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Einer von tausend

Heimatkundliche Forschungsarbeit

Titel „Der Mensch und seine kleine Heimat“

Darja Schmidt
Angelina Wytschatina

662173 Region Krasnojarsk,
Atschinsker Bezirk,
Siedlung Berjosowy
Kommunale fiskalische Bildungsstätte „Beresjowsker allgemeinbildende Schule“,
7. und 5. Klasse

Leitung
Albina Anatoljewna Ruben
Deutschlehrerin, Leiterin des Arbeitskreises „Erinnern wir uns unserer Wurzeln“

Siedlung Berjosowy
2015

Inhaltsübersicht

1. Einführung. Erinnerung.
2. Kapitel 1. Die Republik der Wolgadeutschen.
3. Kapitel 2. Deportation.
4. Kapitel 3. Einer von tausend.
5. Schlussbemerkung. Damit sie sich erinnern!

“Die Vergangenheit ist stets mit uns, und alles, was wir uns vorstellen, alles, was wir besitzen, entstammt der Vergangenheit. Wir sind ihre Schöpfung, und wir leben in ihr, gehen in ihr auf. Sie dessen nicht zu erinnern und die Vergangenheit nicht zu empfinden bedeutet die Gegenwart nicht verstehen“.
Jawaharlal Nehru

Einführung

2015 wird ein großes Datum gefeiert – der 70. Jahrestag des Sieges. Wir r8innern uns derer, die für die Freiheit unserer Heimat gekämpft haben und dabei umgekommen sind. Aus unserer Ortschaft zogen alle Männer und jungen Burschen an die Front. Wenige kehrten zurück, doch das Dorf überlebte, und das Land blieb stark und unabhängig. Dank unserer Menschen. Dank jedem, der in jenen Jahren lebte.

Vor allem aber erinnern wir uns an unsere Vorfahren und vergessen dabei niemals, was unsere Großmütter und Großväter im Hinterland und an der Front alles durchmachen mussten.

2014 zollte ich, Dascha Schmidt, eine der Autorinnen des vorliegenden Referats, der Erinnerung an meinen Großvater Edwin Friedrichowitsch Schmidt Tribut, indem ich eine Arbeit über ihn schrieb. Leider verfüge ich nicht über allzu viele Informationen, denn der Großvater starb, als ich noch ganz klein war und noch nicht alles Wichtige im Umgang mit dem Großvater begriff. Inzwischen weiß ich, dass man die Großeltern hier und heute befragen und all ihre Informationen aufschreiben muss. Denn morgen kann es schon zu spät sein! Anhand der Erinnerungen meines Vaters und meiner Großmama habe ich die Lebensgeschichte des Großvaters rekonstruiert und eine Forschungsarbeit im Rahmen des Wettbewerbs „Der Mensch in der Geschichte“ geschrieben.
Und heute willen Angelina und ich von einem Mann berichten, dessen Schicksal uns in Erstaunen versetzt hat.

Ab September 1941 wurde Berjosowka zur zweiten Heimat der Wolgadeutschen. Im Unterricht des Arbeitskreises „Erinnern wir uns unserer Wurzeln“ lernen wir seit langem die Geschichte der Russland-Deutschen und das Schicksal unserer Dorfmitbewohner. Wir haben jede Familie aufgesucht und uns mit den Alteingesessenen unterhalten, und es werden ihrer immer weniger. Wir bemühen uns, eine Erinnerung an alle noch mit uns lebenden Deutschen. aber auch an die Deutschen, die nicht mehr unter uns weilen, zu hinterlassen.

In der Schule feiern wir Weihnachten und Ostern und laden dazu die ethnischen Deutschen ein, jene, denen die nationalen Traditionen bekannt, lieb und teuer sind.

Ziel unserer Arbeit ist die Erforschung des Lebens eines einzeln herausgewählten Mannes – des ethnischen Deutschen Karl Genrichowitsch Schefer (Schäfer).

Während der Arbeit haben wir uns bemüht folgende Begleitaufgaben zu lösen:
1. Studium der Geschichte des Erscheinens der Deutschen in Russland, in Sibirien
2. Erforschung der Lebensgeschichte der Deutschen in Berjosowka.

