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Der Kreuzesweg der Familien Will und Miller (Mini-Forschungsarbeit)

Autor der Arbeit – Viktoria Viktorowna Strischak. Krasnojarsk, Städtische, budgetierte, allgemeinbildende Einrichtung, Oberschule ¹ 64, 9. Klasse

Leitung – Irina Wladimirowna Kuprjakowa
Städtische, budgetierte, allgemeinbildende Einrichtung, Oberschule ¹ 64
Pädagogin für zusätzliche Ausbildung

Krasnojarsk 2019

«Reicht der Geist und die Kraft,
Überwindest du alles, auf dem Weg
Zu den heiligen großväterlichen Gräbern…»
Autor: Vitalij Killer

Früher oder später denkt der Mensch über seine Wurzeln nach, «die heiligen großväterlichen Gräber». Es ist gut, wenn die Familie sorgsam alte Fotografien, Briefe, Dokumente, aufbewahrt, mit einem Wort all das, was man als Familienarchiv bezeichnet. Mitunter finden sich im Erbe bei besonders glücklichen Nachfahren sogar Dinge, die nicht nur ein Jahrzehnt, sondern hundert Jahre alt sind. Solche Menschen wissen sehr gut – wer sie sind und von wem sie abstammen.

Doch die Geschichte – eine kapriziöse und heimtückische «Dame», geht mit dem Menschen manchmal äußerst ungerecht um. Und gelegentlich auch mit ganzen Völkern. Warum so ein Vorwort, fragen Sie?!

Ich lebe in der Region Krasnojarsk, die, wie viele Territorien in Sibirien, traurige Berühmtheit dadurch erlangte, dass sie zu unterschiedlichen Zeiten für viele zum Lebensraum wurde, die nicht aus freiem Willen hierher gelangten. Bis heute gibt es in den Bezirken der Region Krasnojarsk ganze Dörfer und Ortschaften, die ausschließlich von Esten oder Tataren oder Deutschen bewohnt werden. Aus unterschiedlichen Gründen gerieten die Vorfahren dieser Leute hierher, aber sie leben immer noch in kompakter Ansiedlung, bewahren ihre ganz besondere Kultur, ihre Sprache und die Erinnerung an die ferne Heimat ihrer Vorväter.

In diesem Sinn bilden meine Verwandten eine gewisse Ausnahme. Mütterlicherseits sind meine Großeltern und andere Angehörige reinblütige Deutsche. Heute hat das Schicksal sie in verschiedene Länder verstreut, und sie gerieten auch nach Sibirien, wobei sie einen langen und beschwerlichen Weg gingen – den Weg deportierter Familien, so dass Sibirien für sie keine Art von Gefängnis war. Durch den Willen des Schicksals durchliefen sie den tragischen Weg von fruchtbaren ukrainischen Böden bis in die rauen Steppen Kasachstans, überlebten so gut sie es vermochten und machten sich erst Jahre später zu den Ufern des Jenisseis auf.

Dieser kurvenreiche Weg führte dazu, dass in meiner Familie das Familienarchiv und sogar die familiäre Erinnerung, anhand derer man das Auftauchen der Familien Miller, Will, Karsten erklären könnte, fast vollständig ausgelöscht sind.

Als ich anfing, mich für dieses Thema zu interessieren, musste ich mich also auf sehr wenige Dokumente und Erzählungen von Verwandten stützen. Vieles kann man nur erraten, und es kann gut sein, dass meine Vermutungen überhaupt nicht der Wahrheit entsprechen. Und trotzdem möchte ich versuchen jene schwierige Geschichte meiner Familie zurückzuverfolgen, die ich rekonstruieren konnte.

