Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Mein offenes Russland

DIE NATIONALE FRAGE

Lange dachte ich darüber nach, womit ich den Bericht über meine Begegnung mit Irina Filippowna Kosak beginnen sollte. Mit der Kindheit? Sie fielen bei ihr geradewegs in die Jahre der stalinistischen Repressalien. 1937 verhaftete man ihren Vater. Er war Lehrer, und deswegen wohnte die Familie in einer kleinen Hütte auf dem Schulhof. Am Abend kamen NKWD-Mitarbeiter und verhafteten den Vater vor den Augen seiner Kinder und der Schüler. Erst zwanzig Jahre später erhielten die Tellers eine Nachricht: Ihr Ehemann F.K. Teller wurde 1937 erschossen. Posthum rehabilitiert.

Vielleicht ist der Charakter meiner Gesprächspartnerin für den Leser am einfachsten und am besten zu verstehen, wenn der Bericht in ihrer Jugendzeit beginnt? 1942 wurde das sechzehnjährige Mädchen in die Trudarmee geholt. Unlängst erzählte sie in der Zeitung über jenen Zeitraum in ihrem Leben.

Die Unterhaltung begann mit dem heutigen Tag. Sie lebt in dem kleinen Dorf Trassutschej, umgeben von ihren Kindern und Enkeln. Sie hat ihr eigenes Haus, ihren Haushalt, bezieht eine Rente von 120 Rubel pro Monat, ihr fehlt es fast an nichts. Doch an ihrer Seele nagt die Kränkung wegen der Vergangenheit, wegen der Ungerechtigkeit in Bezug auf die Menschen deutscher Nationalität. Und da alle anfingen davon zu sprechen, wollte auch sie wissen, wann endlich die volle Wahrheit über die Ungerechtigkeit gesagt würde, die das stalinistische Regime in Bezug auf die Wolgadeutschen entfacht hatte. Deswegen schrieb sie auch einen Brief an die Redaktion – sie konnte einfach nicht länger schweigen.

Die schwarzen Seiten im Leben von Irina Fjodorowna Kosaks Generation, vieler anderer Sowjetmenschen und nicht nur der Deutschen begann mit der Zeit, als im Lande das stalinistische Regime der Repressionen Fuß fasste. Aus dem Radio schrie es: es gibt kein anderes Land, in dem der Mensch so frei leben würde, doch dabei herrschten Angst und Heuchelei.

In den vergangenen Jahren wurde nicht wenig über die Verbrechen Stalins und der Stalinisten geschrieben. Vieles, aber bei weitem noch nicht alles. Doch es werden bereits Stimmen laut — es reicht, sagen sie, in der schmutzigen Wäsche der Geschichte herum zu graben, etwas zu beschmutzen, worüber längst Gras gewachsen ist. Das, so heißt es, untergräbt die Autorität der Partei und des Staates. Aber die Autorität der Partei — ist eine viel ernsthaftere Angelegenheit, als manche meinen. Solche «Aufpasser» bringen die Autorität der Partei mit ihrer eigenen in Verbindung und sorgen sich in erster Linie um ihre eigene Ruhe und ihr eigenes Wohlergehen. Je stiller es ist, desto weniger wissen die Menschen über das Niveau der Kompetenz mancher Beamten und über das Wohl, das sie oft ganz unverdient genießen. Für sie bedeutet Schweigen tatsächlich – Gold.