Folgende Arbeitsmethoden wurden angewendet:
Studium von Literatur zur Geschichte der Russland-Deutschen, Interviews mit den Alteingesessenen des Dorfes, die deutscher Nationalität sind, Forschung in ihren Familien-Archiven.

Die Republik der Wolgadeutschen

Zu Beginn haben wir mit der Literatur-Methode gearbeitet, im Internet nach Informationen gesucht, um zu erfahren, wie die Deutschen nach Russland kamen und auf welche Weise sie zu uns nach Sibirien gelangten. Das Russland des 16.-17. Jahrhunderts besaß keine Verbindungen mit Europa. Und nicht umsonst wollte Peter I. „ein Fenster nach Europa öffnen“; ihm als klugen und weitsichtigen Zaren darf man dafür danken, dass er die Deutschen zu uns nach Russland brachte. Nicht nur die Russen, sondern die ganze Welt ist den Deutschen aufgrund ihrer zahlreichen Entdeckungen verpflichtet. Es ist eine kluge, kultivierte Nation. Eine Menge Informationen darüber erhalten wir im Deutschunterricht. Die Deutschen wurden nicht nur dem Zaren gute Freunde, sondern dem ganzen russischen Volk. Doch Ende des 19. Jahrhunderts entstand eine Abneigung gegenüber allem Deutschen. Ihre wirtschaftlichen Erfolge fing an Neid hervorzurufen.

Die zweite Hälfte des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts sind die Zeit, in der deutsche Siedlungen auf den fruchtbaren, aber kaum besiedelten Böden Sibiriens auftauchten, insbesondere auf dem Territorium des Jenisseisker Gouvernements. Es handelte sich um Umsiedler aus dem südlichen Teil des Europäischen Russlands und aus den an der Wolga gelegenen deutschen Siedlungen. Die Zaren-Regierung war bemüht, in Sibirien aus deutschen Kolonisten „zur Entwicklung der Bodenkultur und als Arbeitsvorbild für die umliegende Bevölkerung“ so viele Siedlungen und Vorwerke wie möglich entstehen zu lassen. So konnten wir feststellen, dass die Wolgadeutschen ursprünglich Hinzugezogene aus Deutschland waren. In den ersten Jahrzehnten der Sowjetmacht wurde die Wiedergeburt der nationalen Identität der Russland-Deutschen begrüßt. 1924 entstand die Autonome Sowjetische Sozialistische Republik der Wolgadeutschen (ASSR). Ihr Zentrum war die Stadt Engels (früher hieß sie Pokrowsk). Anlage (Karte). Die Bevölkerung der Republik bestand aus 605.500 Personen, davon waren 60,5% Deutsche. Dort lebten sowohl Russen, als auch Menschen anderer Nationalitäten. Ab 1918 existierte hier eine der ersten national-territorialen Autonomien auf dem Territorium Sowjet-Russlands – die Arbeitskommune des Autonomen Gebiets der Wolgadeutschen.

Die Deutschen sind ein arbeitsfreudiges, akkurates Volk, deswegen besaßen sie alle eine gesunde Hofwirtschaft, viele von ihnen konnten lesen und schreiben, und ihr Fleiß half ihnen dabei, fest auf den Beinen zu stehen. Anfang der 1940er Jahren des vergangenen Jahrhunderts besaßen alle große Höfe, niemand musste hungern und darben. Die Familien waren kinderreich, den Kindern wurden Volkstraditionen und fleißiges Arbeiten anerzogen. Nach Erzählungen der Alteingesessenen besaß der Vater in der Familie die unangefochtene Autorität.