Allen ist bekannt, dass im 18. Jahrhundert, während der Regierungszeit Katherinas der Großen, eine riesige Anzahl von Landsmännern der russischen Imperatorin, die in Deutschland geboren war, nach Russland kamen. Die Kaiserin kannte kein Erbarmen gegenüber ihren Verwandten, und keiner von ihnen erhielt irgendeinen vorteilhaften und gewinnbringenden Platz am russischen Hof. Dafür war Katharina II ihren Landsleuten wohlgesonnen, die sie stets wegen ihres Fleißes, ihrer Gewissenhaftigkeit und ihrer aufrichtigen deutschen Pedanterie geschätzt hatte. Seit jener Zeit tauchten auf der Karte des russischen Imperiums Siedlungen von Zugereisten aus Deutschland auf, die die Bezeichnungen aus ihrer Heimat auch am neuen Wohnort bewahrten. So entstand in Klein-Russland ein Bezirk der kompakten Ansiedlung von Deutschen, der den Namen Luxemburg trug. Hier ließ sich auch die Familie meiner Vorfahren nieder, die mit Nachnamen Will hießen.
Heute weiß in meiner Familie niemand mehr, wer von unseren Vorfahren der Erste war, der sich von Deutschland ins ferne Russland aufmachte. Mehr oder weniger genaue Informationen tauchen erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts auf.

Die Familie Will setzte ihre Wurzeln im Luxemburger Bezirk, der 1925 innerhalb des Mariupolsker Gebiets in der Ukrainischen SSR entstand. Hier lebten konzentriert Personen deutscher Nationalität; das Zentrum war die Ortschaft Luxemburg. Die Familie Will ließ sich im Dorfrat Wischnewatowskoje nieder. Die ersten Zeugnisse, die ich auftreiben konnte, besagen, dass Ururgroßvater Eduard Iwanowitsch Will von Beruf Feldscher war und seine Ehefrau Wilhelmine Georgiewna als Melkerin auf der Farm tätig war. In der Familie wuchsen vier Kinder auf: drei Töchter und ein Sohn. Ich vermute, dass die Familie zu jener Zeit (und die Rede ist hier vom Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts) nur sehr wenig von ihrer deutschen Herkunft bewahrte. Es waren wohl lediglich die Vornamen der Kinder: meine Urgroßmutter hieß Selma Eduardowna, ihre ältere Schwester Gottfrieda.

Urgroßmutter Selma wurde am 27. Februar 1938 geboren. Erinnerungen an diese Lebensperiode der Familie Will sind kaum erhalten geblieben.


Geburtsurkunde von Selma Will (Familien-Archiv)

Als 1941 das faschistische Deutschland in die UdSSR einmarschierte, wurden alle in den europäischen Teilen unseres Landes lebenden Deutschen deportiert. Familie Will wurde, zusammen mit anderen Einwohnern von Wischnewatowo ins ferne, raue Kasachstan geschickt. Die Familie machte sich mit ihren kleinen Kindern auf einen schweren Weg. Sie hätten sich nicht einmal vorstellen können, auf wie viele Erschwernisse sie stoßen würden. Die Züge mit den Deportierten wurden in der menschenleeren Steppe an irgendwelchen Halb-Stationen, abgestellt, von wo aus sie sich zu einem Örtchen namens Prinowka aufmachen sollten. Welgelmina (Wilhelmina) Will blieb mit ihren Kindern und der Familie ihrer Schwester völlig rat- und hilflos zurück, denn Eduard Will wurde an einen anderen Ort geschickt. Erst viele Jahre später stellte die Familie fest, dass Urgroßvater Eduard in ein Lager gekommen war, wo er aufgrund einer Erkrankung verstarb.

Obwohl der Winter bereits hereingebrochen war, transportierten die Frauen die Kinder in offenen Leiterwagen durch den Frost. Diejenigen, denen es gelungen war, wenigstens ein paar Kleidungsstücke mitzunehmen, verpackten die Kinder in einen Wust von Sachen, in der Hoffnung, sie so vor der Kälte und dem durchdringenden Wind zu schützen. Ururoma Wilhelmina und ihre Schwester Jewgenia (Eugenie) hatten Angst, ihren Bestimmungsort nicht zu erreichen, denn um sie herum starben die Menschen vor Hunger und Kälte, und sie konnten sie nirgends beerdigen; sie vergruben die Toten im Schnee und fuhren weiter. Das ist die erste schreckliche Kindheitserinnerung von Uroma Selma.

