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„Von Sibirien nach Sibirien“ (Sammelwerk der Erinnerung von Sajan-Bewohnern, die in den Jahren der politischen Repressionen zu leiden hatten

Aus den Erinnerungen der Minna Friedrichowna Bljumowa (Wamboldt) ...

Minna Friedrichowna Bljumowa (Wamboldt) wurde am 28.07.1931 geboren.
Vater – Friedrich Petrowitsch Wamboldt, geb. 1907.
Mutter – Maria Iwanowna (Hans) Wamboldt, geb. 1912 (im Gebiet Saratow).

Wir lebten bis 1941 im Wolgagebiet, in der Ortschaft Balzer. In der Familie gab es vier Kinder – Minna, Lusja, Arnold und Silwa. Vor dem Krieg bauten die Eltern ein Haus mit drei Zimmern, einer Küche; sie besaßen einen Gemüse- und Blumengarten, eine Kuh, Schweine, Ziegen und Hühner. Sie waren mit allem notwendigen Mobiliar eingerichtet. Der Vater war von Beruf Schmied, die Mutter arbeitete als Technologin in der Ziegelei. Sie verdienten nicht schlecht, hatten ihr Auskommen. Die Ortschaft war so groß wie eine richtige Stadt. Dort lebten auch russische Familien, und es gab Mischehen.Minna ging als einzige mit 8 Jahren in die Schule. Am 28. August 1941, als der Krieg begann, wurden alle deutschen Familien (gemischte waren davon nicht betroffen) darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie ihre Sachen packen und sich f+r den Umzug an einen anderen Wohnort bereitmachen sollten. Des weiteren teilte man ihnen mit, dass sie nure eine begrenzte Kilogrammzahl an Sachen und anderen Frachtstücken mitnehmen könnten. Alles was sie zurücklassen mußten, wurde im Haus eingeschlossen und anschließend die Schlüssel der einzelnen Höfe an den Kommandanten ausgehändigt. Der ganze Hof, alles blieb zurück. Unterwegs schlachteten sie eine Ziege, deren Fleisch sie kochten und nach und nach während der Fahrt aßen. Bei der Ausreise erklärte man ihnen, dass sie bei ihrer Rückkehr alles zurückbekommen würden. Die ganze Familie wurde auf ein Auto verladen und zur Wolga gebracht; dort mußten sie an Bord eines Schiffes gehen, mit dem sie über die Wolga fuhren. Anschließend bestiegen sie einen Zug und wurden in Viehwaggons, die man mit Pritschen ausgestattet hatte, weitertransportiert. Essen nahmen sie an den Bahnstationen entgegen, ihre Notdurft verrichteten sie, wenn der Zug halt machte; der Zug fuhr langsam,und die Aufenthalte waren immer sehr lang. Man brachte sie nach Ujar oder Saosjornij – genau weiß sie das nicht mehr. Man hatte Fahrzeuge geschickt, um sie von der Bahnstation abzuholen. Die Familien wurden über den ganzen Bezirk verteilt. Die Familie Wamboldt wurde in das Dorf Stojba, Partisansker Bezirk, geschickt. Man quartierte sie bei einer Frau ein. Zwei Tage später wurde der Vater in die Trudarmee mobilisiert; dort arbeitete er als Schmied. Sie ließen ihn nicht nach Hause fahren, um seine Familie zu sehen. Er wurde magenkrank und starb drei Jahre später. Die Familie wurde schriftlich darüber informiert. Die Mutter arbeitete im Dorf, aber das Geld reichte nicht, und so mußte sie sich und die Kinder auch noch mit Betteln durchschlagen. So kam sie auch nach Tinskaja, wo sie zufällig dem Bruder ihres Mannes begegnete, der ebenfalls verschleppt worden war; nachdem sie eine Woche lang unterwegs gewesen war, kehrte sie nach Stojba zurück und fand ihre Kinder in einem erbärmlichen Zustand vor: sie konnten vor Hunger schon nicht mehr aufstehen. Während ihrer Abwesenheit hatten die Kinder, zusammen mit zwei weiteren Familien, in einem Zimmer im Wohnheim gelebt. Als sie nun zurückkehrte lagen alle vier Kinder da und rührten sich nicht. Sie