Deportation

Doch mit der Machtübernahme des Faschismus in Deutschland im Jahre 1933 war das deutsche Volk in der Sowjetunion Repressionen und Verhaftungen ausgesetzt. Mit Beginn des Krieges gegen Deutschland 1941 verschärften sich die Verfolgungen. Am 28. August kam der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets „Über die Umsiedlung der in der Wolgarepublik lebenden Deutschen“ heraus. Anlage (Ukas). Ein Dekret, in welchem die Deutschen der Komplizenschaft mit dem Feind und der Begünstigung deutscher Spione beschuldigt wurden. Obwohl zehntausende Russland-Deutsche an den Kämpfen gegen Hitler beteiligt und vielen von ihnen Kriegsauszeichnungen verliehen worden waren, wurden sie später in aller Eile von der Front abgezogen und in Lager des NKWD geschickt, wo sie in Schachtanlagen und in der Holzfällerei arbeiten mussten.

Ab Anfang September wurden alle Bewohner der Republik deportiert und gewaltsam nach Sibirien und Mittel-Asien abtransportiert, und die Republik der Wolga-Deutschen wurde aufgelöst. Anhang (In Sibirien). Unsere Vorfahren glaubten das, was man ihn sagte, dass alles nur vorübergehend sei und sie später wieder nach Hause zurückkehren würden. Man befahl ihnen ihr Vieh und ihren Besitz abzugeben und stellte ihnen Bescheinigungen darüber aus, was sie zurückließen. Wie sich herausstellte, verließen sie die Heimat für immer.

Die Deportation, die neben der Mobilisierung in die „Trud-Armee“ (Arbeitsarmee; Anm. d. Übers.) und der Einführung eines Sondersiedlungsregimes das Leben der gesamten deutschen Bevölkerung bis zur Unkenntlichkeit veränderte, bildete den Beginn ihrer lange Jahre währenden Diskriminierung. Zu den „Beschuldigten“ gehörten zahlreiche Völker, aber die Deutschen waren die zahlenmäßig größte Volksgruppe und Deutschland – der Hauptgegner der UdSSR im Krieg; deswegen entfiel gerade auf die Deutschen der elementarste Schlag der Repressionsmaschinerie des Stalinistischen Regimes. Anhang (Deportation).

Die Deutschen, die in ihren Traditionen viele Werte der westeuropäischen Kultur bewahrt hatten, befanden sich unter den Völkern unseres Landes, die sich am langwierigsten, kompliziertesten und schwierigsten an den durch die Bolschewiken geschaffenen gesellschaftlichen Aufbau anpassten. Die Besonderheiten ihrer Mentalität lösten eine negative Reaktion auf die bolschewistischen Experimente sowie einen beharrlicheren Widerstand gegenüber allen Versuchen aus, ihre traditionelle Lebensweise zum Einsturz zu bringen. Und das führte natürlich zu grausameren Strafmaßnahmen seitens des Regimes. Daher rühren auch die rigorosen Repressionskampanien gegen die „Faschisten und ihre Helfershelfer“.

Die ersten Zwangsumsiedler kamen Ende September 1941 nach Berjosowka. Es handelte sich um die Familien von Karl und Sofia Kinstler, Emilia Friedrichowna Dyl (Dühl? Diehl?), Jekaterina (Katharina) Beller, Jakob Gunter, Genrich (Heinrich) Genrichowitsch Schefer (Schäfer?).

Besonders schwierig gestaltete sich der erste Winter in Sibirien. Man teilte ihnen irgendeine Behausung zu – in unserer Siedlung waren das Baracken, die von ehemaligen Häftlingen zurückgeblieben waren, denn hier hatte e früher einmal eine Arbeitskolonie gegeben. Aber die Lebensmittel reichten im ersten Winter nicht. Die Umsiedler tauschten ihre Kleidung, die sie von Zuhause mitgebracht hatten, gegen einen Laib Brot, einen Eimer Kartoffeln oder eine Schüssel Sauerkohl ein. Erwachsene und Kinder gingen durch das Dorf, um Arbeit zu suchen, um sich ein Stückchen Brot oder einen Becher Milch zu verdienen. Einige wollten der Sowchose nicht beitreten, weil sie auf eine baldige Rückkehr nach Hause hofften. Aber als sie begriffen, dass eine Rückkehr nicht in Aussicht stand, schlossen sie sich, um ihre Kinder ernähren zu können, dann schließlich doch der Sowchose an, wahren mit allen möglichen Arbeitsplätzen einverstanden, auf die der Brigadeleiter sie schickte. Zum nächsten Winter hin standen die Deutschen bereits auf stabileren Füßen; sie hatten während der Sommerzeit Gemüse angebaut und sich schon eine gewisse Anzahl Tagesarbeitseinheiten in der Sowchose erwirtschaftet.