Aber die Frauen schafften es trotzdem bis nach Prinowka zu kommen. Wilhelmine Will lebte, wie die anderen Umsiedler auch, mit ihren Kindern im Elend. Freilich gab man Uroma Selma seit jener Zeit den einfachen Namen Sina.

Die Deportierten führten in Prinowka ein beschwerliches Hungerdasein. Wilhelmine Will arbeitete auf den Feldern, um ihre Kinder durchfüttern zu können. Die Not war so groß, dass keines der Kinder ein Paar Schuhe besaß. Uroma Sina hat sich ihr Leben lang daran erinnert, wie sie barfuß durch kalte Pfützen, überfrorenen Boden und über Stechgras liefen, das im Steppen-Klima Kasachstans die kleinen Kinderfüße verletzte, was schlimmer war als alles andere.

1945 kam die kleine Sina in die erste Klasse, doch sie blieb dort nicht länger als einen Monat: sie hatte nichts zum Anziehen. Ein paar Jahre später hatte die Familie riesiges Glück – Sina wurde zum Arbeiten ins Haus der ortsansässigen Lehrer, der Derewjankins, angenommen. Zu ihren Aufgaben gehörte es, auf die Kinder aufzupassen. Man sagte ihr, dass sie für ihre Arbeit keinen Lohn ausbezahlt bekommen würde. Dafür durfte sie aber mit im Haus ihrer Arbeitgeber wohnen, wo sie verpflegt wurde und man ihr außerdem versprach, dass sie in Der Familie der Derewjankins unterrichtet würde. Sina wuchs heran und übernahm immer mehr Aufgaben: nun führte sie bereits den gesamten Haushalt der Lehrerfamilie. Aber ihr Versprechen lösten die Derewjankins nicht ein: niemand machte Anstalten Sina zu unterrichten, und deswegen versuchte sie es im Alleingang. Sie lernte ein wenig schreiben, lesen und rechnen, doch leider nahmen ihre häuslichen Pflichten ihre gesamte Zeit ein. So blieb Uroma Sina bis an ihr Lebensende ein Halb-Analphabetin, im Gegensatz zu ihren Geschwistern. Ich weiß nicht, warum ausgerechnet meine Urgroßmutter in dieser Hinsicht kein Glück hatte. Aber in meiner Erinnerung sehe ich noch genau vor mir, wie meine Eltern, wenn wir in meiner Kindheit zu Uroma Sina nach Kasachstan zu Besuch fuhren, mit ihr in ein Geschäft gingen, um ihr als Geschenk irgendetwas Neues zu kaufen. Sie schaute sich verschiedene Sachen eine lange Zeit an, holte dann tief Luft und meinte: «Es lohnt sich nicht dafür Geld auszugeben».

Das Nachkriegsleben gestaltete sich allmählich besser. Sina wuchs heran, wurde ein junges Mädchen – ein Teenager. Unter den Dorf-Vergnügen war bei den Jugendlichen das Tanzen damals sehr beliebt. Und obwohl Sina nicht tanzen konnte, ging sie gelegentlich mit ihren Schwestern zu den geselligen Abenden. An einem dieser Abende ereignete sich eine unangenehme Geschichte: ein junger Mann, der Sina zum Tanz aufgefordert hatte, wurde böse, weil das Mädchen ablehnte. Der junge Bursche war betrunken und äußerte seinen Ärger mit einem so heftigen Schlag, dass das Schlüsselbein des Mädchens brach. Nachdem Sina ins Haus der Derewjankins zurückgekehrt war, erzählte sie von dem Unheil, das ihr widerfahren war, und es stellte sich heraus, dass sie, das sie nun nicht mehr arbeiten konnte, im Hause auch nicht mehr benötigt wurde. Keiner wollte für ihre Behandlung sorgen, und man wollte auch nicht, dass sie weiter in dem fremden Haushalt wohnte.

