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Die Zeit der Jenisejsker Verbannung im Leben des Nikolai Robertowitsch Erdmann

Regionale Aktion „Politisch unterdrückte Akteure aus Kultur und Kunst in der Geschichte der Region Krasnojarsk“.

Referat von Jekaterina Reunkowa
Schülerin der städtischen etatmäßigen allgemeinbildenden Einrichtung
der Allgemeinbildenden Oberschule N° 2 in Jenisejsk

Leitung: Liudmila Aleksandrowna Merkulowa,
Lehrerin für Russisch und Literatur an der
städtischen etatmäßigen allgemeinbildenden Einrichtung
der Allgemeinbildenden Oberschule N° 2 in Jenisejsk

Jenisejsk 2012

Thema unserer Arbeit: „Die Zeit der Jenisejsker Verbannung im Leben des Nikolai Robertowitsch Erdmann“.

Ziel der Arbeit: mehr über die Verbannungszeit des N.R. Erdmann zu erfahren.

Kapitel 1.

Jenisejsk war traditionsbedingt ein Ort der Verbannung.

Außerdem befanden sich in Jenisejsker Verbannung:

Kapitel 2. Aus der Biographie:

Nikolai Erdmann wurde als Sohn des Kleinbürgers und Lutheraners Robert Karlowitsch, der von russifizierten Balten-Deutschen abstammte, und seiner russisch-orthodoxen Ehefrau Walentina Borisowna Erdmann geboren. Er machte seine Ausbildung in Moskau, an der Petropawlowsker Real-Wirtschaftsfachschule.

1919 wurde Nikolai Erdmann in die Rote Armee einberufen. 10920 wurde er entlassen und begann dann seine literarische Tätigkeit. Unter dem Einfluss seines Bruders Boris, einem Künstler, reihte er sich in eine Gruppe von Imaginisten ein, veröffentlichte einige Gedichte, schrieb Texte für das artistische Kabarett; er arbeitete im Genre der in jenen Jahren populären satirischen Szenenfolgen, häufig mit W.S. Mass als Co-Autor, für die Musikhalle, später für das Satire-Theater (unter anderem „Moskau aus der Sicht…“), war Autor des Intermediums in dem berühmten Theaterstück des Bachtangow-Theaters „Lew Gurytsch Sinitschkin“ nach den Liedern von D. Lenskij (1924) – „Das Mandat“ und „Selbstmord“.

1924 schrieb Nikolai Erdmann sein erstes Stück – „Das Mandat“. Das Stück. das 1925 am Ws. Meierhold-Theater (die Premiere fand am 20. April statt) [3] und anschließend am Leningrader Akademie-Theater für Dramaturgie aufgeführt wurde, brachte dem jungen Dramaturgen Anerkennung. In den 1920er Jahren wurde Erdmanns satirische Komödie in zahlreichen Städten der UdSSR aufgeführt, darunter auch in Odessa und Charkow, Baku und Taschkent; 1927 wurde das Stück in Berlin auf die Bühne gebracht, und allein im Meierhold-Theater spielten sie es mehr als 350 Mal.

Ab 1927 war Nikolai Erdmann in der Kinematographie als Drehbuchautor tätig. Zusammen mit Wladimir Mass und Grigorij Aleksandrow schrieb er das Drehbuch zu dem Film „Fröhliche Jungs“; aber während der Dreharbeiten in Gary im Jahre 1933 wurden Erdmann und Mass verhaftet. Dan Anlass dafür gaben die von ihnen verfassten und nicht zum Druck zugelassenen politisch scharfen Verse und Parodien. Die Nachnamen der beiden wurden aus dem Filmtitel entfernt. Das Ermittlungsverfahren gegen sie führte N. Ch. Schiwarow; das Urteil, welches gegen Erdmann verhängt fiel war für jene Zeiten recht mild aus – 3 Jahre Verbannung in Jenisejsk.