Schon sehr bald erhielten die Männer aus den Militärkommissariaten ihren Einberufungsbefehl. In die Arbeitsarmee wurden auch alle deutschen Männer zwischen 15 und 55 und Frauen von 16 bis 50 Jahren einberufen. So wurden für viele Jahre die deutschen Familien auseinandergerissen: Ehefrauen mit kleinen Kindern blieben in Sibirien, während die Männer in die Arbeitsarmee geholt wurden. Kinder ab drei Jahren verloren praktisch ihre Eltern und kamen in die Obhut ihrer Großmütter und Tanten oder auch einfach der älteren Geschwister – mitunter ohne ein Dach über dem Kopf oder Lebensmittel zur Verfügung zu haben.

In der Arbeitsarmee kamen viele aufgrund der schweren körperlichen Arbeit beim Bäume Fällen und in Schachtanlagen oder durch ihr Hungerdasein ums Leben. Und wer zurückkehrte, war häufig krank und schied nach kurzer Zeit hier aus dem Leben.

Wir hatten das Glück, uns mit der letzten, in unserem Dorf noch lebenden Arbeiterin der Trudarmee unterhalten zu können und ihre Erinnerungen aufzuzeichnen. Die Rede ist von Amalia Karlowna Kinstler. Sie verstarb am 8. Juli 2014, 3 Monate vor ihrem 90. Geburtstag.

Der Krieg ging zu Ende, doch die Deutschen bekamen ihr Freiheit nicht zurück. Am 26. November 1948 verabschiedete das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR ein Dekret, welches den Deutschen die Rückkehr an ihren vorherigen Wohnort verbot und lange Haftstrafen für eigenmächtiges Verlassen der Sondersiedlungen festlegte – 20 Jahre Zwangsarbeit. 1953 waren in der Abteilung für Sonderansiedlung 1.224.931 deutsche Sondersiedler gemeldet. Auf dem Territorium der RSFSR waren es 707.863 Personen, in Ost-Sibirien 74.687 (vor allem in unserer Region). Im Verlauf unseres weiteren Literatur-Studiums konnten wir ermitteln, dass die Deutschen zur zahlenmäßig größten Volksgruppe auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR gehören. Gemäß Volkszählung des Jahres 2010 leben in der Region Krasnojarsk 22.363 Vertreter dieser Nationalität.

Am 13. Dezember 1955 kommt der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets „Über die Einstellung der Einschränkungen in den Rechten der Deutschen und ihrer Familienmitglieder, welche sich in Sonderansiedlung befinden (ohne Rückgabe des 1941 konfiszierten Eigentums) sowie das „Verbot der Rückkehr in die ehemaligen Heimatorte“ heraus. Mit diesem Ukas, so sagen die Deutschen, wurde die „Kommandantur“ abgeschafft, denn vorher hatten sie alle überhaupt kein Recht besessen, überhaupt irgendwohin zu fahren. Nun begann die Umsiedlung der Deutschen nach Deutschland. Sie verlief anfangs unter dem Motto der Wiedervereinigung von in den Kriegsjahren getrennten Familien. Am 8. April 1958 wurde das sowjetisch-deutsche Abkommen über die Wiedervereinigung von Familien und die Zusammenarbeit der Rot-Kreuz-Organisationen der beiden Länder unterzeichnet. Übrigens, nach den Berichten von Amalia Karlowna Kinstler, fanden sie Bruder Iwan mit Hilfe des Roten Kreuzes, der in Deutschland in Kriegsgefangenschaft gewesen und dort geblieben war. Er kam zu den Verwandten in Russland zu Besuch, aber ganz hierher zurückkehren wollte er nicht. Die Verwandten reisten auch zu ihm zu Besuch.

