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Memorial ein Jahr später

 (eine Betrachtung von innen)

Kürzlich sagte jemand auf einem formellen Treffen der "Inoffiziellen" indem er auf mich zeigte: "Da, der Kamerad von "Pamjati" hat ganz richtig bemerkt..."

Das war verletzend. Es war nicht einmal so sehr verletzend, daß man uns ausgerechnet mit "Pamjati" verwechselte, mit denen wir nicht das Geringste zu tun haben und auch nichts zu tun haben wollen. Verletzend war vielmehr die Tatsache, daß man uns ganz allgemein mit irgend jemandem verwechselte.

Es geht darum, daß ein Mitglied der Gesellschaft "Memorial", oder wie wir in unserem Jargon sagen, ein "Memorialist" ein ganz besonderes (aber nicht abgesondertes!) Leben führt. In seiner gesamten Freizeit bewegen sich seine Gedanken um - Gefängnisse, die undefinierbare wässrige Suppe, die es dort zu essen gab, Verbannungen, Denunzianten und andere wenig angenehme Dinge.

Ein Leben ohne "Memorial" ist für ihn völlig undenkbar. Es ist der Fall eines "Memorialisten" bekannt, der mit seiner Frau ins Kino ging, in den Film "Der Einzel-gänger", und beim Anblick von Jean-Paul Belmondo, als dieser im wahrsten Sinne des Wortes eine Aussage aus dem Verdächtigen herausschüttelte, fast automatisch anfing eine Karteikarte in der sogenannten "Henker-Kartei" auszufüllen: "Ungesetzliche Methoden der Untersuchungsfüh-rung. Paris. Siebziger Jahre...."

Wenn der "Memorialist" sich mit ehemaligen Repressionsopfern (im memorialischen Jargon - "Häftling" oder "Alteinsitzer") unterhält, dann ist die Rede wie unter Gleichen: er weiß genau so gut wie die Insassen, daß es dem einen vorherbestimmt war, neben einem Eimer mit Exkrementen zu schlafen, dem anderen unter einer Pritsche und dem nächsten "in der Mitte"; wie hoch die zustehende Brotration war; woraus sie eigentlich die undefinierbare Wassersuppe in diesem oder jenem Lager zusammengekocht haben; und so weiter, bis zu dem Punkt, wie die Frauen die ihnen eigenen Probleme lösten, wenn ihnen am Tage nur zwei Krüge Wasser zustanden: willst Du trinken oder willst Du Dich waschen. Der "Memorialer" findet sich gut in den einzelnen Punkten des 58er Statuts, den Erlassen des Präsidiums des Obersten Sowjets sowie den Beschlüssen des Zentralkomitees zurecht.

Bei den "Memorialisten" entstand sogar eine ganz bestimmte Art von Humor, zum großen Teil geschöpft aus der Lager-Folklore; nach Meinung Außenstehender ist dieser Humor zu finster, aber genau das ist eben die Eigenart der Gesellschaft.

"Memorial" - das ist kein halbamtliches Verwaltungsbüro, sondern im wahrsten Sinne des Wortes ein zwangloses Kollektiv von Freunden und Gleichgesinnten. Ein Kollektiv, in dem Menschen ohne Zwang arbeiten, wo der Entzug von Aufgaben die schlimmste Strafe ist, die auf jene  Anwendung findet, denen man nicht vertraut, und für jene, die "Memorial" als Mittel sehen, um eine Dividende zu verdienen.

"Memorial" verwendet den Hauptteil seiner Kraft, Zeit und Sorge dafür, Menschen zu helfen.

Deswegen ist der erste Gedanke, wenn Du auf Leute stößt, die "Memorial" nicht kennen: wie ist das möglich? Der zweite Gedanke: wir arbeiten nicht gut......

Aber man kann nicht sagen, daß wir schlecht arbeiten. Zum Beispiel: vor einem Jahr haben wir erklärt, daß wir JEDES Repressionsopfer namentlich ins Gedächtnis rufen werden, und in unserer Kartothek befinden sich bereits mehr als 4000 Menschen.

Natürlich, das macht nicht einmal ein Zehntel, eher ein Hundertstel, aber vielleicht erst ein Tausendstel der Opfer in der Region Krasnojarsk aus, aber wir müssen berücksichtigen, daß hinter jedem Familiennamen Fahrten, Nachforschungen, Briefe stehen, und daß einige Schicksale praktisch vollständig rekonstruiert wurden. Wir müssen berücksichtigen, daß wir dies in unserer Freizeit tun, außerhalb der regulären beruflichen Arbeit, ohne geeignete Räumlichkeiten und Materialgrund-lagen. Ich finde, dann ist das wirklich nicht so schlecht!

Mitteilungen, Erinnerungen, Dokumente, Fotografien nehmen bereits tausende von Seiten ein. Man muß sie finden, bearbeiten, abschreiben, kopieren, Verzeichnisse anlegen, Namen und Fakten in Karteikarten eintragen.