Bereits im Jahre 1928 hatte Nikolai Erdmann einen der führenden Schauspielerinnen am Akademischen Künstlertheater in Moskau kennengelernt – Angelina Stepanowna, mit der er über viele Jahre in einer schwierigen Beziehug stand. Stepanowa war damals mit dem Regisseur Nikolaj Gortschakow verheiratet, Erdmann selber hatte ebenfalls eine Ehefrau. Aber ausgerechnet dank der Fürsprache der Stepanowa wurde Erdmann 1934 naqch Tomsk verlegt. 1936 ließ man ihn frei, entzog ihm jedoch das Wohnrecht in der Hauptstadt und in anderen Großstädten des Landes. Erdmann ließ sich in Kalinin nieder, später lebte er in Byschnij Wolotschek, Gorschke, Rjasan.

Nach Erdmanns Verhaftung wurde auch sein „Mandat“ verboten; er schrieb daraufhin keine Theaterstücke mehr, setzte aber seine Tätigkeit im Bereich der Kinofilme fort; er war einer der Autoren zu einem neuen Film von G. Aleksandrow mit dem Titel „Wolga-Wolga“, DER 1941 mit der Stalin-Prämie ausgezeichnet wurde.

Im Herbst 1941 wurde Erdmann, wie alle anderen Entrechteten auch, ins tiefste Hinterland geschickt. Während der Fahrt durch Saratow blieb der Zug mit den zu evakuierenden Reisenden stehen. Zu dieser Zeit arbeitete am Saratower Jugend-Theater einer der Evakuierten aus dem MChAT, dem Akademischen Künstler-Theater in Moskau. In Namen des Direktors des MChAT – Iwan Moskwitsch – traf in Schreiben ein, welches von L. P. Berija u8nterzeichnet war, in dem Erdmann die Mitarbeit im Lied- und Tanz-Ensemble des NKWD angeboten wurde. Aufgrund dieses Briefes holten sie Erdmann aus dem Zug und schickten ihn nach Moskau an seinen neuen Arbeitsplatz. Nach dem Krieg schrieb Erdmann Filmdrehbücher und arbeitete am Moskauer Theater auf der Taganka.

Nikolai Erdmann starb am 10. Augst 1970. Er liegt in Moskau auf dem neuen Donsker Friedhof begraben.

Kapitel 3.

Nach Sibirien kam er wegen der Fabeln. Anlass für die Verbannung war der erfolglose Auftritt Katschalows, der unmittelbar in der Regierungshöhle Fabeln von Erdmann und Mass vorlas. Er begann ganz flott und keck und endete – in vollständiger Stille, und die vor Wut ganz geln angelaufenen Augen des Führers verhießen nichts Gutes. Als Bulgakow von Erdmanns Verhaftung erfuhr, steckte er nachts einen Teil seines Romans in Brand. Und Erdmann … schrieb seine Abschiedsfabel „Einst kam die GPU ganz barsch - zu Äsop und packte ihn beim Arsch. Im Sinn der Fabel liegt Gewicht: wir brauchen diese Fabel nicht“. Aber er hatte noch sagenhaftes Glück. Die Raubtier-Macht begrenzte die fleischlose Verbannung.

Sie verhafteten ihn direkt bei den Aufnahmen zum Film „Fröhliche Jungs“, einem lebenslustigen, ein wenig idiotischen Drehbuch, das so lustig verfasst worden war. Vor der Fahrt ins heiße Gary nähte sich der gesamte männliche Teil des Drehteams in aller Eile in Moskau weiße Hosen und wünschte sich insgeheim, dem stets elegant aussehenden Erdmann zu ähneln. Dort in Gary wurde er dann auch vor den Augen seines Vaters Robert Karlowitsch, gefilmt in der Rolle eines Geigers, festgenommen.


Erdmann mit seinem Vater

Der erste Brief aus Sibirien, den er seiner Mutter schickte, war gekrönt von der Unterschrift: „Dein Sohn – Mamas Sibirjak“.