Am 29. August 1964 kam das Dekret über die teilweise Rehabilitation der Wolga-Deutschen und die Abschaffung des Deportationsdekrets vom 28. August 1941 heraus. Dieses Dekret veränderte im Leben der Deutschen nicht sonderlich viel; 1987 begann eine Massen-Emigration der Deutschen in ihre historische Heimat Deutschland, deren Höhepunkt 1994 zu verzeichnen war. Es war interessant zu erfahren, dass zwischen 1950 und 2006 insgesamt 2.334.334 Russland-Deutsche und ihre Familienmitglieder übersiedelten. Derzeit leben in Deutschland mehr als 3 Millionen Umsiedler aus der ehemaligen UdSSR.

Einer von tausend

Das Schicksal einzelner Menschen ist mit dem Schicksal unseres Landes verknüpft. Tausende Sowjet-Deutsche litten unter den Repressionen. Heute erzählen wir über das Schicksal eines von ihnen – Karl Genrichowitsch Schefer (Schäfer?).

Informationen über diese Familie sammelten wir in Unterhaltungen mit unseren alteingesessenen Dorfmitbewohnern: Valentina Danilowna Kinstler, Vorsitzende des Veteranen-Rats, Elvira Karlowna Dyl, Nina Wassiljewna Pabst, Emilia Friedrichowna Folmer. Gemeinsam mit unserer Leiterin Albina Anatoljewna Ruben gingen wir dorthin, um bei den Dorfbewohnern ein Interview durchzuführen, die sich an diese Familie noch erinnern konnten; wir schauten uns Alben mit alten Fotografien an. Aber Fotos mit Karl Genrichowitsch fanden wir leider nicht. Es gibt hier bereits keine Verwandten mehr. Allerdings entdeckten wir bei Valentina Danilowna ein allgemeines Foto, das die Dorfbewohner zeigt, von ihnen aufgenommen am 7. November 1955 anlässlich einer Feier. Der Bruder des Helden unserer Geschichte Friederich steht dort mit einer Harmonika. Anhang (Foto von 1955). Und Karl Genrichowitsch selbst befindet sich in der letzten Reihe, und zu sehen sind nur sein Hut und seine Augen.


7. November 1955 (in der letzten Reihe, 4. Von links – Karl Schmidt

Karl Genrochowitsch Schmidt wurde 1937, wie alle unsere Dorfbewohner, in der Ortschaft Krasnij Jar, Bezirk Engels, Gebiet Saratow, Wolgagebiet geboren. Das genaue Datum konnte uns niemand nennen. Und wir kennen die Regel beim Schreiben einer Forschungsarbeit, dass man, bei Nichtvorhandensein einer genauen Angabe, am besten überhaupt keinen Hinweis dazu gibt. Im September 1941 wurde die Familie zusammenmit anderen nach Berjosowka im Atschinsker Bezirk umgesiedelt. In der Familie gab es drei Brüder: Heinrich (geb. 1925), Friedrich (geb. 1930) und Karl (geb. 1937) sowie Schwester Emilia (geb. 1926). Sie wohnten hier in einem kleinen Holzhaus im Zentrum des Dorfes (das heute schon nicht mehr existiert). Der Vater und der älteste Bruder wurden sofort in die Arbeitsarmee mobilisiert; die Mutter holten sie nicht, wenngleich alle Kinder bereits älter als drei Jahre waren. Aber es gab damals so ein Dekret, welches besagte, dass Fraien mobilisiert werden konnten, sobald alle Kinder über drei Jahre alt waren. Heinrich und der Vater verbrachten den Zwangsarbeitsdienst in Kirow.