Nachdem Sina ihre Sachen gepackt hatte, kehrte sie zu ihrer Familie zurück, wo man über ihr Erscheinen keineswegs erfreut war. Der Spätherbst stand vor der Tür, und alle Vorbereitungen für den Winter waren bereits erledigt. Ein zusätzlicher Esser war gänzlich überflüssig. Dieser Tatbestand aus der Biografie meiner Urgroßmutter brachte mich zu einer Menge Überlegungen: erstaunlicherweise manifestierte sich die berühmte deutsche Pedanterie. Alles war bereits für die Anzahl Menschen berechnet, die im Haus lebten, und außerdem war wohl die herrschende Not ein Grund dafür, dass die heimgekehrte Schwester im eigenen Elternhaus nicht mit Freude aufgenommen wurde. Die Familie hatte den ganzen Sommer über ihre baufällige Behausung in Ordnung gebracht und jede einzelne Kopeke für ein neues Dach verwendet. Und nun, da alles fertig war, kam Sina nach Hause, als ob sie extra so lange gewartet hätte. So dachten jedenfalls der ältere Bruder und auch andere Mitglieder der Familie. Alle, mit Ausnahme der Mutter. Die Familie schien vergessen zu haben, dass Sina während der Zeit, in der sie bei den Derewjanskins gearbeitet hatte, versucht hatte, ihren Angehörigen zu helfen, indem sie stets ein Stückchen beiseitelegte, um wenigstens ein paar Lebensmittel mit nach Hause zu bringen. Nachdem sie begriffen hatte, was für ein schwieriges Leben ihre Verwandten hatten, hatte sie häufig etwas abgezweigt, was sie selbst hätte essen können.

Aber Armut tut den Menschen manchmal schreckliche Dinge an. Sina sammelte, wie jedes andere deutsche Mädchen auch, eine magere Mitgift zusammen. Denn irgendwann würde auch sie heiraten. Doch der ältere Bruder meinte, dass man diese Truhe, mitsamt den schlichten Sachen, verkaufen müsste, und das dafür erhaltene Geld Sinas Beitrag für die Familien-Sparbüchse sein sollte. Das war der Grund dafür, dass Sina sich gezwungen sah ihre Familie zu verlassen. Nachdem sie ihr einziges Kleinod verloren hatte, verlor sie nun auch noch jegliche Hoffnung, irgendwann einmal eine eigene Familie zu gründen. Die Mutter stand auf Seiten der Tochter, und der Bruder musste kleinbeigeben. Ich betrachte das Foto der jungen Sina: ein einfaches Gesicht, ordentlich gekämmte Haare und ein Kleid, wie bei einem echten Stadtfräulein, und eine bescheidene Halskette, die den Hals des Mädchens schmückt.


Foto von Selma Will aus ihrer Jugend (Familienarchiv)

In der Truhe warn folgende Schätze verwahrt: ein Stück Seidenstoff, das das Lehrer-Ehepaar Derewjanskin Sina geschenkt hatte, als sie dort wohnte. Manchmal war es ihr gelungen, ein Stück Stoff zu erwerben und daraus Bettwäsche und einige neue Kleidungsstücke für sich zu nähen. Wahrscheinlich stammt dieses Kleidchen auch aus der Schatztruhe. Es war, als ob die 17-jährige Sina fühlte, dass sie ein paar Monate später ihrem Schicksal begegnen und meinen Urgroßvater Wladimir Iwanowitsch Miller heiraten würde.

Die Familie Miller lebte in der Ortschaft Nagolno-Tarassowka, Rowensker Bezirk, Gebiet Woroschilowgrad (heute – Lugansker Gebiet). Während ich das Material über die Familie Miller studierte, kamen eine Menge Fragen auf, von denen diese eine der wichtigsten war: warum gab es in der Familie keine deutschen Vornamen?! Ururgroßmutter – Maria Iwanowna, Ururgroßvater – Iwan Iwanowitsch, und alle fünf Kinder in der Familie trugen ebenfalls russische Vornamen. Aus der deutschen Vergangenheit waren nur die Nachnamen erhalten geblieben. Leider kann heute keiner meiner Vorfahren mehr sagen, wann die ersten Millers im Dorf Tarassowka in Erscheinung traten. Die gesamte Lebensweise zeigte keinerlei Besonderheiten, anhand derer man Merkmale erkennen konnte, die für eine deutsche Familie typisch sind.