Stalin liebte „Wolga-Wolga“ sehr und konnte es auswendig. Ziemlich oft zitierte er den verbannten Autor. Ganz besonders gern mochte er die von Erdmann verfassten Monologe Bywalows (Igor Ilinskij). Wer weiß, vielleicht hat diese kleine Schwäche des Führers auch dazu beigetragen, dass der Dramaturg unversehrt blieb? Aleksandrow schnitt die Nachnamen der geächteten Co-Autoren aus den Titeln „Fröhliche Jungs“ und „Wolga-Wolga“ heraus. Verhaftet und gedemütigt wurde der Kameramann Wladimir Nilsen. Viele der Teilnehmer an den Besprechungen zum Szenarium „Wolga-Wolga“ bei „Mosfilm“ wurden erschossen: Sokolowskaja, Darewskij, der Direktor des Filmstudios – Babizkij. Und der Text der vom Führer so geliebten Komödie war indessen reich an für die damalige Zeit keineswegs harmlosen und ungefährlichen Randbemerkungen und Zwischenrufen. So verkündete beispielsweise die kleine Dunja direkt in die Kamera hinein: „Schau mal, sie haben den Autor festgenommen!“

Aus den Aufzeichnungen eines Literatur-Wissenschaftlers: „Nikolai Erdmann – ein rätselhafter Mensch. Autor eines der amüsantesten und unglaublich mitreißenden Stücke „Selbstmord“, wofür er zu leiden hatte – er wurde verhaftet und nach Sibirien verbannt.

Kürzlich las ich seinen Briefwechsel mit der Stepanowa – ein ungemein spannender Lesestoff – das kann ich Ihnen sagen!“

Angelina Stepanowna, Schauspielerin am Akademischen Künstler-Theater in Moskau, glückliche Ehefrau des Regisseurs und Dramaturgen Gortschakow, begegnete dem jungen Dramaturgen Erdmann bei sich zu Hause. Er war zu dem bekannten Theater-Ehepaar in der Gesellschaft von Schauspielern zu Besuch gekommen. Stepanowa schreibt nicht, ob die Liebe zwischen den beiden sofort aufkeimte, aber es war ein derart starkes Gefühl, dass Angelina Osipowna ihren Mann i Stich ließ und „im Nichts“ verschwand. Dieser Roman dauert sieben Jahre. Erdmann verließ seine Familie nicht…

Erdmann nannte die Geliebte „Chudyr“. Sie war sehr schlank und graziös. Einmal fragte man ihn, weshalb die schöne Schauspielerin einen solchen Spitznamen erhalten hätte. Erdmann antwortete: „Chudyr – das ist einzigartig, der Name wurde von mir geboren, er ist eigentlich geheim und vereint in sich alle Reize, die Sie aufzählen, und es verbergen sich darin auch noch viele-viele andere. Einen etwa analogen Sinn hat das russische Worte „sasnoba“ („Herzchen; Anm. d. Übers.), aber es klingt nicht so schön. Und außerdem nannte er sie auch noch „Ptentschik“ (Vögelchen, Küken; Anm. d. Übers.), aus dem später „Pintschik“ wurde.

Kapitel 4.

„Sie haben ein antisowjetisches Stück geschrieben?“ – fragte ein Mitglied der Kommission des Zentralkomitees ihn immer wieder und bekräftigte dies zwischendurch auch als Tatsache. hin. Der Mann beaufsichtigte die Aufführung „Die Selbstmörder“ im Akademischen Künstler-Theater in Moskau. Erdmann erwiderte: Ja“…

Sie verbannten ihn in die Stadt Jenisejsk. Und die Stepanowa, die zu der Zeit bereits ein großer Star am MChAT war, bemühte sich vor den verantwortlichen Mitarbeitern des ZK und des KGB um sein Schicksal. Und sie schrieb und schrieb und schrieb einen Brief nach dem anderen.

