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Entlang der «Todesstrecke»

Anmerkungen eines Touristen

In der Kolumne «Unsere Gäste» präsentierte die Zeitung «Sapoljarnaja Prawda» am 11. Juli 1989 Oleg Wassiljewitsch Istomin, einen rastlos Reisenden aus Leningrad und alten Norilsker, der viele Jahre in der Mine «Komsomolskij» gearbeitet hatte. Es wurde berichtet, dass er in diesem Sommer hierhergekommen sei, um sich nach Norilsk und Igarka, wo zu dieser Zeit der 60. Jahrestag des Baubeginns der ersten Stadt im Jenissejsker Polargebiet gefeiert wurde, auch zum stalinistischen Bauprojekt ¹ 503 zu begeben — der sogenannten «Todesstrecke», die von Häftlingen auf der Strecke Salechard—Igarka—Norilsk verlegt worden war. Lesen Sie seine Notizen zu diesem Reiseweg.

Ich und meine Leningrader Reisefreunde Jurij Swerew und die Eheleute Pawel und Rosalia Bassow hatten Glück ïîâåçëî: es gelang uns, zum ersten Mal zu Fuß den schwer zugänglichen Abschnitt der «Todesstrecke» von Jermakowo bis nach Janow Stan zurückzulegen (das sind etwa 160 Kilometer).

Der Weg begann am Ufer des Jenissei in Jermakowo, wo man uns, aus Igarka kommend, mit dem Hubschrauber abgesetzt hatte. Damals eine große sibirische Siedlung, die bis zu 15 Tausend Einwohner zählte, sieht heute verlassen und menschenleer aus.

Während der Blütezeit des Baus der Bahnlinie Salechard—Igarka—Norilsk befanden sich in Jermakowo der Stab und die Verwaltung der Lager, welche die Arbeiten von der Jenissei-Seite aus koordinierte. Daran erinnern auch heute noch die in strenger Ordnung stehenden Baracken, in denen die Gefangenen lebten.
Wie man uns berichtete, waren alle Häftlinge in den Lagern und Arbeitsbrigaden vermischt untergebracht — sowohl Kriminelle, als auch politische Gefangene —, das heißt sie wurden zusammen gehalten (es kam selten vor, dass man separate Baracken für diejenigen antraf, die eine Strafe nach § 58 verbüßten).

Die Kolonnen, Männer und Frauen, befanden sich voneinander getrennt. Die Frauen mussten die gleichen Arbeiten verrichten, wie die Männer, — Schotter aufschütten, den Boden umgraben, ihn aufladen. Das Los bescherte ihnen noch mehr, als den Männern. Zur Zeit des Bauprojekts 503 (und es begann im Jahre 1949) waren nur noch wenige aus den Vorkriegsjahren übrig geblieben: manche waren verstorben, einige, die ihre zehn Jahre abgesessen hatten, waren in die Freiheit entlassen worden, andere hatten während des Krieges die Verschickung zur Strafkompanie an die Front erreichen können. Aber in rauen Mengen liefen diejenigen herum, welche die schlimme Kriegszeit in Lager gebracht hatte. Das Dekret von 1947 über die Verantwortlichkeit wegen Diebstahls, und die nächsten Opfer der politischen Kampagne.

Man brauchte gar keine Zeitung zu lesen, um von denen, die ins Lager geraten waren, zu erfahren, dass das antifaschistische Komitee zerschmettert war, dass gegen die Kosmopoliten gekämpft wurde, dass man Ärzte und Genetiker für Verbrecher hielt...

Die Bahnlinie wurde von zwei Seiten gebaut — von Salechard und vom Jenissei. Und während der Saison kam man um bis zu 100 Kilometer voran. Kräne und Gleisbaumaschinen gab es natürlich zur damaligen Zeit nicht, alle Arbeiten wurden per Hand ausgeführt. Nachdem sie Handschuhe aus Zeltstoff angezogen hatten, zogen die Häftlinge die Schienenstücke mit langen Eisenzangen zum Gleisbett und verlegten sie auf den Schwellen. Eine schwere und wenig effektive Arbeit.

Am Tag nach unserer Ankunft machten wir uns mit unseren Rucksäcken, die ein Gewicht von 30 kg erreicht hatten, auf den Weg und wanderten in südwestlicher Richtung entlang der Trasse. Seit mehr als dreißig Jahren herrscht hier nun Stille (im März 1953 beschloss man den Bau der Bahnlinie stillzulegen). Der Bahndamm war von dichtem Wald bewachsen. Überall wuchsen Lärchen, Birken, Büsche; der Wald hatte vom gesamten Landstreifen Besitz ergriffen, den man einst als Bahnlinie bezeichnet hatte. Selbst auf den zahlreichen Brücken drängten sich die Lärchen.