Friedrich Schefer (ganz links)

Die Familie Schefer. Während Vater und Bruder in der Trudarmee waren, arbeitete Friedrich (Anlage, Foto des Bruders) – Fjodor, wie sie ihn im Dorf auf russische Art nannten – an verschiedenen Arbeitsplätzen: mit Pferden transportierte er Silage, markierte Äcker und Felder und bearbeitete sie. Wir wollten wissen, was es mit so einer Feldmarkierung auf sich hat. Es stellte sich heraus, dass man mit solchen Markierung Abschnitte auf den Feldern kennzeichnete, damit beim Setzen von Gemüse die Reihen gleichmäßig verliefen. Mit Pferden gingen sie am Feld entlang und zogen mit speziell angepassten, am Gespann angebrachten Stöckchen gleichmäßige Streifen in den Ackerboden. Anschließend hoben die Frauen mit dem Hackmesser entlang der Markierung kleine Gruben aus, um darin Kohl auszusäen. Zu der Zeit befand sich hier die Hilfswirtschaft der Krasnojarsker Mähdrescherfabrik, die Sowchose N° 307. Viel Gemüse wurde angebaut: Kohl, Gurken, Mohrrüben. Es arbeiteten alle, Erwachsene wie Kinder ab dem 15. Lebensjahr oder sogar noch früher. Zum Ausjäten und zur Ernte kamen selbst 9-10 jährige Kinder. Danach wurde das Gemüse im Gemüselager verlesen. Sie arbeiteten gewissenhaft, es gab keine Bummeleien oder Versäumnisse; für einen Tag Bummelei drohten ihnen 6 Monate Gefängnis. Wie zu Beginn der Arbeit gesagt wurde, verstanden es die Deutschen zu arbeiten und stellten ein Beispiel für die anderen dar. Alle arbeiteten nebeneinander: Russen, Deutsche, Kalmücken. Nach den Deutschen hatten sie im Jahre 1942 Kalmücken nach Berjosowka gebracht. Die Deutschen belegten die Baracken, aber die Kalmücken mussten sich Erdhütten graben. Danach fingen sie nach und nach an sich Häuser zu bauen. Alle hatten große Familien mit jeweils 5-6 Kindern – oder mehr. Alle lebten im Dorf einträchtig miteinander, sie beschimpften und prügelten sich nicht. In der ersten Zeit kam es noch vor, dass die Deutschen „Faschisten“ oder „Fritze“ gerufen wurden und die Kinder von Altersgenossen verhauen wurden. Aber später gewöhnten sich die Leute an die Deutschen und begriffen, dass es ebensolche Menschen waren wie sie selber, dass ie keine Feinde, sondern vielmehr selber Leidtragende waren; sie fingen an, Mitleid mit ihnen zu haben und ihnen zu helfen. Später arbeitete Fjodor als Hammerschmied in der Schmiede, anschließend wurde er Holzfäller. Mit Pferden fuhren sie in die Taiga, bis nach Barabanowka, dort fällten sie eine Woche lang Bäume. Samstags kamen sie wieder, wuschen sich, ruhten sich aus – und sonntags ging es wieder los. Fjodor heiratete Lida Pabst, die wesentlich jünger war als er. Sie wurden in den Bogotolsker Bezirk ausgewiesen, zogen später ebenfalls nach Berjosowka um – und hier begegneten sich Lida und Fjodor dann auch.. Sie bekamen zwei Töchter und einen Sohn. Er diente bei der Armee im Fernen Osten, wo er auch blieb. Im Alter von 55 Jahren erhängte Fjodor sich. Schwester Emilia arbeitete als Melkerin, als die Kinder klein waren führte sie alle möglichen ungelernten Arbeiten aus. Sie heiratete Alexander Folmer. Wir unterhielten uns mit der Ehefrau des Bruders Alexander, Emilia Friedrichowna; er selber ist schon seit 6 Jahren nicht mehr am Leben.

Nachdem der Vater 1948 zurückgekehrt war, arbeitete er als Buchhalter und Heinrich übte verschiedene Tätigkeiten in der Sowchose aus. Später arbeitete er als Zimmermann in der Baubrigade. Von 1960 bis zu seiner Rente war er als Kinomechaniker beschäftigt.

Karl wuchs heran, besuchte in Atschinsk Fahrer-Lehrgänge und arbeitete in der Sowchose. Sein Leben lang saß er bei der Arbeit immer in einem Fahrzeug. Samstagabends versammelte sich die Jugend im Klub. Dort ging es sehr fröhlich zu! Man sang und tanzte. Fjodor und Karl konnten sehr gut Harmonika spielen, Heinrich spielte auf der Balalaika.