Inzwischen begab sich N.R. Erdmann an seinen Verbannungsort, blieb jedoch unterwegs in dem Dorf Bolschaja Murta im Bezirk Jenisejsk, „hängen“. Darüber schreibt er seinem „Herzchen“:

Moskau,
Künstler-Theater-Passage,
Gorkij-Künstler-Theater N° 1,
A.O. Stepanowa,
3. November 1933
Dorf Bolschaja Murta

„Gerade habe ich meinem Gnedko (Sibirischer Hahn) Futter besorgt: 120 Werst – 2 Tage…
Und nun sitze ich in der Hütte und erwärme mich am Ofen. Bis nach Jenisejsk sind es noch ungefähr 250 Werst. Hier herrscht Frost, minus 30°, und es soll noch kälter werden. Morgen werde ich neue Pferde suchen. Ich fahre allein, von allen im Stich gelassen. Sogar die GPU (Staatliche Politische Verwaltung; Anm. d. Übers.) hat sich von mir losgesagt. Ich habe um mich herum und in mir eine Menge Interessantes entdeckt. Ich brenne auf Jenisejsk, als ob es Moskau wäre. Sobald es eine Adresse gibt, wird es auch Briefe geben. Linuscha, mein Liebchen, wann werde ich einen Brief von Dir in den Händen halten? Ich küsse Dich, meine Gute. Lächelst Du? Bitte versuche zu lächeln! Meiner Meinung nach bin ich heute geboren. 3. November. Ich gratuliere Dir, meine Langbeinige. Grüße an Jelotschka. Nikolai.
6. November 1933
Bolschaja Murta

„Ich bin in dem Dorf hängengeblieben. Es ist mir nicht gelungen, mit dem Postwagen zu fahren – sie haben mich nicht mitgenommen. Das Pferd eines Bauern zu mieten – dafür fehlt mir das Geld. Der Weg von Krasnojarsk bis nach Bolschaja Murta ist für mich auch so schon teuer genug. Bis zum 10. muss ich in Jenisejsk zur Unterschrift gewesen sein. Das Fahrzeug, auf das ich warte 7und mit dem mich ein herzkranker Kamerad mitnehmen will – kommt nicht. Demzufolge werde ich dann wohl ganz allein fahren müssen. Krasnojarsk har mich gerufen und mich in die Freiheit entlassen, nachdem ich unterschrieben hatte. Davor hatte ich sie vier Tage nicht gesehen. Ich sah sie nicht, selbst wenn ich den Toilettenbesuch als Freiheit angesehen hätte. Was wird wegen der Verspätung auf mich zukommen? Ich weiß es nicht. Jetzt lebe ich hier mit den Pferde-Käufern an der Viehfutter-Station „Jenisej-Gold“. Die Viehkäufer sind gute Menschen, und ich höre ihren Gesprächen oft mit großem Interesse zu – bis spät in die Nacht hinein. Im Allgemeinen lebe ich ganz unterhaltsam, aber ich möchte an Ort und Stelle sein, ich möchte am Tisch sitzen und Briefe von Dir erhalten. Schreib mir, mein Liebchen, schrieb mir öfter. Ich küsse Dich.
Nikolai“.

Aus den Erinnerungen der A.I. Stepanowa: „Man hat den Verhafteten N.R. Erdmann in einem Gefangenen-Waggon nach Sibirien gebracht und ihn erst in Krasnojarsk wieder in die „Freiheit“ entlassen, von wo aus er selber, auf seine Kosten, nach Jenisejsk gelangen sollte – den Ort seiner Verbannung“.

