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Das Schicksal der Sowjet-Deutschen in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges

Kopjowsker Dorf- und allgemeinbildende Oberschule

„Das Schicksal der Sowjet-Deutschen in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges“

Autorin:
Olesja Andrejewna Schröder
Städtische budgetierte allgemeinbildende Einrichtung „Kopjowsker Dorf- und
allgemeinbildende Oberschule, 11. Klasse

Leitung:
Lidia Wasiljewna Andrianowa
Geschichtslehrerin der gehobenen Kategorie
Städtische budgetierte allgemeinbildende Einrichtung „Kopjowsker Dorf- und
allgemeinbildende Oberschule“
Direktorin der städtischen budgetierten Kultur-Einrichtung „Museum des Ordschonikidsewsker Bezirks“

Ortschaft Kopjowo, 2014

Wie die Deutschen bei uns im Lande leben – das war das Diskussionsthema zur Zeit der Perestroika und zum Beginn des neuen Jahrhunderts. Wie und warum man sie aus ihren Heimatorden an der Wolga in verschiedene Gebiete aussiedelte – auch darüber wird viel gesprochen. Aber meiner Ansicht nach unberücksichtigt geblieben ist dabei die eigentliche Frage: wie verhielt u8nd verhält sich die Bevölkerung ihnen gegenüber, an den Orten, in die man sie umgesiedelt hat? Ich führe zwei Meinungen zu dieser Frage an, die von Deutschen selber kommen und die sie ihren Enkelkindern anvertraut haben.

Taja Klein erzählte von ihren Großeltern, ihrem Schicksal nach der Deportation in unsere Gegend. „Mein Großvater heißt Otto Filippowitsch Klein. Er ist Deutscher, und während des Krieges hat er nicht gekämpft. Sie lebten an der Wolga, in einem Dorf nahe der Stadt Balakowo. Und dann wurde seine Familie, ebenso wie andere deutsche Familien, nach Sibirien verschleppt. Sie verloren alles, was sie besaßen. Nachdem man sie in die neuen Siedlungsgebiete gebracht hatte, wurden alle Familien auf verschiedene Dörfer verteilt. Mein Opa geriet nach Jus.

Der kleine Junge hatte es sehr schwer. Er war das dritte Kind in der Familie. Um die Familie ernähren zu können, musste er „Knecht-Dienste“ leisten – er erledigte alle Arbeiten, zu denen man ihn zwang. Sehr schlecht war auch der Umstand, dass er kaum Russisch verstehen und sprechen konnte.

Zahlreiche Deutsche wurden in Arbeitslager geschickt, wo sie Bäume fällen mussten. Auch mein Großvater Otto Filippowitsch Klein wurde in die Trudarmee (Arbeitsarmee; Anm. d. Über.) geschickt. Und dort hat er, nach seinen eigenen Worten, etwas abbekommen! Dort saßen sie hungernd und frierend und mussten zudem noch die schwersten körperlichen Arbeiten verrichten. Mein Opa überlebte nur, weil er auf einem Pferd arbeitete – das Pferd bekam Hafer zu fressen, und den aß er dann gemeinsam mit den Pferd.

So ein schwieriges Schicksal hat also mein Großvater, der über sein Land sehr gekränkt war, denn es stellte für ihn nicht nur den Ort dar, an dem er geboren wurde, sondern es war auch seine Heimat, genau wie für seine Eltern und seine Kinder. Sein Leben lang hat er gewissenhaft und aufrichtig gearbeitet, niemals die Hände in den Schoß gelegt, bis er in Rente ging. Inzwischen ist er aus Russland ausgereist – in seine historische Heimat Deutschland. Ich habe große Sehnsucht nach ihm“.

Marina Kokowa erzählt ebenfalls von ihren Großeltern, wobei sie beim Thema, wie sich die Sowjet-Menschen im Großen Vaterländischen Krieg ihnen und den sowjetischen Leuten gegenüber verhielten.

„Meine Großmama Olga Ianowna Kronewald wurde 1924 in eine deutsche Familie hineingeboren. Außer ihr gab es noch einen älteren Bruder namens Otto sowie Schwester Frida. Großmutter war 17 Jahre alt, als der Krieg gegen das faschistische Deutschland ausbrach. Sie lebten am Ufer der Wolga. Abends schauten sie aufs Wasser und beobachteten die vorbeiziehenden Schiffe. Das war ein unvergesslicher Anblick. Die Stille, die ruhige Atmosphäre verzauberten einen.

Niemand argwöhnte, dass all das eines verhängnisvollen Tages für immer ein jähes Ende nehmen sollte.

Seit der Zeit Katharinas II hatten sich die Deutschen diese gesegneten Gegenden zu eigen gemacht. Unter der Sowjetmacht wurde im Wolgagebiet die Deutsche Autonome Sowjetische Republik der Wolgadeutschen gegründet. Die Deutschen in der UdSSR erhielten das Recht auf Selbstverwaltung, kulturelle Entwicklung, sie besaßen ihre eigene Schrift und nutzten sie gleichermaßen mit der russischen, sie übten ihre eigene Religion aus. Als der Krieg begann, fassten die Wolgadeutschen ihn, zusammen mit den anderen Völkern, als Vaterländischen Krieg auf und meldeten sich freiwillig an die Front, um ihr einst neu erworbenes Vaterland zu verteidigen.