Irgendwo im Boden waren Schwellen zu sehen, dicke Nägel ragten heraus. Das Gehen war schwierig: man musste nicht nur links und rechts schauen, sondern auch vor seine eigenen Füße. Mitunter verloren sich die Konturen der Gleise, und wir blieben stehen, um ihren weiteren Verlauf zu suchen.

Als wir uns so den Weg durch das Dickicht bahnten, kamen wir plötzlich unerwartet auf eine Lichtung und stießen auf eine dort stehende alte Lokomotive vom Typ «Owjetschka» („Schäfchen: Anm. d. Übers.). Nachdem wir uns noch ein Stückchen weiter durchgeschlagen hatten, bemerkten wir das schiefstehende Gebäude des Eisenbahn-Depots. Das Ganze lief ab, wie in einem Stummfilm. Und da – ein Flügelsignal. Für wen?

Alle 8—10 Kilometer, mal links, mal rechts — halb verfallene Lagerbaracken. Eine ist besonders im Gedächtnis geblieben. Sie befand sich unweit des Wjamskij-Sees, etwa 45 Kilometer von Jermakowo entfernt. In gleichmäßigen Reihen stehen dort zwölf Baracken, umgeben von einem Stacheldrahtzaun. Irgendwo ist noch ein Wachturm erhalten geblieben. In der Mitte des Lagers, in einer großen Baracke, befand sich offenbar eine Kantine; darauf deuten die auf dem Boden liegenden Kochkessel hin.

Lange standen wir da, wie, wie erstarrt, und konnten kaum glauben, dass alles, was wir sahen, kein Traum, sondern Wirklichkeit war.

Nun sind es schon ein paar Tage, dass wir am Fluss Turuchan entlang wandern. Es gibt keinerlei Lebenszeichen. Doch dafür Mücken, Kriebelmücken und anderes Geschmeiß. Es ist furchtbar heiß, vor allem, wenn das Gesicht mit einem Insektenhut bedeckt ist. Der einzige Trost ist, dass es am Abend ein Lagerfeuer und ein Zelt geben wird, in dem man sich konzentrieren, seine Gedanken sammeln kann.

Wir fanden auch die ersten Pilze, kochten sie zum Abendessen und vervollständigten sie mit Nudelsuppe aus der Tüte. Gut gefiel uns auch der Tee aus im Wald gesammelten Kräutern.

So folgten wir – vier Leningrader - Tag für Tag der «Todesstrecke» am Polarkreis, entschlossen, mit unseren eigenen Füßen diese Weg zu gehen, welcher einen unheimlichen Meilenstein unserer Zeit darstellt.

Am zwölften Tag näherten wir uns Janow Stan, eine unlängst noch ziemlich große Siedlung, in der vorwiegend Selkupen lebten; es gab sogar einige Sowchosen. Heute wohnt dort nur noch eine einzige Familie — wie man sagt – die letzten Eingeborenen. Er heißt Kusaman, seine Frau Maria, eine erbliche Selkupin. Sie leben auf ihrem eigenen Grund und Boden, wo sie geboren wurden, Fischfang und Jagd betreiben. Sie haben auch Kinder, doch sie haben den Ort schon längst verlassen und wohnen in verschiedenen Städten.

So gehen unserer Wurzeln dahin, so verschwinden die Menschen. Denn diese kleine nördliche Volksgruppe — die Selkupen — zählt heute insgesamt nur noch etwa tausend Menschen, aber alle sind miteinander zerstritten.

Hier befindet sich auch eine schwer zugängliche Wetterstation. Der Meteorologe Pjotr Tereschtschenok übermittelt mit seiner Ehefrau Inna den Wetterbericht zum Festland. Einmal im Monat kommt ein Hubschrauber. Natürlich haben sie sich über uns gefreut, organisierten ein Bad, damit wir wenigstens die ganzen Mückenstiche sauberwaschen konnten.

Vieles war sehr beeindruckend. Die Strecke, auch wenn sie «tot» ist, erschüttert einen: denn sie gehört zu unserer Geschichte, die noch gar nicht so lange zurückliegt...

O. Istomin
Leningrad — Norilsk

„Polar-Wahrheit“, 29.08.1989


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