16. November
„Du Guter, Lieber, Geliebter – gestern traf Dein Telegramm aus Jenisejsk ein, und ich habe noch keine Vorstellung davon, was dieses Jenisejsk eigentlich ist, aber ich bin glücklich, dass deine Reise zu Ende ist und Du dort nun irgendein Leben anfangen kannst. Deine Mama nimmt sich all deine Entbehrungen und Schwierigkeiten sehr zu Herzen (ich weiß das), man muss sie schonen, und ich bitte Dich ganz herzlich, mich in vollem Umfang über Deine Gesundheit und Deine Bedürfnisse auf dem Laufenden zu halten. Ich bin viel stärker und härter im Nehmen, und ich habe auch mehr Möglichkeiten Dir zu helfen, für Dich etwas zu tun; außerdem habe ich zahlreiche Konzerte, Nebenverdienste, Radio-Lesungen, so dass ich augenblicklich über eine ordentliche Menge Geld verfüge. Heute habe ich einen freien Abend, und ich möchte gern ins Bolschoi-Theater gehen und mir das Ballett „La Bayadère“ anschauen. Ich kann einfach nicht zu Hause herumsitzen, bin voller Unruhe, kann meinen Platz nicht finden. Ich schreibe Dir jeden Morgen, bevor ich ins Theater gehe. Ich hoffe, dass die Post mit mir gnädig verfahren wird, und Dir wenigstens einen Teil meiner Postkarten zustellt. Wenn Du kannst, dann liebe mich; ich küsse Dich, Du mein ganzes Glück.
Lina“.

Aus einem von Erdmanns Briefen:
„Heute herrschen hier zweiundfünfzig Grad. Meine Hauswirtin ist an den Jenisej gefahren, um dort Wäsche auszuspülen – das kannst Du mal sehen, wie sie hier mit dem Frost umgehen.
Jetzt ist sie gerade zurückgekehrt und erzählt, während sie um den Ofen herumhüpft, dass am Eisloch kein Mensch außer ihr gewesen ist. Es scheint, als ob ich bei der mutigsten Hauswirtin in der ganzen Stadt wohne. Ich werde jetzt auch sehr mutig sein und den Brief zur Post bringen“.

Wir wollten wissen, wo Erdmann damals ungefähr gelebt hat und erhielten darauf folgende Antwort von Tamara Pawlowna Ilina, der Bibliothekarin des Jenisejsker Museums: „Er ging wohl häufig in Richtung der (heutigen) Gorki-Straße“. Das ist sehr weit vom Jenisej entfernt – etwa einen Kilometer. Da ist es nicht verwunderlich, dass Erdmann über der Vorgehensweise seiner Hauswirtin verblüfft war.

Weiter schreibt er: „Ich lebe hier gut – bin gesund und habe genug zu essen. Über die Arbeit möchte ich lieber nicht berichten. Wenn ich Sänger wäre, könnte ich sagen, dass ich die Stimme verloren habe, aber ich zweifle immer stärker daran, dass ich überhaupt jemals eine hatte. Dieser Umstand versöhnt mich mit Jenisejsk und zwingt mich mit Schrecken an Moskau zu denken. Ich habe versucht, meine Umgebung damit zu verwundern, womit ich Dich in dem wunderbaren Schnellimbiss „Frühling“, unweit des Hotels „Juschnaja“, nie in Verwunderung gebracht habe, aber selbst das musste ich sein lassen: ich hatte Mitleid mit N.R. – meinem einzigen Zechkumpanen.

Wir versuchten herauszufinden, als was Nikolai Robertowitsch arbeitete, während er in Jenisejsk lebte. In der Zeitschrift „Unser Erbe“ (N° 4 für das Jahr 1991) lesen wir: „… setzte Kuhställe instand“.

Unter den unglaublichen Bedingungen der nördlichen Klima-Zone verlernte Erdmann nicht das Scherzen und flößten den ihm Nahestehenden Hoffnung und Optimismus ein:

Telegramm.
Jenisejsk. 26.12 Uhr.
(Blitzausgabe von Ihrem Korrespondenten)
„Das Verlegen der Elektroleitung zwischen Tisch und Bett über eine Länge von 3 Metern ist beendet“.

Jenisejsk,26. 24 Uhr.
(Blitzausgabe von Ihrem Korrespondenten)
„Die Inbetriebnahme des ersten leistungsfähigen Kraftwerks unter den Bedingungen des Nordens verlief beispielhaft. Sämtliche Bedienungsmechanismen arbeiten hervorragend,. In den ersten zwei Stunden habe ich vier Kapitel aus dem „Bekenntnis“ von Jean-Jacques Rousseau durchgelesen“.
An die Bauleiterin
A.O. Stepanowa
Der Bau des Jenisejsker Kraftwerks ist ein neuer Beitrag zum weiteren Aufschwung unseres Landes und, in meinen Augen, auch Ihrem weiteren Werdegang. KK (Kuss Kolja).