Und unsere "Alteinsitzer"? Zuerst - das Sichbekanntmachen, anschließend die Befragung, und dann - mußt du telefonieren, nach dem gesundheitlichen Befinden fragen, dich auf den Weg machen. Dem einen hilft man Papiere für die Rehabilitierung zu schreiben, den nächsten befragt man nach dem Schicksal seiner Eltern und mit wieder einem anderen unterhält man sich lediglich ein wenig.

Und die baltischen und deutschen Sektionen, die aus Repressionsopfern bestehen?

Und die sogenannte "verschiedenartigste" Arbeit? Nehmen wir, zum Beispiel, die Arbeiten vom August 1989:

1. Aus Moskau rief Jekaterina Iwanowna Muranowa an: sie hatte Antwort vom Krasnojarsker UWD erhalten, daß ihr durch Repressionen verfolgter Vater auf dem Torgaminsker Friedhof begraben ist, die Nummer des Grabes ist nicht bekannt.

Sie bittet darum, das Grab ausfindig zu machen, damit man sie, wenn sie nach Krasnojarsk kommt, dorthin bringen kann. Man ging hin und sah sich alles an. Der Friedhof befindet sich in einem schrecklichen Zustand: es gibt dort nicht nur keine Grabnummern mehr, sondern auch keine Grabsteine - und einen Wärter ebenfalls nicht. Man bestimmte mit ziemlicher Genauigkeit innerhalb einiger Dutzend Meter ein Quadrat, in dem sich das Grab befinden muß. Jetzt warten wir auf Jekaterina Iwanowa, um es ihr zu zeigen.

2. Oleg Borowych aus Uschur wußte, daß sein Großvater in einem Lager an der Station Katsch einsaß. Er fragt: gibt es überlebende Repressionsopfer, die auch dort gefangen waren? Man sah die Kartothek durch, fand einen: freilich, der saß nach dem Krieg dort ein, während Olegs Großvater Mitte der vierziger Jahre starb, aber immerhin........

3. Im "Krasnojarsker Komsomol" tauchte ein Artikel auf, daß man in den Verfolgungsjahren in einem Dorf 87 Menschen ergriffen hatte. Man muß den Autor des Artikels finden, die Nachnamen festhalten, Eintragungen in die Kartothek vornehmen.

4. Ein ehemaliges Repressionsopfer, Nina Grigorjewna Kulinitsch, wandte sich an uns: der Neffe versucht, sie aus der Wohnung auszuweisen, hat das Telefon auf seinen Namen eintragen lassen, welches eigentlich ihrem Mann als Kriegsveteran zugeteilt worden war, ist jeden Tag betrunken und stößt Bedrohungen aus.

Man ging hin: im Zimmer war ein Durcheinander, die Zimmertür war herausgehoben, das Telefon gesperrt. Man ging zum Regierungsbevollmächtigten, zum GTS, zum Bezirksgericht, zur Justizabteilung, zum Rat der Veteranen, beauftragte Juristen aus der Vereinigung "Rechtsweg". Irgendetwas begann in Bewegung zu geraten, aber bis zum Ende ist es noch ein weiter Weg. Das Problem wird sich erst dann lösen, wenn man ihm eine separate Wohnung gibt....

5. In Stepnaja Badscha gibt es einen litauischen Friedhof. Wo liegt sein Ursprung? Gibt es eine Beziehung zu den Deportationen von Litauern nach Sibirien im Jahre 1941? Man muß hinfahren, Erkundigungen einholen, in Erfahrung bringen.

... und so weiter und so fort. August, September, Oktober und immer weiter im Kalender. Nach der Arbeit, am Wochenende, im Urlaub. Jeden Tag 3 - 4 Stunden.

Nein, es gab viel Arbeit. Aber die Arbeit geht "schwarz" vor sich, leise, unsichtbar.

Auf der einen Seite ist das gut: eine derartig konkrete Arbeit ist im großen und ganzen notwendig. Andererseits - wir sind doch eine Gesellschaft zur GESCHICHTLICHEN AUFKLÄRUNG. Unser Hauptziel - zur Destalinisierung unseres Staates beitragen, und das heißt auf das Bewußtsein der Menschen einwirken. Es ist doch so, daß, wenn du aus dem Gefängnis heraus willst, du zuerst einmal begreifen mußt, daß du dich darin befindest. Niemals werde ich eine Frau vergessen, deren Vater man 1938 erschossen hatte, die als Tochter, gemeinsam mit der Mutter, einige Jahre im Gefängnis saß, die ein Leben führte, in dem es keine Wohnung gab, ein Leben ohne Familie, praktisch in elender Armut - und die sich nun eine "starke Hand" wünscht, welche sie mit Waschpulver versorgt, mit Zucker und Tee. Mit Seife vielleicht auch, überzeugte ich sie, aber einseifen, das wird nichts: die Gedanken fliegen davon! Vergeblich. Und wieviele gibt es gerade von jenen, die nach einer neuen Führung und der alten Ordnung lechzen... Das bedeutet, wir haben nicht in ausreichendem Maße von den Zeiten "der starken Hand" erzählt, das bedeutet, wir haben doch schlecht gearbeitet! Ja, es gab eine ganze Menge Vorlesungen von uns, Treffen, es gab Ausstellungen und Artikel, es existiert eine Rubrik im Almanach "Jenissei", es gab Fernsehsendungen, aber kaum Massenaktionen: wir haben kein Meeting zum 50. Jahrestag des Molotow-Ribbentrop-Paktes am 23. August organisiert, wir haben nicht während des Kongresses der Volksdeputierten unsere Position aufgezeigt (und Vieles hat uns dort unmittelbar berührt). Freilich , anläßlich des 40. Jahrestages der Ereignisse in Tbilissi standen wir mit Kerzen auf dem Platz der Revolution. Freilich, am 14. Juni, am Jahrestag der Deportationen aus dem Baltikum, organisierten wir das feierliche Herablassen von Kränzen in den Jenissei. Freilich, wir sammeln Unterschriften zum "Dekret über die Macht" von A. D. Sacharow. (A. D. Sacharow ist UNSER Deputierter: er ist Vorsitzender des Gesellschaftsrates von "Memorial"). Aber Vieles wurde versäumt, nicht erreicht, auf Vieles ist man nicht gekommen. Für jeden Fehlschlag gehen wir mit uns selbst ins Gericht: wir legen vor niemandem Rechenschaft ab. Deswegen urteilen wir streng. Wenn die stalinistische Zeit wiederkehrt, dann sind auch wir daran schuld.