Geburtsurkunde von Wladimir Miller (Familienarchiv)

Möglicherweise lässt sich das damit erklären, dass die Familie Mitte der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts bereits merklich russifiziert war. Mein Urgroßvater Wladimir Iwanowitsch wurde am 16. Februar 1935 geboren. Leider gibt es in der Familie keinerlei Informationen über seine Geschwister, des Weiteren kann ich auch nichts darüber sagen, welche Berufe meine Urgroßväter hatten. Mir ist lediglich bekannt, dass die Familie einen großen Gemüsegarten und ziemlich viel Vieh besaß, so dass sie ein gesichertes Leben führen konnten, ohne auf irgendetwas verzichten zu müssen. Ich glaube, dass sich das materielle Wohlergehen der Familie durch ihren Fleiß und ihre Sorgsamkeit erklärt (das ist wohl alles, was die Familie Miller mit der deutschen Mentalität in Verbindung bringt).

Das einzige Kinder-Foto meines Urgroßvaters passt überhaupt nicht zu Wohlstand und Wohlergehen. Auf dem Bild sieht man meinen Ururgroßvater Iwan Iwanowitsch Miller mit seinen zwei Söhnen, von denen der ältere mein Urgroßvater Wladimir ist. Ich lege zwei alte Fotos vor mich: die junge Selma und den Heranwachsenden Wladimir. Sie sehen so unterschiedlich aus: das akkurat gekleidete und sogar schmuck aussehende Mädchen und das Bürschchen mit dem erschrockenen Gesichtsausdruck, der sich mit einem einfachen Hemd bekleidet vor das Objektiv gestellt hat. Einmal habe ich meinen Urgroßvater gefragt, warum er auf dem Bild so armselig aussieht. Der verlegene Urgroßvater murmelte: «Na, der Vater hat uns zum Fotografieren direkt vom Feld geholt, ich konnte mich nicht mehr umziehen». Aus dem Familien-Archiv stammen diese zwei alten Fotos und noch eins, worüber ich weiter unten schreiben werde und das mir sehr am Herzen liegt.


Wladimir Miller mit Vater und Bruder (Familien-Archiv)

Im Sommer 1941 wurde die Familie gezwungen, innerhalb weniger Stunden das heimatliche Tarassowka zu verlassen. Wie alle Sowjet-Deutschen, die in der Ukraine und im Wolgagebiet lebten, wurden sie deportiert. Es gelang den Millers einen kleinen Teil ihrer Kleidung und Dokumente einzupacken und mitzunehmen.

Die Züge, in denen sich die Familie Miller befand, fuhren gen Osten, nach Kasachstan. Was für eine Panik und was für ein Chaos in dieser Zeit herrschte, vermag ich mir nur anhand folgender Familien-Tatsache vorzustellen: an einer der Halbstationen, während eines Zug-Halts, ging der kleine Wowa verloren. Obwohl er die Abfahrt des Zuges ohne ihn sowie eine harte Strafe riskierte, blieb Iwan Miller zurück, um den Sohn zu suchen, während die Mutter mit den anderen Kindern weiterfuhr. Zum Glück ging diese Episode für die Familie nicht so schlimm aus. Der Vater machte den Sohn ausfindig und schaffte es, die restliche Familie noch einzuholen. Wie ihnen das gelang, ohne dass sie, an den Bahnschienen entlanglaufend, Verdacht erregten – ist unverständlich. Aber offensichtlich hatte das Schicksal mit meinen Vorfahren Mitleid und gestattete es der Familie nicht, sich gegenseitig aus den Augen zu verlieren.

Der Bestimmungsort für die Familie Miller war die Ortschaft Nekrassowka, Urdscharsker Bezirk, Gebiet Semipalatinsk. Die gleichen Entbehrungen, das gleiche Elend, das die Familie von Selma Will durchmachen musste, brach auch über die Millers herein. Hunger – das ist die Not, die den kleinen Wowa während seiner gesamten Kriegskindheit verfolgte. Von fünf Kindern starben drei, und nur die Zwangsarbeit von Iwan und Maria Miller ermöglichten meinem Urgroßvater und seiner Schwester das Überleben.