brachten ihnen die erbettelten Almosen, alles war ganz gefroren, und rettete damit ihre Kinder vor dem Hungertod. Zum Frühjahr waren sie wieder genesen und machten sich zufüß auf den Weg nach Tinskaja, um sich dort bei Alexander Wamboldt(dem Bruder des Vaters) niederzulassen, der ebenfalls vier Kinder hatte. Onkel und Tante arbeiteten in der Kolchose; dort waren auch noch andere Deutsche – Jakob Waitzel mit seiner Frau Amalie und noch drei oder vier Familien); einige waren noch vor dem Krieg von dort abgereist. Waitzel hatte ein Haus gebaut. Die Mutter fand eine Arbeit als Technikerin an der Schule und wurde in einer kleinen Holzkate auf dem Schulgelände untergebracht; die Hütte war klein, verfügte über einen russischen Ofen, einen Gemüsegarten gab es nicht; man erlaubte ihnen nicht, eine kleine Hofwirtschaft zu führen. Ihre verbliebenen Sachen tauschten sie gegen Nahrung ein; die Kindern gingen den ganzen Winter hindurch betteln. Im Frühjahr pflanzten sie draußen Kartoffeln an, und im Herbst konnten sie zehn Säcke voll ausgraben. War das eine Freude! Später kauften sie eine Kuh, sie lebte draußen, aber im Winter wurde sie im Zimmer gemolken. Dann kauften sie sich ein kleines Holzhaus (neben N. Filimonowa, dieKate ist verfallen), und zogen nach dem Krieg dorthin um. Alle Kinder besuchten die 4-Klassen-Schule. Lusja wohnte im Alter von 7 Jahren bei Verwandten der Mutter in Ujar. Mit 12 begann sie auf der Farm als Schweinehirtin zu arbeiten – zusammen mit Anisja Burej und Olga Kusmina. Ein Jahr blieb sie dort, dann wechselte sie mit Walja Kusmina in den Kälberstall, wo sie drei Jahre arbeitete. Später molk sie Kühe, 15 Kühe per Hand. 1953 heiratete sie Kostaj Bljumow, 1954 wurde Lida geboren. Danach erledigte sie diverse ungelernte Arbeiten in der Kolchose, auf dem Feld, bei der Silage, bei der Warenannahme. 1956 wurde Mascha geboren, die Familie wurde aus der „Kommandantur-Unterstellung“ abgemeldet; bis dahin hatten sie einmal im Monat dorthin fahren und sich melden müssen. 1956 schickte man sie zum Arbeiten in die Obstgartenanlage; Maria Gerasimowa arbeitete als Kindermädchen, ihre Schwester Alexandra Burej und andere waren auch dabei. Tochter Natalia wurde 1960 geboren; sie selber erledigte diverse Arbeiten in der Kolchose. Im Sommer 1967 verputzten sie die Wände der neuen Schule (Ljubow Filimonowa, Antonina Syk). Bruder Arnold fuhr 1956 zu den Verwandten seines Vaters nach Kasachstan, ins Gebiet Kustanaj. Silwa und die Mutter reisten ihm im Winter nach, denn dort lebte man viel besser, als hier; die Mutter arbeitete, ihrer Berufsausbildung entsprechend, in der Ziegelei. 1969 starb sie. Silwa lebt jetzt in Deutschland, sie reiste 1992 aus; ihr Bruder ist schon tot. In den 1960er Jahren fuhr der Bruder zurück an die Wolga; im ehemaligen Haus wohnten fremde Leute; man verweigerte ihm die Rückgabe seines Besitzes. Keiner von uns erhielt Schadensersatz für das verlorene Hab und Gut. Ich habe 49 Jahre gearbeitet, habe Medaillen und Ehrenurkunden dafür erhalten. Ich bin eine von der Sowjetunion anerkannte Veteranin. Ich bekomme (als Opfer politischer Repressionen) 50% Ermäßigung auf die Kosten für Strom, Gas und Arzneimittel. Die Kinder sind alle verheiratet, ich habe 7 Enkel und eine Urenkelin namens Ksenja, die 1994 geboren wurde. Mein Mann, Konstantin Bljumow, starb am 04.11.2001.

Minna Friedrichowna Bljumowas (Wamboldt) Bericht wurde von Maria Kusnezowa, Bibliothekarin in der Dorfbücherei von Tinskaja, aufgezeichnet.


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