Aber in einer derartigen Laune war Erdmann nicht immer.

Moskau,
Künstler-Theater-Passage,
Gorkij-Künstler-Theater der Sowjetunion,
An Angelina Osipowna Stepanowa,
Jenisejsk, Stalina 23, Erdmann
19. Febr. 34
„Meine Angelegenheiten laufen sehr schlecht. Ich war überzeugt, dass wir Deinen ganzen Urlaub gemeinsam verbringen. Die Schriftsteller-Vereinigung, die mir die Autorenrechte nahm. hat mit auch diese Zuversicht genommen. Möglich, dass Dina aufgrund der neuen Gegebenheiten überhaupt nicht herkommen kann, kann auch sein, dass sie nun später kommt und gezwungen sein wird in Tomsk zu arbeiten. Die Zeit läuft und aus Moskau sind offensichtlich keinerlei tröstliche Informationen zu erwarten. Ich unternehme alles Mögliche, damit wir uns sehen können, aber ich kann meine Befürchtungen nicht vor Dir verheimlichen. Ich führe hier ein düsteres Leben. Innerhalb eines Monats habe ich insgesamt nur vier Postkarten von Dir erhalten – davon wurde es mir noch finsterer ums Herz. Ein Stück zu schreiben macht keinen Sinn. Die Sache ist die, dass sie mir nicht nur mein Geld entzogen, das Konto gesperrt haben, - sie haben für mich auch die Türen zu sämtlichen Theatern verschlossen. Mama erzählt, dass Du noch mehr abgemagert bist. Ich küsse Dich, mein Liebling. Nikolai.
P.S. Ich hoffe, dass ich Dich im nächsten Brief zum Lächeln zwingen kann. Du musst einfach lächeln. Für diesen Brief – verzeih. Alles ist so miserabel“.

Aus Nikolai Robertowitschs Brief haben wir erfahren, dass er in der Stalin-Straße wohnte. Wir wandten uns ans Jenisejsker Heimatkunde-Museum, um uns davon zu überzeugen und herauszufinden, wie die Straße heute heißt. Die Kuratorin des Museumsfonds, Marina Albertowna Lysakowskaja, antwortet: „Das war ganz früher die Barabinskaja-, dann die Stalin- und heute die Krupskaja-Straße“.

Wir fotografierten die authentische Karte mit der Lage der Straßen in der Stadt aus dem Jahre 1896. Natürlich sieht man darauf die ursprüngliche Straßenbezeichnung: Barabinskaja (Anhang N° 4). Mit der Beantwortung unserer Frage, wer Erdmann denn damals die Wohnung vermietet hätte, taten sich die Museumsmitarbeiter schwer. Sie erläuterten, dass es aus dieser Zeit von Nikolai Robertowitschs Leben nur sehr wenige Zeugnisse gibt, doch wir konnten das Haus N° 23 in der Krupskaja-Straße ausfindig machen (Anhang N° 5). Natürlich ist da Haus erst kürzlich errichtet worden, und es wohnen längst andere Leute darin; aber es ist Tatsache, dass genau an dieser Stelle einst das Haus stand, in dem N.R. Erdmann, der berühmte Drehbuchautor, Poet und Dramaturg die Menschheit erschüttert und in Aufregung versetzt…

In den Museumsbeständen sind einige seiner Briefe, Zeitungen mit Artikeln über ihn sowie Zeitschriften verwahrt – das ist alles. Marina Albertowna Lysakowskaja erläutert: „Es war eine schreckliche Zeit, und wer konnte damals schon wissen, dass man eines Tages über sie würde sprechen und schreiben dürfen“…

Aus der Verbannung schrieb Erdmann seinem Freund Wladimir Scherschenewitsch folgende Reportage: „Die Jenisejsker haben angefangen Bärlauch zu essen. Eine Division, die zu viel Knoblauch gefressen hat, soll, wie die Zweige des Flieders, verglichen mit einem sechzehnjährigen Mädchen riechen, das Bärlauch gegessen hat. Leider bin ich nicht Proust, und ich kann nicht über Gerüche schreiben (ein einziger Scheißkerl würde genügen, um vierzehn Bände damit zu füllen); aber außer Gerüchen gibt es in der Stadt nichts.