Darüber, wie schwer die deportierten Deutschen es in Kasachstan hatten, spricht die Tatsache, dass weder die Uroma noch der Uropa eine Ausbildung erhalten konnten. Das Beste, was ihnen in ihrer Kindheit passieren konnte war die Möglichkeit, die Grundschule zu besuchen. Eine solche Schulbildung bekam Wladimir Miller, aber bald darauf war er gezwungen in der Kolchose zu arbeiten, um der Familie das Leben zu erleichtern.

Falls Sie es bemerkt haben – meine Urgroßmutter und mein Urgroßvater lebten an verschiedenen Orten. Die 17-jährige Sina und den 23-jährigen Wladimir führte ein trauriger Anlass zusammen – sie lernten sich auf einer Beerdigung kennen. Zu der Zeit lebte jeder der jungen Leute sein eigenes Leben. Sina fühlte, dass sie in ihrer Familie nicht gebraucht wurde, und das Elternhaus wurde für sie immer fremder. Aber es gab die Liebe zu dem jungen Mann, und sie träumte davon, ihn irgendwann einmal zu heiraten. Wladimir, der damals in der Kolchose arbeitete, plante ein russisches Mädchen zu heiraten, was aber die Missbilligung seiner Verwandten hervorrief.

Das Leben stellt eine sehr harte und sogar grausame Herausforderung dar. Die jungen Leute hatten ihren Traum, doch das Schicksal verfügte anderweitig. Auf der Beerdigung erhielt Wladimir den Rat, sich das häusliche, fleißige Mädchen näher anzusehen, das eifrig beim Kochen und Putzen geholfen hatte. Den Leuten fiel ihre Bescheidenheit auf, und sie sprachen von ihr als eine gute, freundliche und hoffnungsvolle Gefährtin fürs Leben. «Der Mensch denkt, aber Gott lenkt» - besagt ein russisches Sprichwort, welches auf das Schicksal meiner deutschen Verwandten voll angewendet werden kann. Nach kurzer Überlegung schrieb Wladimir einen Brief nach Irinowka, indem er Sina vorschlug, mit ihm die Ehe einzugehen. Und bald darauf kam er selbst und hielt um ihre Hand an. Die Angehörigen genehmigten ihn als Bräutigam, und so wurde die Heirat beschlossen.
Da erwies sich die kostbare Truhe von Sinas Urgroßmutter als nützlich. Aus dem Stück schneeweißer Seide, welches sie als größten Reichtum verwahrt hatte, nähte die Schwester ihr ein Hochzeitskleid. Und obwohl der Schleier aus gewöhnlichem Mullstoff war, schmückte ihn ein wunderbares Kränzchen aus Wachsblumen. Außerdem war der Brautkranz mit Bändern und verschiedenfarbigen Glasstückchen verziert. Dieser einfache Schmuck wird bis heute noch in unserer Familie aufbewahrt: er zierte den Schleier meiner Großmutter, meiner Mama, und ich möchte nicht ausschließen, dass er zu gegebener Zeit auch meinen Kopf bei der eigenen Hochzeit schmücken wird.


Selma Will und Wladimir Miller 1958 (Familien-Archiv)

Das Hochzeitsfoto von Selma Will und Wladimir Miller ruft in mir stets außergewöhnliche Gefühle hervor. Wir merkwürdig sie so zu sehen: die Braut in schneeweißer Kleidung und der Bräutigam in strengem Anzug und Krawatte. Dabei spielte sich das doch in einem öden kasachischen Dorf ab. Aber wie adrett und städtisch gekleidet sehen die beiden aus. Auf einem anderen Hochzeitsfoto befinden sich Sina und Wladimir neben den Gästen in alten Wattejacken, und ich sehe ein zartes Mädchen mit Blumen auf dem Kopf und in einem eleganten Kleid – die Schwester und Trauzeugin der Braut.

Eine weitere entfernte Erinnerung an vergangene Traditionen und Bräuche, die erhalten geblieben sind, sind wohl, auf einer unbewussten Ebene – die Blumen-Rosetten mit den langen Bändern aus Atlasstoff am Anzug des Bräutigams und seines Trauzeugen.


