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Lager ist Lager, aber...

Sehr geehrte Redaktion!

Mehr als dreißig Jahre sind seit jener Zeit vergangen, als ich Norilsk verlassen habe, und bis heute erhalte ich die «Sapoljarnaja Prawda». Mein herzlicher Dank gilt Ihnen. So eine Aufmerksamkeit, so eine Erinnerung rührt einen zutiefst: ich bin am Leben, ich freue mich, leide an Dingen, an Menschen, an der Stimmungslage des mir zur Heimat gewordenen Norilsk. Das ist auch verständlich: ich habe fünfzehn Jahre der schönsten Zeit meines Lebens Norilsk geopfert – in den schwierigsten Jahren seiner Entwicklung [1941—1957).

Besonders einprägsam waren die letzten vier Jahre, als man mich zum Direktor des Kombinats ernannte und ich das Kombinat vollständig auf nicht zivile Arbeiter umstellen musste. Von dieser Periode wird fast überhaupt nicht gesprochen, und es wird auch nichts darüber geschrieben. Dabei war es doch eigentlich die schwierigste, härteste Zeit des Umbruchs, — die zweite Geburt des Kombinats mit einem Bruch der bisherigen Lebensweise, rechtlichen Wirren, unmenschlichen Anstrengungen, einer heldenhaften Jugend. Vor allen Dingen möchte ich der Jugend die Situation der damaligen Zeit lediglich vor Augen halten – mehr nicht.

Ungefähr die Hälfte des Kombinatspersonals — das waren zehntausend Gefangene: Bergleute, Schachtarbeiter, Bauarbeiter, zum Teil Techniker, Ingenieure, Wissenschaftler unterschiedlicher Berufsrichtungen und Qualifikationen. Und die zweite Hälfte — ebenfalls zehntausend — Hüttenarbeiter, Chemiker, Arbeiter der Aufbereitungsanlage, Energetiker, Bauarbeiter, Bergleute, Ingenieure, Wissenschaftler sowie ebenfalls hoch qualifizierte – Zivilangestellte. Dazu noch die Stadt — etwa 80 Tausend Einwohner mit ihren Diensten, ihrem Alltag, ihrem Lebensstil... Und all das stand in einer gegenseitigen Wechselbeziehung, und für alles, bis hin zu familiären Problemen, war die Kombinatsleitung verantwortlich.

Man muss anmerken, dass es von Anfang an, schon seit der Vorkriegszeit, zwischen Lagerleitern und den Chefs der Hauptproduktion Auseinandersetzungen gab. Sie machten sich sogar in der Führungsstruktur bemerkbar: die Leiter der Bau- und Bergbau-Abteilungen waren gleichzeitig auch die stellvertretenden Kombinatsleiter, während es bei der Metallhütte und der Aufbereitungsanlage überhaupt keine erste Person gab. Und das bedeutete eine Menge - die «Lagerniks» (Lagerinsassen; Anm. d. Übers.) hielten uns bis zu einem gewissen Grad nicht für ein vollwertiges Kontingent, weil sie über die Metallarbeiter nicht verfügen durften. Wenngleich sie als politische Abteilung alle Vorteile — Prämien, Auszeichnungen, Orden usw. — aufgrund der Endergebnisse der Metallhüttenwerker erhielten. Und natürlich: wie definierte und definiert sich eine Kombinatsperson? Durch die Metalle, die sie dem Land liefert.

Als ich 1954 das Kombinat übernahm, das aus dem System des MWD (Ministerium für innere Angelegenheiten; Anm. d. Übers.) in die Zuständigkeit des MZM (Ministerium für Buntmetalle; Anm. d. Übers.) übergegangen war, entstand ein Doppelmacht-Gefüge, denn die Häftlinge blieben dem MWD unterstellt, und die Kombinatsleitung konnte über sie nicht verfügen. Nach freiem Ermessen der Lagerleitung konnten sie zur Arbeit geführt werden oder auch nicht; sie durfte sich in die Personalaufstellung einmischen, und eine Abstimmung über sämtliche laufenden Arbeiten verlangen. Das ganze System des Ein-Mann-Managements wurde verletzt, ebenso wie die elementare Ordnung in der Lenkung und Verwaltung.