Es ist nicht genug! Denn am Verschweigen der Verbrechen der Vergangenheit sind vor allem ihre Schuldigen und Vollstrecker interessiert, ebenso wie diejenigen, die zu neuen Taten bereit sind.
Wahre Autorität aber sind — Wahrheit und Tat. Auch heute nimmt die Autorität der Partei zu, denn sie hat in sich die Kraft gefunden, dem Volk die bittere Wahrheit mitzuteilen. Und das tut sie, um die früher zugelassenen Fehler zu korrigieren. Die weit hergeholten Appelle und Versprechungen verursachen beim Volk nichts anderes als Gelächter und Empörung. Wer hat denn schon die fünf Sterne des „treuen Leninisten“ ernst genommen?! Aber die Zeitungen haben detailliert über die Auszeichnungen berichtet, das Fernsehen hat unmittelbar Reportagen gebracht, der überfüllte Saal bebte vom Applaus der Anwesenden. Sie haben auf uns eingeredet: das ist für die Stärkung der Autorität der Partei- und Staatsführer, für das Verständnis des internationalen Prestiges. Sie sagen, die Kapitalisten sollen sehen, was für eine Einheit wir sind, eng zusammenhaltend wie nie zuvor. Aber die Kapitalisten hat man wohl für Einfaltspinsel gehalten, dabei kennen sie sich auch recht gut aus. Autorität erhält man nicht, wie eine Aktentasche, zusammen mit seinem Posten. Man muss sie sich erarbeiten.

Wir müssen über die Verbrechen des Führers aller Völker» berichten, uns der Opfer erinnern, von denen die meisten aufrichtige Söhne des Volkes waren und dem Vaterland großen Nutzen bringen konnten. Wir müssen uns auch daran erinnern, dass man sie, bevor sie vernichtet wurden, auf grausame Weise betrogen hat. Sie waren aufrichtig der Ansicht, dass sie für eine helle Zukunft des Volkes kämpften. Doch es stellte sich heraus, dass ihre Gedanken und selbst ihre Köpfe nicht mehr waren, als kleine Schritte zur Selbstverherrlichung des «Führers».

Zum ersten Mal fühlte sich die Deutsche Irina Teller gleich nach dem Tod ihres Vaters im Heimatland unwohl. Aus irgendeinem Grund hatten sie sich daran erinnert, dass er österreichischer Herkunft und nach dem ersten Weltkrieg in Russland geblieben war — mit einem Wort – er war ein Spion. Die Tellers wurden als so genannte Volksfeinde aus ihrer Wohnung gejagt, die Mutter zog mit ihren fünf Kindern von einer Wohnung in die andere. Um nicht vor Hunger zusterben, verkaufte sie Kleidungsstücke.

1942 wurde die sechzehnjährige Irina in die Trudarmee einberufen. Dreihundert solcher wie mich, Mädchen deutscher Nationalität, holten sie ins Omsker Gebiet, — erzählt sie. — Meistens waren sie von kleinem Wuchs und hager. Man zwang sie 10 — 12 Stunden zu arbeiten. Wir mussten Waggons mit Holz beladen, zu sechst oder siebt hievten wir einen Baumstamm nach oben. Und im Herbst setzten sie uns in «Vieh-» Waggons und schickten uns nach Workuta.

Und wenn die Mädchen auch vorher schon den Hunger, die alle Kräfte überschreitende Arbeit und das hämische Gelächter der Wachen hatten ertragen müssen, so blickten sie jetzt jeden Tag dem Tod in die Augen – vor lauter Hunger, aber noch mehr wegen der schweren Arbeit und der eisigen Kälte. Heute ist Workuta — eine große und warme Stadt. Aber damals standen dort von Stacheldrahtzäunen umgebene Baracken und zahlreiche Holzpflöcke, welche die zukünftigen Baugruben für die Fundamente der Häuser kennzeichneten, die für die Zivilangestellten gebaut werden sollten. Wohin man auch schaut — überall ragen die Wachtürme der Wachen wie Fackeln aus dem Boden, wie die Stacheln eines Igels gab es ein Lager hinter dem anderen.

Offiziell galten die Arbeitsarmeen nicht als Lager, unterschieden sich jedoch in den Haftbedingungen nicht von ihnen. Ein Bretterzaun, drei Reihen Stacheldraht, Wachtürme mit Wachposten. Als Verpflegung gab es Suppe aus gefrorenen Rüben, der ein paar Gerstenkörner hinzugefügt waren. Brot — in Abhängigkeit von der Normerfüllung...

— Erstaunlich, — sagt unsere Gesprächspartnerin, — es überlebten hauptsächlich hagere Menschen von kleinem Wuchs. Ihnen reichten sogar nur 400 Gramm Brot.