Doch das Kriegsgeschehen zog sich in die Länge. Schon brachen die Faschisten bis an die Wolga durch. Alle lebten in Angst und Sorge, was nun werden würde, wenn der Feind das Wolgagebiet erobert. Eins Nachts klopfte es an der Hütte der Kronewalds und sie erhielten den Befehl, sich in aller Eile zur Abfahrt fertig zu machen; aber man sagte ihnen nicht, wohin man sie bringen würde und warum. Sie, die nun in aller Eile ihre Sachen packten, schafften es noch nicht einmal, das Allernötigste einzupacken. Man verfrachtete sie zusammen mit anderen Deutschen auf Güterwaggons und schickte sie tief ins Landesinnere. In dem Waggon, erinnert sich die Großmutter, befanden sich so viele Menschen, dass man überhaupt nicht atmen konnte. Man schickte sie nach Sibirien in Sondersiedlung. Die Deutschen, die an der Front kämpften, wurden schnellstens aus der aktiven Armee ins Hinterland verschickt, in die Trudarmee (Arbeitsarmee; Anm. d. Übers.), wo sie unter der Aufsicht einer Sonder-Kommandantur die schwersten Arbeiten verrichten sollten – wie kriminelle Elemente. Natürlich fiel in den Jahren des Krieges allen eine Menge Unheil zu, aber die Deutschen erfuhren an sich auch noch moralische Erniedrigungen. Heute kann man darüber die Wahrheit erzählen. Und die sieht so aus.

Meine Großmutter Olga berichtete, wie schwer und schmerzlich es war, den Hass der Umgebung auf sich zu fühlen. Sie selber musste mehrfach die Beschuldigung anhören, dass sie als Faschistin in dieser Welt leben würde, während das russische Volk für die Heimat sein Blut vergießt. Alle deutschen Familien sahen das Misstrauen und die Verachtung, die man ihnen entgegenbrachte. Meine Oma lebte, wie sie sich gern ausdrückte, mit dem Kreuz im Herzen; mehrfach weinte sie in den Nächten und vertraute den ganzen Kummer ihrem Kopfkissen an. Obwohl sie eine starke Frau war.

Der Krieg ging zu Ende, aber die Probleme der sowjet-Deutschen dauerten an. Sie konnten nicht das Vertrauen der Mitmenschen erwerben. Nach dem Krieg zogen viele bekannte deutsche Familien in das Dorf Budjonnaja (Ortschaft Soljonoosjornoje) im Schirnsker Bezirk um. Auch die Kronewalds suchten sich dort eine neue Bleibe. Die Straße, in der sie sich niederließen, nannten sie „Klein-Berlin“. Die deutschen Kinder wurden als Faschisten bezeichnet. Und sogar bis heute werden Deutsche auf dem Friedhof getrennt von Russen und Menschen anderer Nationalitäten bestattet. Um das alles ertragen zu können, muss man eiserne Nerven besitzen. Ihren Familiennamen hat meine Großmama, im Gegensatz zu vielen anderen, nicht geändert. Und wenn sie das Wort „Krieg“ hört, dann fängt ihr Herz vor Schreck an zu zittern“.

Mit Schmerz im Herzen und einem nachhaltigen Gefühl auf der Seele lesen sich diese Zeilen. Wie kann man so eine Last aushalten, die jeden Tag so schwer auf einem lastet?

Mein Vater Andrej Andrejewitsch Schröder ist der Nationalität nach Deutscher. Sein Vater hieß laut Dokumenten Heinrich Genrichowitsch, doch man schrieb ihn immer als Andrej Andrejewitsch. Daher kommt auch der Vatersname der Kinder – Andrejewitsch. Als Sondersiedler wurden sie aus dem Wolgagebiet verschleppt und gerieten in der Kolchose „Naa-tschol“ – übersetzt „Neuer Weg“ – unter Kommandantur-Aufsicht. Großvater lernte sehr gut Chakassisch sprechen, denn dort lebte die Mehrheit der Chakassen; aber es gab auch Russen. Er heiratete das deutsche Mädchen Pauline, die ebenfalls als Sondersiedlerin dorthin gekommen war. Sie bekamen Kinder: Wladimir, Frida, Anna, Polina, Andrej (mein Vater).

Da sie fast alle nach Deutschland ausreisten, kann ich sie nicht zur Einstellung der Ortsbewohner ihnen gegenüber befragen. Aber all ihre Kinder, mit Ausnahme von Wladimir, haben gemischte Familien gegründet. Als die Ausreise der Deutschen nach Deutschland einsetzt, waren die Großeltern und anschließend Polina die ersten, die das Land verließen. Ihre geliebte Tochter starb, und sie fuhr mit ihrem Sohn und seiner Familie ebenfalls nach Deutschland. Anschließend fuhr Fridas Familie mit dem jüngsten Sohn und dessen Familie. Der älteste Sohn – Leiter der Milizbehörde – fuhr nirgends hin, sondern lebt nach wie vor in Chakassien. Am längsten bereitete sich Annas Familie auf die Ausreise vor – wegen des Widerstands ihres Ehemanns Sergej. Aber schließlich überredeten sie ihn und alle fuhren doch zusammen nach Deutschland. Wladimir starb und erlebte die Abreise nicht mehr, doch die älteste Tochter mit Mutter und ihren beiden Söhnen machten sich auf den Weg. Später reiste auch ihre jüngste Tochter aus. Nur mein Vater lehnte es rundweg ab seine Heimat zu verlassen.