Hochzeitsfoto von Selma Will und Wladimir Miller (Familien-Archiv)

Eine Hochzeitsfeier war ein wichtiges Ereignis in jener schweren und freudlosen Zeit. Deswegen war man vermutlich auch bemüht, alle Regeln so weit wie möglich einzuhalten. Am ersten Tag mussten die Gäste mit dem Bräutigam und der Braut verschiedene Tänze tanzen. Dafür mussten Sina und Wladimir zwei Monate vor der Hochzeit diverse Tänze einzustudieren, die mit den Gästen gemeinsam getanzt werden sollten. An dem Tag bekamen die jungen Leute Geschenke. Ich glaube, dass es sehr bescheidene Gaben, aber sehr nützliche Dinge für den Haushalt des jungen Paares waren. Am zweiten Tag fand das Festmahl statt. All das geschah am 21. Februar 1958 in der Ortschaft Nekrassowka.

Die junge Familie begann ihr neues Leben wie alle Familien jener Zeit: ein bescheidener Alltag, schwere Arbeit und das Aufziehen der Kinder. Insgesamt bekam das Paar fünf: zwei Töchter und drei Söhne. Unter ihnen befand sich auch meine zukünftige Großmutter namens Valentina. Obwohl das Schicksal Sina und Wladimir gegen ihren Willen zusammengeführt hatte, lebten sie einträchtig miteinander, arbeiteten in der Kolchose – er als Traktorfahrer, sie als Melkerin. Von klein auf gewöhnten sie den Kindern das Arbeiten an. Oma Walja arbeitete als Heranwachsende jede Sommerferien als Melkerin in der Kolchose. Wenn es ihr nicht gelang eine Tätigkeit in der Kolchose zu finden, saß sie mit den Nachbarskindern zusammen und passte auf sie auf.

Dieses Leben im kasachischen Nekrassowka war nicht leicht, sogar dann nicht, als der Krieg beendet war und die umgesiedelten Deutschen, wie es schien, wieder frei durchatmen konnten. Davon zeugt ein noch existierender Brief, den die Urgroßmutter ihrer Tochter und meiner Oma nach Sibirien schrieb. Hier ein kleiner Auszug daraus. Wir erfahren darin von einer Verwandten, die während der Arbeit eine Verletzung erlitt. Sie erwies sich als so schwer, dass man der Frau die Hand amputieren musste. Was war das nur für eine Arbeit, bei der eine erwachsene Frau sich dermaßen verstümmeln konnte?!

Die Urgroßmutter schreibt vom strengen Frost, der in jenem Winter besonders grimmig war, über die Schwierigkeiten im Alltag, mit denen die Mitglieder der Familien Miller – Karsten zu kämpfen hatten. Ich lese diesen Brief und begreife, dass es eigentlich keinerlei besonderen Berichte über die schwere Jugendzeit meiner Urgroßmutter bedarf. Der Brief wurde von einem Menschen geschrieben, der kaum in Rechtschreibung bewandert war. So lebte Selma Will ihr Leben als Beinahe-Analphabetin, dabei war das schon zu Sowjetzeiten.

Dafür erinnert sie in ihrem Brief nicht nur an die deutschen Verwandten, sondern auch an die kasachischen Nachbarn und russischen Bekannten.


Brief von Sinaida Miller an ihre Tochter Valentina (Familie-Archiv)

Im Gegensatz zu ihren Eltern erhielten die Kinder in der Familie Miller eine Ausbildung. Die jüngste Tochter Valentina (meine zukünftige Großmutter), beendete nicht nur die 10. Klasse, sondern auch die Schneider-Fachschule in Semipalatinsk. Im heimatlichen Nekrassowka begegnete sie ihrem Schicksal – meinem Großvater Viktor Andrejewitsch Karsten.