Schreib‘ mir, Wadim. Ich drücke Deine Hand. Nikolai. Grüße Deine Frau. Setzt beim nächsten Rennen auf die Nummer 3.

(Vor und nach der Verbannung hatte Erdmann begeistert Rennwetten abgeschlossen und später gesagt: „Wer bin ich? Ich bin ein lange sich drehender Schallplattenspieler“).

16. Dezember 1933. Jenisejsk. W.B. Erdmann.

“Goldenes Mamachen. In den letzten drei Tagen habe ich ein stürmisches, gesellschaftliches Leben geführt. „Weihnachten“ steht vor der Tür, und man hat mich gebeten ein antireligiöses Theaterstück auf die Bühne zu bringen. Zu allem Unglück wird es, wie ich in einer Broschüre las, kein Wunder geben, aber das Theaterstück zustande bringen – das kann man nur durch ein Wunder. Das einzige Buch in der Stadt, das bei dieser Angelegenheit hilfreich sein könnte, ist vor zwei Jahren aus der Bibliothek verloren gegangen. Um irgendein Repertoire aus Moskau zu bestellen ist es jetzt zu spät. Die örtliche Vereinigung der Gottlosen hat keinerlei Arbeit geleistet – nur ihren Arbeitsplan hat sie aufgestellt. Ich selber verstehe von dem ganzen Problem genau so viel wie Du, meine Liebe. Ich bedaure, dass Du mich nie gezwungen hast, in die Kirche zu gehen. Ich habe das Gefühl, dass es für die Schaffung eines antireligiösen Theaterstücks unbedingt notwendig ist ein Gläubiger zu sein.
Jetzt gehe ich zur Sitzung. Es hat schon viele Versammlungen gegeben. Mir kommt es so vor, als würden es jetzt weniger. Man darf niemals gegen Gott kämpfen, wenn er einem bereits auf der Nase sitzt. Wäre ihnen das etwas früher eingefallen, dann hätte ich aus Moskau alles Nötige kommen lassen. Ich habe Leute kennengelernt – ob das besser oder schlechter ist, wird die Zukunft zeigen. Verzeih mir, meine Liebe, dass ich so wortkarg schreibe, aber ich bin sehr in Eile. Ich bin gesund, die Sonne strahlt, der Schnee glänzt, der Frost hat bislang noch nicht eingesetzt – also ist wunderbar. Ich habe von Dina einen Brief erhalten – sie hat mich mit ihrem Wunsch zu fahren sehr erschreckt. Jetzt zu fahren ist unsinnig. Aus Jenisejsk fahren nicht einmal diejenigen ab, deren Frist abgelaufen ist. Die Menschen haben Moskau fünf Jahre lang nicht gesehen, aber trotzdem warten sie darauf, dass die Flüsse wieder schiffbar werden. Wie geht es Dir, meine Liebe? Was ist mit der Wohnung? Ich versuche mit vorzustellen, wie ihr eingerichtet seid, aber ich kann es nicht. Verzeih mir, Mamachen, wegen all der Unannehmlichkeiten, die ich euch bereitet habe. Bezüglich der weißen Hosen (ich hätte längst antworten sollen) vermag ich nichts zu sagen. Irgendwie sind sie nicht bis zu mir gelangt. Meine Anschrift kannst Du ohne Angst allen geben, die Dich danach fragen.
Ich küsse Dich, Liebchen.