Das war die Folge der letzten abenteuerlichen Aktion Berijas. Als man ihn zum ersten Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrats ernannte und ihn damit dem MWD und MGB (Ministerium für Staatssicherheit; Anm. d. Übers.) unterstellte, machte er sich diesen Umstand zunutze und fügte die Entscheidung des Ministerrats über eine Massen- bzw. General-Amnestie von beinahe jedem Straftäter hinzu, ohne Statistik und ohne Überprüfung der Tatbestände. Von Tschita bis Moskau wurde die gesamte Eisenbahn-Heerschar demoralisiert. Auf den Bahnhofsplätzen der Städte setzten Raubüberfälle, Plünderungen, Gewalttätigkeiten und Hooliganismus ein. Die Tätigkeit der Strafverfolgungs-behörde wurde von Berijas Befehl lahmgelegt, keinerlei Maßnahmen zu ergreifen, außer Überzeugungskraft walten zu lassen und Agitation zu betreiben. Das politische, persönliche Ziel dieser Aktion war in primitiver Weise klar: all die verbrecherischen Aktionen zu rechtfertigen, zu beschönigen ... durch «Wohlwollen».

In Norilsk wirkte sie sich besonders schwer und tragisch aus. Während des Winters ließen sich tausende freigelassene Kriminelle in der Stadt nieder, und die Miliz erwies sich als völlig machtlos, der Anarchie Herr zu werden. Auch hier komme ich nicht umhin, mich mit Dankbarkeit und Ergriffenheit daran zu erinnern, welche große und entscheidende Rolle die kommunistische Jugend-Organisation in diesem Zeitraum spielte: tausende junger Menschen, vom Komsomol in Ordnungseinheiten und -wachen, griffen durch (dabei muss man hervorheben, dass die «Politischen» zuletzt freigelassen wurden, und nach langwierigen Verfahren in den Rehabilitationskommissionen wurde auch her Berijas Hand sichtbar).

Und im Frühling, mit der Eröffnung der Schifffahrtssaison, kam die angeworbene Jugend. Die unerfahrenen, romantisch gestimmten jungen Leute, die keine Vorstellung davon hatten, was Norilsk eigentlich mit all seinen Bedingungen bedeutet, stießen in erster Linie auf eine rabiate, tausende Köpfe zählende Menge, die vorwiegend aus Kriminellen bestand. Das alles sollte gemeistert, Arbeit organisiert, die Lagerbaracken umgestaltet und neu ausgerüstet werden. Man musste den Neuankömmlingen familiengerechte und noch im Bau befindliche Unterkünfte geben, was natürlich den Unmut und Proteste seitens der alten Norilsker hervorrief, die bereits seit Jahren auf Wohnungen und Zimmer warteten.

Die Ablösung des Personals nahm ungefähr eineinhalb Jahre in Anspruch. Viele, fuhren, nachdem sie die Ausstattungsbeihilfe erhalten und Norilsk in seiner damaligen Hässlichkeit gesehen hatten, wieder zurück. Aber die stärksten, tatkräftigsten blieben: sie machten das Hauptpersonal des Kombinats aus (meiner Meinung nach lebt auch heute noch ein Teil von ihnen in Norilsk). Etwa 100000 wurden ausgewechselt, bis das Unternehmen vollständig besetzt war. Doch der Plan musste trotz allem erfüllt werden. Die Gesamtzahle der Arbeiter und Angestellten reduzierte sich um fünfundzwanzig Prozent, doch der Plan für das Jahr 1956 wurde bei allen Kennziffern umgesetzt, beim Wohnungswesen — wurde er sogar übererfüllt (nach damaligen Normativen erhöhte sich der Plan jährlich um 10 Prozent). Als Musterbeispiel kam das Kombinat an die Ehrentafel der Region Krasnojarsk — zum ersten Mal in den vergangenen zehn Jahren. Dabei hatten die Neuankömmlinge anfangs in beruflicher Hinsicht hinter denen zurückgestanden, die sie ersetzt hatten. Das war eine Art «Perestroika» (Umstrukturierung; Anm. d. Übers.), nur unter unvergleichbar schwierigeren Bedingungen. Und wenn wir damals Bergbauprobleme durch Streiks gelöst hätten, dann könnten die heutigen Bergleute nirgends streiken...