Aus dem Omsker Gebiet brachten sie 300 Mädchen nach Workuta, alle zwischen 16 und 17 Jahren alt. Die Wachen und Kommandanten zwangen sie gemeinsam zu leben, wenn sie Widerstand leisteten wurden sie verprügelt. Mit einem Wort, die stalinistischen Lager unterschieden sich kaum von denen Hitlers.

—Dem ärgsten Feind wünschst du nicht derartige Qualen, — meint Irina Fjodorowna mit vergrämter Miene. — In der eigenen Heimat machten sie uns zu Aussätzigen. Es kam oft vor, dass wir uns zu einem Kreis zusammenfanden und gemeinsam weinten. Warum quälen sie uns? Weil wir als Deutsche geboren wurden? Das ist doch nicht unsere Schuld. Weil Hitler den Krieg entfacht hat? Dann gebt uns ein Gewehr, damit wir unser Vaterland verteidigen können. Warum wollte niemand glauben, dass Russland für uns heimatlicher Boden ist und sein Schmerz – auch unser. Manche Mädchen schrien mitunter: Schweinehunde, diese Russen! Und ich zeigte auf die benachbarte Lagerzone, in der politische Gefangenen einsaßen. Dort befanden sich ausschließlich Russen und der Leichenstapel war höher als die Wachtürme.

Leider waren damals viele Menschen der Ansicht, dass an all unserem Elend die Russen schuld sind, und das sind sie auch heute noch. Sie regieren schlecht, arbeiten schlecht, lassen die anderen Nationen nicht gut leben. Und wen beschuldigen die Russen, die durch dieselbe Hölle gingen und auch jetzt keineswegs besser leben und in mancherlei Hinsicht sogar noch viel schlechter als andere Nationalitäten?

Sich in den raffinierten Verflechtungen der nationalen Beziehungen zurechtfinden ist schwierig, das gelingt auch den Gelehrten nicht immer. Noch viel schwieriger war das für die Menschen der dreißiger und vierziger Jahre. Die Propaganda jener Jahre hinterließ eine tiefe Spur in ihrem Bewusstsein. Umso mehr als Stalin gleichzeitig Henker als auch Duckmäuser war. In dem Artikel «Die nationale Frage und der Leninismus» schrieb er beispielsweise: «Die Vernichtung des nationalen Jochs führte zu einer nationalen Wiedergeburt früher unterdrückter Nationen in unserem Lande, zu einem Anstieg ihrer nationalen Kultur, zur Festigung freundschaftlicher nationaler Beziehungen zwischen den Völkern unseres Landes und des Zustandekommens einer Zusammenarbeit zwischen ihnen für die Sache des sozialistischen Aufbaus». Wenn man seine Arbeit liest, kann man zu dem Schluss kommen, dass er für den Internationalismus, für Gleichberechtigung, Freiheit und Demokratie war. Sein ganzes Leben hat er nur «die Ketten des Imperialismus zerrissen» und die Arbeiter befreit. Und in Wirklichkeit? Was können die Kalmücken, Deutschen, Mescheten, Tschetschenen, Krim-Tataren über Demokratie und Internationalismus sagen? Und die heutigen Konflikte in Nagornij Karabach, Abchasien? Ihre Wurzeln reichen auch bis in die Zeit der freiwilligen Entscheidungen zurück. Stalin war für die Entwicklung der Sprache, der Kultur der Völker und Volksgruppen, aber die Repressalien stürzten in erster Linie auf die Schriftsteller, Poeten, Komponisten, Erzähler von Volksmärchen und Geistlichen herab.

