fuhrwerke mit vorgespannten Ochsen und ein Pferdegespann geschickt. Die Familie Dupper fuhr mit dem Pferdewagen, denn sie bestand aus sieben Personen. Eine Frau war da – die war behindert und hatte zwei Kinder, und ihre Schwester war ebenfalls Invalidin. Und eine weitere Familie bestand aus einer Frau mit sechs Kindern, eines kleiner als das andere. Es gab auch eine Frau mit vier Kindern und eine Familie, bestehend aus einer Frau mit zwei Kindern und ihrer Schwester. Am 17. August 1945 trafen sie in der Region Akmolinsk, Schurawljowsker Bezirk, in der Ortschaft Nowodonezkoje, ein.


1951. Auf dem Foto: Melkerinnen. Emma Jakowlewna arbeitete als Melkerin.


1955. Auf dem Foto: der Farmverwalter, der Zootechniker, Melkerinnen, ein Wärter, der Kontrolleur.

Am 20. Juni 1956 heiratete Großmama Michail Jakowlewitsch Sinowjew und nahm seinen Familiennamen an.


Sie schenkte sieben Kindern das Leben. Fünf blieben am Leben. Als der älteste Sohn in die Schule kam, lernte sie mit ihm zusammen fließend Russisch lesen und schreiben.

Emma Jakowlewna Sinowjewa wurde mit der „Mutterschaftsmedaille“ I. Klasse ausgezeichnet.


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