Ich kann nicht verschweigen, dass das Ministerium für Buntmetalle Norilsk nicht nur keinerlei Hilfe erwies, sondern auf das Norilsker Kombinat wie auf ein Stiefkind herabblickte, indem man versuchte sich von der Entsendung verantwortungsloser und ungebildeter Kommissionen zu trennen. Aber das ist eine andere Geschichte. Von mir kann ich nur eines erzählen: als Kommunist und Manager habe ich alles getan, was in meinen Kräften stand und irgendwie auch darüber hinaus ging; ich wurde wegen völliger Erschöpfung des Nervensystems als Invalide der zweiten Gruppe anerkannt. Mein Gewissen ist rein. Das Kombinat wurde mit Personal vervollständigt, mit einer Erhöhung des technischen Niveaus und einem gut etablierten Management-System.

Ich möchte noch etwas anderes sagen. In der Zeitung, unter der Rubrik «Wurzeln» werden oft Artikel mit Erinnerungen gedruckt. Darüber kann man schreiben und schreiben. Es ist der Nachhall der Geschichte aus den Mündern derer, die vieles in ihr miterlebt und durchgestanden haben. Aber was mich irritiert und mitunter sogar meinen Protest hervorruft ist das bisweilen irgendwie unverantwortliche und verzerrte Herauspressen der Schrecken und des Elends jener schweren Zeit. So steht beispielsweise in einem Artikel von B. Tschernikowa unter der Überschrift «Kann man denn etwa ohne Herz leben?», dass der Autor sich daran erinnert, dass 1943 nach Stalingrad Kriegsgefangene nach Norilsk gebracht wurden, vorwiegend SS-Leute (ich hebe das hervor — À. L.), die in ihren Soldatenmäntel, aber manchmal auch ohne, in den grimmigen Frost hinausgeführt wurden, um den Schnee von der Straße zu räumen, und «wenn die Tage sich ihrem Ende zuneigten», begannen «Schlitten-Züge die Straße entlang zu fahren – mit 10-15... Die Leichen wurden im Schlitten aufgestapelt und zum Fuße des Schmidticha abtransportiert».

Das war nicht so. Wir lebten auch zu der damaligen Zeit in jenen Straßen und räumten selber den Schnee, und es gab überhaupt keine Leichen, und in den Lagern gab es auch keine SS-Leute. Wozu über so einen Alptraum schreiben? Überhaupt ruft der Artikel einen merkwürdigen Eindruck hervor. Hier wird auch A.A. Pankjukow verleumdet, der angeblich daran schuld sein soll, sein Vater seinetwegen einen Jungen mit dem Gürtel auspeitschte. Und was man sich da alles ausdenkt! Und das mit den SS-Leuten ist vielleicht ganz bewusst so gemacht: M.S. Gorbatschow wollte zu dem Zeitpunkt gerade in die Bundesrepublik Deutschland reisen.

Ich könnte zu diesem Thema zahlreiche Beispiele anführen. Da schreibt zum Beispiel der von mir sehr verehrte P. Tschetwerikow, dass er Zeuge dessen geworden sei, wie Sawenjagin den Rohrverlegern jede Stunde einen Becher Schnaps vorsetzte, damit angeblich die Arbeit oben nicht so schwer fiele; er schreibt auch, dass eine Mauer der im Bau befindlichen Aufbereitungsanlage einstürzte und Swerew Reuter einfach nur die Anweisung gab, er soll diese innerhalb von drei Tagen neu errichten. Und da hätte weder mir, dem ehemaligen Leiter der im Bau befindlichen Aufbereitungsanlage, noch Reuter ein Swerew oder ein Sawenjagin geholfen — wenn so etwas passiert wäre.

Ebenso kann ich nicht begreifen, weshalb es in den Artikeln eine blasphemische Assoziation derer, die in den Jahren der stalinistischen Repressionen tatsächlich zu leiden hatten, in ein und derselben Kategorie mit echten Kriminellen, Banditen, Wlassow-, Banderow-Anhängern und ähnlichen gibt.

Ich muss sagen, dass in den Norilsker Lagern die absolute Mehrheit in die Kategorie der Verbrecher einzuordnen war. Das lässt sich leicht anhand der Archive überprüfen, aber wenn man nach einige Artikeln urteilt, dann entsteht der Eindruck, dass es in den Lagern ausschließlich unschuldige Repressionsopfer gab. Leider wir diese Teilung auch in den Artikeln ehemaliger Repressionsopfer hinter der allgemeinen Kränkung vertuscht. Ich wiederhole — das ist Blasphemie. Ich kann nicht vergessen, wie 1953 rabiate Bandera-Leute und Wlassow-Anhänger zwanzig junge Männer abschlachteten, die gerade erst als noch unerfahrene Soldaten zu den Wachmannschaften mobilisiert worden waren, schwarze Flaggen aufhängten und ihre Freilassung forderten. Das war eine organisierte Bande professioneller Mörder und Feinde. Und ausgerechnet die sollte man den unschuldigen Repressionsopfern zuordnen?