Aber weshalb wird bei den kleinen Völkern bis heute der Name Stalins mit dem russischen Volk identifiziert? Wie behauptet wird, wurden die Russen ausgesiedelt, bewacht, vernichtet...
Einerseits befanden sich unter denen, die die Repressalien durchführten keineswegs nur Russen. Andererseits — musste man schon im Balachtinsker Bezirk von eben jenen Deutschen zahllose Zeugenaussagen hören, dass nach der Umsiedlung nach Sibirien gerade die eingeborene russische Bevölkerung den Umsiedlern beim Überleben half. Ungeachtet der Tatsache, dass im Westen ein grausamer Krieg gegen die Deutschen im Gange war, gab es bei den wenig lese- und rechtschreibkundigen russischen Sibirjaken noch genügend politische Kenntnisse, dass sie ihre Landsleute deutscher Nationalität nicht mit den faschistischen Angreifern verwechselten. Die ortsansässigen Russen teilten mit den eingetroffenen Deutschen ihr Brot, ihr Dach über dem Kopf und ihre warme Kleidung, und halfen ihnen im weiteren Verlauf sich einzuleben und sich nach und nach einen Haushalt anzuschaffen. Warum erinnert man sich immer seltener daran? Schließlich sollten diese vergangenen Taten eine besondere Wertschätzung erfahren, weil niemand der Ortsbevölkerung von oben vorschrieb Hilfe zu erweisen und niemand es abgesegnet hatte. Die Menschen taten es aus ihrer russischen Seele heraus — offenherzig, mitleidsvoll und freundlich.

Und es gibt da noch einen Moment. Wenn man von den heutigen Berechnungszahlen ausgeht, kamen in den Jahren der Verfolgungen im Lande 30 Millionen Menschen ums Leben, 25 Millionen von ihnen waren — Russen. Dabei handelte es sich um die Blüte der Nation. Durch die Repressalien verloren die Russen viel mehr, als die Menschen irgendeines anderen Landes, aber vielleicht, wenn man sie alle zusammen nimmt. Also liegt die Schuld nicht beim russischen Volk, sondern bei dem verbrecherischen Regime, dessen Name der Personenkult ist. Stalins Namen trugen Städte und Straßen aller Republiken. Feierliche Versammlungen in den Städten und Ortschaften wurden eröffnet von Hochrufen zu Ehren des «Führers und Lehrmeisters aller Zeiten und Völker». Wir haben ihn alle „großgepäppelt“, alle sollten dafür die Verantwortung übernehmen.

Wir haben nichts zu teilen. Doch aus irgendeinem Grund ist das Gespräch mit Irina Fjodorowna über das Land heute, die internationalen Beziehungen, nicht ganz erfolgreich. Meine Gesprächspartnerin ist offenkundig inkonsequent. Sie ist für die deutsche Autonomie, findet aber nichts Besonderes daran, dass sie selbst die deutsche Sprache vergessen hat. Sie verflucht Stalins Repressalien, ist aber der Ansicht, dass in erster Linie Hitler an der Aussiedlung der Wolgadeutschen die Schuld trägt.

Doch vielleicht lohnt es sich, sich Irina Fjodorownas eigenes Schicksal aufmerksamer zu betrachten? Zum ersten Mal heiratete sie in Workuta — einen Deutschen. Aber eine Familie kam nicht zustande. In Omsk begegnete sie einem Russen, mit ihm bekam sie vier Kinder, insgesamt hat sie sechs.

Jedes der Kinder hat sich die Nationalität zugeschrieben, die es wollte, — lacht sie. — Von den leiblichen Brüdern und Schwestern — sind einige Deutsche, andere Russen. Und was die Enkel machen werden — darum kümmere ich mich nicht. Schließlich ist die Familie jetzt international. Es gibt Usbeken, Mordwinen, ein Schwiegersohn ist Litauer. Und der Ehemann ist mehr Chakasse, obwohl er sich als Russe hat eintragen lassen.

Das sind sie also – die Realitäten des Lebens! Was und wie kann man in so einer Familie teilen? Und wozu auch? Man darf die Vergangenheit nicht vergessen, nicht ins Extrem verfallen. Um nicht neue Fehler zuzulassen, muss man auch sich selbst strenger fragen, akribisch sein eigenes Bewusstsein «verhören» — ob damit alles in Ordnung ist, ob sich nicht der Wurm der Voreingenommenheit dort eingenistet hat. Und immer daran denken, dass das Geheimnis des allgemeinen Wohlbefindens nicht in Uneinigkeiten und Streitereien lauert.

A.STATEINOW

„Dorf-Nachrichten“ (Balachta), 24. August 1989
Das Material wurde vom Balachtinsker Heimatkunde-Museum zur Verfügung gestellt.


Zum Seitenanfang