Und dann begann die Rückkehr unserer Verwandten aus Deutschland; sie kamen zurück ins heimatliche, vertraute Chakassien. Zuerst kamen die Sinjakows, Annas Familie, zurück. Sie hatten gelernt, dass für gebildete Menschen, die aber kein Deutsch konnten, dort nichts zu machen war. Mit ihrem hohen Bildungsstatus konnten sie nur eine Arbeit finden, bei der sie auf dem Friedhof das Gras von den Gräbern jäteten oder 2 km lange Streifen von Unkraut befreiten, indem sie es herausrissen. Dazu mussten sie zwischen den Reihen auf den Knien kriechen.

Das war erniedrigend und natürlich auch ohne jede Perspektive. Danach kam Wolodjas Tochter mit den Kindern wieder; sie fand sofort eine Arbeit als medizinische Mitarbeiterin im Krankenhaus – ihrer Berufsausbildung entsprechend. Auch Polinas Sohn kam wieder; nachdem er eine höhere Ausbildung absolviert hatte, bekam er Arbeit als Ermittler bei der Bezirksmilizbehörde. Unser Großvater wurde in Deutschland sehr krank und äußerte immer wieder den Wunsch, in die Heimat zurückzukehren. Aber dazu kam es nicht mehr – er starb in Deutschland. Nachdem er gerade erst ausgereist war, kam er auch schon wieder zu Besuch und erzählte, wie es sich dort lebt. Er billigte nicht alles. Manches verstand er nicht. Er war verwundert, dass man nicht einfach so, ohne Einladung, zu Besuch kommen kann; dich hält sogar die Polizei an und fragt, ob du eine Einladung vorweisen kannst. Zweimal hielten Polizeibeamte ihn an, weil er geraucht und seine Zigarette auf den Bürgersteig geworfen hatte. Sofort näherte sich das Fahrzeug einer Polizeistreife; beim ersten Mal gab es nur eine Verwarnung, beim zweiten Mal eine Geldstrafe. Und das Angeln gilt dort ausschließlich sportlichen Interessen: er kaufte sich eine Angelerlaubnis, fing einen Fisch, nahm ihn vom Haken und warf ihn wieder ins Wasser. Nicht so, wie bei uns. Annas Mann – ein leidenschaftlicher Jäger und Angler – konnte dort nicht ohne unsere sibirischen Wälder und Weiten leben, ohne Fische fangen und Tiere erlegen.

Jedes Jahr kehren die Deutschen, die aus Ijus, wo sie einst alle dicht beieinander wohnten, nach Deutschland ausgereist sind, für den ganzen Sommer zurück nach Hause und besuchen uns. Sie angeln, pflücken Beeren, sammeln Pilze, salzen sie ein, marinieren sie; den Fisch räuchern oder salzen sie – aber das alles tun sie nicht, um es mit nach Deutschland zurück zu nehmen; nein, dort ist es verboten, selber Lebensmittel zu konservieren, dort muss man alles fertig in den Geschäften kaufen. Natürlich nehmen sie für die Verwandten und für sich selbst die eine oder andere Räucherware als Geschenk mit, aber das sind nur Kleinigkeiten.

Besondere Sehnsucht haben die betagteren Leute, die mit ganzem Herzen am unseren Gegenden, an den Menschen hier hängen. Für die jungen Leute ist es einfacher sich umzustellen. Aber auch nicht für alle. Einmal erzählte der Großvater, als er wieder einmal zu Besuch war, wie ein mit seiner Frau in Deutschland eingetroffener Russe es nicht aushalten konnte und am 9. Mai auf den Balkon hinaustrat und mit ausgebreiteten Händen in voller Lautstärke ausrief: „Wollen denn die Russen Krieg“? Er wurde von den Behörden in die Heimat zurück geschickt. Dort darf man auf der Straße nicht laut reden, dort kennt man auch nicht unseren Brauch, sich draußen, vor dem Haus, mit der Nachbarin zu einem Schwätzchen auf die Bank zu setzen. Ein anderes Land, eine andere Mentalität; nicht alle könne sich darauf einstellen und beschließen wieder in die Heimat zurückzukehren.

Wo also finden die Deutschen ihre Heimat? Was ist für sie die wahre Heimat – Deutschland oder Russland? Jeder antwortet auf diese Frage für sich, denn wir haben hier jetzt eine Demokratie. Und mein Vater hat auf diese Frage geantwortet.


Urgroßmutter und Urgroßvater Otto Filippowitch Klein

 


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