1958 zog die Familie von Sofia Karlowna Kinstler nach Traktowyj um (das ist abseits des Krasnojarsker Traktes, über die Straße, 4 km von Berjosowka entfernt). Karl fuhr immer mit dem Auto und lernte dort eine ihrer Töchter kennen – Frieda. Sie arbeitete als Lehrerin der Grundschulklassen, nachdem sie am Atschinsker Pädagogischen Technikum die Vorschul-Abteilung absolviert hatte.

In der Familie Schefer herrschten strenge Erziehungsregeln. Die ganze Familie stand unter der eisernen Hand von Vater Friedrich. Leider nannte niemand den Vatersnamen des Vaters und den Namen von Karl Friedrichowitschs Mutter. In Kürze verfolgten wir die Schicksale ihrer Kinder. So bauten sie sich ihr Leben auch in ihren eigenen Familien auf. Man erzählt, dass Heinrich als Hammerschmied in der Schmiede tätig war. Morgens kommt er zur Arbeit, zieht sich die Schuhe aus und wärmt seine Füße an der Feuerstelle. „Was denn, hast du dir etwa die Füße abgefroren, während du hierher gegangen bist?“ – „Ja, in den Filzstiefeln ist es zu kalt“. Wie sich herausstellte, zogen sie sich im Winter sogar auf der Straße die Schuhe aus, damit es im Haus sauber blieb. So fanatisch halten es die Deutschenmit ihrer Liebe zur Sauberkeit und Ordnung!

Karl und Frieda hatten zwei Kinder, Sohn Wanja und Tochter Ira. Wanja kam in der Schule gut mit, er war ein guter Junge; 1983 beendete er mit dem roten Diplom das Veteranen-Technikum. Und sein Freund Michail Roschtschenko benndete das Technikum für Mechanik und Technik, und dann haben sie sich bei Roschtschenko zuhause betrunken, „die Diplome begossen“. Iwan ging angetrunken nach Hause, sein Vater schimpfte und schlug ihn. Am Morgen erhängte sich Wanja. Der erwachsene Bursche hatte die Erniedrigung, die der strenge Vater ihm zugefügt hatte, nicht ertragen. Das war am 5. März 1983. Die Mutter in der Familie war ohne jegliche Rechte, alles hielt Karl Friedrichowitsch unter seiner Fuchtel. Wie es heißt, hatte sie kein Leben wegen ihres strengen Ehemannes. Ihnen blieb nur die einzige Tochter. Ira Schefer heiratete, trug danach den Namen Kriwoschejewa; sie hat eine Tochter namens Aljona, die 1988 geboren wurde.

Im September 1998 brachte Karl Genrichowitsch die Familie nach Deutschland, in die historische Heimat. Wie oben schon erwähnt, fand in den 1990er Jahren eine Massenübersiedlung der Deutschen in das Land ihrer fernen Vorfahren statt. Die Ehefrau wollte nicht, sie erzählte den Nachbarn, dass sie von hier nicht wegfahren wollte, sie weinte. Aber der Mann hatte im Haus das Sagen: was er sagt, das wird auch gemacht. So kamen die Schefers ins Bundesland Nordrhein-Westfalen. Zuerst lebten sie, wie alle „Russland-Deutschen“ in Deutschland, in einer ihnen zur Verfügung gestellten Sozialwohnung, inzwischen haben sie ihre eigene Wohnung. Schwiegersohn und Tochter, wie man so schön sagt, fügten sich ins Leben in dem für sie fremden Land ein, ein Land mit seinem Staatsgefüge und seinen Gesetzen – für junge Menschen ist das leichter zu bewerkstelligen. Aber Karl Genrichowitsch zog es zurück nach Sibirien. Er hat bereits bereut, dass er hier sein Haus verkauft hat. In den ersten Jahren der Emigration hatte er große Sehnsucht nach Berjosowka, fuhr dorthin zu Besuch.