Wenn es in einigen Artikeln heißt, dass Norilsk auf den Knochen von Gefangenen errichtet wurde, so ist das – eine Lüge. Wo waren wir denn, die zehntausenden von Zivilarbeitern? Immerhin waren wir in der Mehrheit. Norilsk war für alle schwer und mühselig. Auch auf den Norilsker Friedhöfen ruhen freie Mitarbeiter, und unter ihnen befinden sich Parteimitglieder und Komsomolzen, und es sind nicht weniger, als die Zahl der Häftlinge. Hunderte von ihnen kenne ich persönlich.

Wenn man die Geschichte von Norilsk wirklich unvoreingenommen schreiben will, dann kann man nur eine einzige unausweichliche, historische Schlussfolgerung ziehen: der Aufbau der Stadt und des Kombinats unter arktischen Bedingungen, in der Unwegsamkeit des Geländes, den mörderischen klimatischen Verhältnissen, der Entlegenheit und Isolierung von den kulturellen Zentren, erforderten eine ungeheure Kraftanstrengung, Anspannung und Heldentum. Und dementsprechend kommt es auch zu – Verlusten, Fehlern und Gesetzlosigkeiten, unabhängig davon, wer du bist und was du bist. Entweder – oder, entweder bauen und entwickeln - oder auf bessere Zeiten warten. Die Geschichte ließ ihnen keine Wahl. Eines kann ich bestätigen: ohne den Aufbau von Norilsk, ohne die Beschaffung von Metall für die Front — wären die Verluste im Krieg um Millionen höher gewesen. Rüstung war wichtig gewesen (unsere Panzer waren die qualitativ besten im Vergleich zu denen, welche die Faschisten besaßen, ebenso wie Ausrüstung, Flugzeuge und Waffen). Das müssen die Norilsker wissen, sie sollen stolz darauf sein, sich erinnern, dass dank ihrer Arbeit Millionen Leben bewahrt wurden. Nicht umsonst wurde Norilsk jedes Jahr das Banner des Staatlichen Verteidigungskomitees verliehen, das ihnen für immer erhalten bleiben wird. Und auch darüber Buch zu führen — wer am meisten getan hat — ist reine Blasphemie. An der Spitze standen die Parteiorganisation, der Komsomol, die Arbeiterklasse von Norilsk. Sie führten und trugen die volle Verantwortung, eine große, eine größere als irgendein anderer.

Die Arbeits- und Ernährungsbedingungen der freien Arbeiter und der Gefangenen, besonders während des Krieges, waren gleich. Mir sind in dieser Hinsicht keine Vorteile bekannt, mehr noch, im Winter, bei Temperaturen unter -30°C (und zudem bei einer Windgeschwindigkeit von 1 Meter/Sekunde bei 20) wurden die Häftlinge aus der Schicht weggebracht, aber die Freiwilligen blieben, denn sonst hätten die Arbeiten im Tagebau eingestellt werden müssen.

Das Lager ist und bleibt trotzdem ein Lager. Aber man muss auch verstehen, dass das Norilsker Lager sich, beispielsweise vom Bamstroi, was Haftordnung, Arbeits-bedingungen und kulturelle Dienstleistungen betrifft, zum Besseren hin unterscheidet. Und dafür muss man A.P. Sawenjagin großen Dank aussprechen.

Aleksej Loginow

Die Redaktion, die bei weitem nicht mit allem einiggeht, was Alexej Borissowitsch schreibt, weil er an gegensätzlichen Positionen festhält, ist dennoch der Ansicht, dass es erforderlich ist, ihm die Möglichkeit einzuräumen, seine Meinung und seine Einstellung zu den Publikationen in der Rubrik „Wurzeln“ darzulegen.

Wir hoffen, dass A.B. Loginows Notizen die Aufmerksamkeit sowohl jener auf sich lenken, die seine Ansicht teilen, als auch derer, welche die Dinge anders sehen.

„Sapoljarnaja Prawda“, 12.09.1989


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