Die Familie Karsten geriet ebenso nach Kasachstan wie die Millers, nur waren sie aus dem Wolgagebiet deportiert worden. Die Uroma großväterlicherseits, Natalia Gottfriedowna Baisel (Beisel?), wurde in der Siedlung Fritzler, Nikolajewsker Bezirk, Gebiet Stalingrad, geboren; ebenso erblickte dort auch Urgroßvater Andrej Michailowitsch Karsten das Licht der Welt. Leider ist das Leben meiner Urgroßeltern aus dieser Linie für mich fast vollständig ein Rätsel geblieben. Ich erinnere mich, dass Uroma Natalia Gottfriedowna in meiner Kindheit jegliche Fragen über ihre Vergangenheit jäh unterbrach. Und erst unmittelbar vor ihrem Tod bedauerte sie aufrichtig, dass nun niemand der ihr nahestehenden Personen über ihr vergangenes Leben Bescheid wusste. Doch da war es bereits zu spät. Der Tod schnitt alle Enden ab.

Nachdem Valentina Miller und Viktor Karsten sich in Nekrassowka begegnet waren, verliebten sie sich ineinander und heirateten dort 1980.


Hochzeitsfoto von Valentina und Viktor Karsten (Familien-Archiv)

Erkennen sie den Brautkranz, der auch schon den Kopf der jungen Selma geschmückt hatte? Man musste ihn erheblich abändern, weil die Wachsblumen im Laufe der vielen Jahre gelitten hatten, aber das allgemeine Aussehen des Mädchenschmucks war fast so erhalten geblieben. Ich weiß nicht, wie das Schicksal der jungen Familie Karsten sich weiterentwickelt hätte; jedenfalls fuhren sie drei Jahre nach der Hochzeit ins ferne Sibirien und ließen sich in der Region Krasnojarsk, im Dorf Schiwera, 75 km von Krasnojarsk entfernt, nieder. Hier leben sie heute noch, haben drei Kinder großgezogen, unter ihnen meine Mama.
Valentina Karsten arbeitete als Erzieherin im Kindergarten, Viktor Karsten war als Tierarzt tätig. Dass sie an so einen merkwürdigen Wohnort, in so ein entlegenes sibirisches Dorf, zogen, dass Freunde sie überredeten hierher zu ziehen.


Familie Karsten heute: Valentina Karsten, Viktor Karsten und ihre Kinder (Familien-Archiv)

Heute lebt der riesige Clan meiner Familie in verschiedene Länder verstreut: Die Millers und Wills wohnen in der Region Krasnojarsk und in Kasachstan, ein Großteil der Familie Karsten – inzwischen in Deutschland. Das Leben meiner Verwandten hat sich in unterschiedlicher Weise zusammengefügt. Einige von ihnen entschlossen sich für einen Umzug in ihre historische Heimat in Deutschland; mein Großvater Viktor Karsten antwortet auf alle Überredungskünste der Angehörigen stets, dass es ihm in Russland gut geht und er seinen Wohnort nicht ändern will. Für viele meiner Angehörigen wurde Kasachstan zur Heimat, ich war sogar schon einmal bei ihnen zu Besuch.

Am meisten bekümmert es mich, dass die Vergangenheit meiner Familie wohl niemals vollständig rekonstruiert werden kann. Während der Deportation gingen Dokumente verloren, und davor sind sie möglicherweise ganz bewusst vernichtet worden. Wenngleich ich vermute, dass meine Vorfahren sich vor so langer Zeit auf den Weg nach Russland machten, dass sie ihre deutschen Wurzeln glattweg vergessen haben. Als ob das Leben meiner Verwandten in einem bestimmten Augenblick beginnt und vor diesem Zeitpunkt eine klaffende Leere herrscht.
Das Fehlen von Erinnerungen aus der Vergangenheit geben mir Anlass zu der Vermutung, dass sie ihren Lebensweg gingen und dabei ein sehr schweres Kreuz zu tragen hatten.

Doch ich habe sie nicht vergessen und werde mich bemühen, die Erinnerungen an meine Kinder weiterzugeben.

Quellenangaben:

Alle Informationen entstammen dem Familien-Archiv, außerdem wurden Interviews verwendet: mit Valentina und Viktor Karsten (Region Krasnojarsk, Russische Föderation); Valentina und Andrej Karsten (Deutschland); Valentina Parschina (Region Krasnojarsk, Russische Föderation; Jurij Zimerman(n) (Deutschland), 2018-2019.


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