Im Frühling 2007, im Aoril, kam er erneut nach Beresowka – zu seinem Cousin Friedrich Friedrichowitsch Dyl. Diesmal war ermit der Absicht gekommen, hier ein Haus zu erwerben und endgültig zurückzukommen. Er ging durch das Dorf, schaute sich die Häuser an. Schließlich blieb er an einem Haus mit vier Wohnungen stehen, besprach sich mit dem Besitzer, dass er aus Deutschland zurückkehren würde und es kaufen wolle. Am Abend saßen sie beisammen, unterheilten sich, riefen alte Erinnerungen wach. Wie Elvira Karlowna Dyl erzählte, trank er nicht einmal ein Gläschen Wodka, sondern aß lediglich zu Abend und legte sich dann schlafen. Am Morgen kam der Hausherr, um den Schnee im Hof fortzuschieben, während die Hausfrau zum Laden ging, um Brötchen für das Frühstück zu holen. Als sie zurückkam, war der Gast immer noch nicht aufgestanden. Sie trat näher an ihn heran, um nachzuschauen – er war tot…

So sehr war das Herz des schon nicht mehr jungen Mannes durch die Begegnung mit den ihm Vertrauten angegriffen worden! Ein furchtbar trauriger Augenblick. Aus Deutschland kamen in aller Eile Tochter und Enkelin geflogen. Die Ehefrau war schon nicht mehr in der Lage, mit dem Flugzeug zu reisen: sie ist schwer krank.

So also kam Karl Genrichowitsch in die Heimat zurück.

Seine Ehefrau und die Familie der Tochter sind in Deutschland geblieben.

Schlussbemerkung

Wir unterhielten uns mit all unseren deutschen Dorfmitbewohnern. Menschen der älteren Generation, die an der Wolga geboren wurden, halten Berjosowka sogar für ihre Heimat. Wie schwer es für sie auch war, sich an das neue Leben zu gewöhnen, ganz von vorn zu beginnen, wie viele Erniedrigungen und Schwierigkeiten sie hier auch ertragen mussten – trotzdem bezeichnen sie ihr Dorf als zweite Heimat. Viele von ihnen wollen von einer Möglichkeit der Rückkehr in die historische Heimat schon nichts mehr hören: so sagt Sofia Andriassowna Kinstler: „Was sollen wir da! Hier ist doch unsere Heimat!“ Doch die Familie Schefer ließ sich von dem Massenstreben nach Deutschland beeinflussen. Und die Geschichte endete mit so einem traurigen Ereignis.

Immer weniger ethnische Deutsche bleiben in unserem Dorf. Diejenigen, die an der Wolga geboren sind, scheiden nach und nach aus dem Leben. Und mit ihnen gehen leider auch die Sprache und Kultur dieses Volkes. Schon in den 1940er und 1950er Jahren kam es zu Mischehen, und heute sind es nur noch wenig, die sich als Deutsche bezeichnen können. Ein paar Familien gibt es aber noch: die hier erwähnten Schefers, Kinstlers, Dyls, Folmers und noch ein paar andere mit den Nachnamen Horn, Lorenz, Spieß, Griesmann.

Diese Arbeit ist unseren ethnisch-deutschen Dorfmitbewohnern gewidmet.

„Damit wir uns ihrer erinnern!“

Bibliografie

1. Enzyklopädie „Die Deutschen Russlands“, Bd. 1, Moskau, ERN-Verlag, 1999
2. A.A. German, „Die deutsche Autonomie an der Wolga“, Saratow, 1994
3. A.A. German, A. Kurotschkin, „Die Deutschen der UdSSR in der Trudarmee“, Moskau, Gotika-Verlag, 2000
4. „Die Geschichte der ethnischen Deutschen in Russland“, W.A. Djatlowa, Professorin am Lehrstuhl der deutschen Sprache an der Staatlichen Pädagogischen Universität Krasnojarsk
5. W.A. Djatlowa, „Die Deutschen in Russland. Menschen und Schicksale“, St. Petersburg, 1998
6..A. Djatlowa, „Deutsche Siedlungen des Jenisseisker Gouvernements“
7. Zeitung „Neues Leben“, 1992
8. W.S. Martyschin, Moskau, Schülerpresse, 2000
9. Material aus Wikipedia
10. Mündliche Erinnerungen von Dorfmitbewohnern

 


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