15, - 21. November 1934, Jenisejsk, W.B. Erdmann
Am 14. jähret sich der erste Jahrestag meines Jenisejsker Lebens. Ich habe diesen Tag genauso vergessen, wie meinen Geburtstag. Heute brachten sie im Beisein von N.R. eure Telegramme, und nun schulde ich ihnen zwei Mittagessen. Ich danke euch, ihr Lieben, für die Glückwünsche. Ich war in der Stadtbibliothek, und es ist mir gelungen, anhand der Großen Sowjetischen Enzyklopädie festzustellen, dass ich im Jahre 1902 geboren bin. Wie du siehst, bin ich im Vorteil – sie haben mir ein Jahr genommen und zwei geschenkt. Wenn sie mir zum Ende der Haftzeit noch einmal vier schenken, werde ich als ganz junger Mann nach Moskau zurückkehren. In letzter Zeit habe ich mich viel mit dem englischen beschäftigt, und scheinbar mache ich Fortschritte. Das erfreut mich bei meiner Arbeit an dem Stück. Wenn ich auch nicht so zu schreiben verstehe wie Shakespeare, so vermag ich ihn doch zumindest zu lesen. Küsse den Vater für die Produktionswerkzeuge – an Bleistiften habe ich jetzt eine ganze Kakaodose voll, und einzig und allein dieser Reichtum gestattet es mir nicht allzu lange, auf der faulen Haut zu liegen. Wie geht es dir, mein Goldsternchen? Kürzlich sah ich in der Zeitung eine Fotografie der Elektrosawodsker Straße – darauf habe ich dich gesucht, aber auf dem Foto sah ich nur fremde Mamas. Nach zwei Tagen Frost ist es wieder ein wenig wärmer geworden, der Mond ist wieder zu sehen, und abends sind Irostschka und ich mit dem Schlitten gefahren. Ich küsse euch, meine Lieben.
Nikolai“….

Und später war er auch noch in Tomsk, Rückkehr, aber nicht nach Moskau, Arbeit, aber nicht jene…. Er kehrte in das Leben zurück, welches für ihn ein anderes geworden war.

III. Schlussbemerkung

Im Laufe der Forschungsarbeit gelangten wir zu folgenden Resultaten:

Wie viele ähnliche Schicksale liefen in den vergangenen Jahren durch die Seiten der Zeitungen und doch ist jedes von ihnen einzigartig jedes ähnelt dem anderen und auch wieder nicht, denn es ist schreckliche und tragisch auf seine eigene, ganz besondere Weise. Was haben wir alle verloren, wenn wir in den wichtigsten Augenblicken unserer Geschichte beim Durchzählen der talentiertesten, hellsten und ungewöhnlichsten Köpfe feststellen, dass diese nicht mehr vorhanden sind – diejenigen, denen das Prinzip „lehn‘ dich nicht zu weit hinaus“ nicht gut bekommen ist. Wenn es uns nicht gelingt, sie in unsere Geschichte zurück zu holen, dann werden wir auch die Verbindung zwischen den Zeiten nicht wiederherstellen können.

IV. Quellen- und Literatur-Angaben

1. Aus den Beständen des Heima5tkunde-Museums der Stadt Jenisejsk:
Zeitung „Streng geheim“ vom 19.10.1989 (gedruckt in der Druckerei des „Krasnojarsker Arbeiter“, Stadt Krasnojarsk).
Zeitschrift „Unser Erbe“ N° 4, 1991
Zeitung „Jenisejsker Wahrheit“ vom 18.02.1992
Briefe

2. Erinnerungen von N.W. Tschidson über N.R. Erdmann

3. A,. Rogatschew. Ich bin kein Held meiner Zeit „ Moskauer Welle, 31. Juli 1989

4. Interviews:
T.P. Ilina
M.A. Lysakowskaja

Anhang N° 1

Aus einem Brief Erdmanns

Anhang N° 2

Anhang N° 3

Anhang N° 4

Anhang N° 5

Haus in der Barabinskaja-, Stalin-, Krupskaja-Straße


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