Bislang gelingt uns der Kontakt mit jungen Leuten auch noch nicht:

die "Memorialisten" sind im wesentlichen 30 oder älter.Dabei bietet "Memorial" für Geschichtslehrer, ebenso wie für Studenten der historischen Fakultät, ein breitgefächertes Feld an Tätigkeiten. Da ist, sagen wir, in dem Dorf Uspjenka, im Bezirk Rybinsk, der Lehrer Feofan Michailowitsch Popkow, und seine Schüler stellen eine Liste mit Repressionsopfern zusammen, alle Nachbarn aus dem gleichen Dorf. Prima Jungs! Ich glaube es macht für Kinder einen Unterschied, ob sie in der Zeitung lesen, daß während der Kollektivierung soundsoviele Millionen Bauern (eine Million weniger, eine Million mehr) ausgerottet wurden, oder ob sie der Erzählung eines ehemaligen "Entkulakisierten" zuhören, dem lange bekannten Großvater Mischa, und mit dem Herzen fühlen, daß dies nicht einfach unpersönliche Millionen waren, sondern Millionen gerade so wie jener Großvater Mischa. Und warum sollte man solche Listen nicht in jedem Dorf aufstellen? Und warum könnte man nicht eben DIESE Namen in einen Stein meißeln, und nicht nur die Familiennamen von Kriegs-opfern? "Memorial" verspricht Unterstützung!

Es existiert noch eine Frage für uns: bezüglich des Verhältnisses zu den Machtorganen. Die Mitglieder von "Memorial" sind Mitglied im Koordinationsrat beim Zentralen Kreiskomitee der KPSS, wir haben auch Beziehungen zu den Hilfskommissionen der Repressionsopfer beim Kreisdeputiertenrat, aber wir sind dort bisher noch nicht vertreten, obwohl bereits ausreichend Gesuche bei höheren Instanzen vorlagen, und auch O.S. Schenin war auf dem bekannten Treffen mit den "Inoffiziellen" der Meinung, daß wir in dieser Kommission vertreten sein sollten. Und doch können wir einige Fragen nicht selbst klären.

Nun gut, sollen KGB und MWD doch so tun, als ob sie nicht wüßten, wo die Erschossenen von dreißig Jahren begraben sind: wir schreiben keine Gesuche, sondern nehmen einfach die Schaufeln in die Hand und suchen selbst.

Und es verging ein halbes Jahr seit "Memorial" beim Stadt-Exekutiv-Komitee eine Liste von 20 ehemaligen Repressionsopfern einreichte, die dringend einer Entscheidung über ihre sozialen Lebensprobleme bedürfen. Einer von ihnen ist inzwischen schon verstorben, und vom Stadt-Exekutiv-Komitee hört man keinen Ton.

Gemeinsam mit dem Zentralen Bezirkskomitee der KPSS haben wir beim Kreis-komitee konkrete Vorschläge eingereicht: die Zuteilung von Sonderleistungen an ehemalige Repressionsopfer, analog den Leistungen für Kriegsteilnehmer, das Zur-verfügungstellen von Räumlichkeiten für die Arbeit von "Memorial", das Einrichten einer Rubrik "Memorial" in der Kreis-Zeitung und die Veröffentlichung von Listen der Repressionsopfer aus dem Gebiet Krasnojarsk. Wir warten auf Antwort. Und während bis wir bei "Memorial" eine Gesellschaft der Repressionsopfer schaffen, bringen wir die Kontakte zum Stadtrat der Veteranen in Gang. Die Probleme der ehemaligen Repressionsopfer müssen dringend gelöst werden: in vielen Städten sind sie rechtlich bereits mit den Kriegsveteranen gleichgestellt, erhalten eine Unterstützung. Man darf nur nicht zu spät kommen!

Ja, "Memorial" ist schon soweit gereift, daß es sich nicht nur mit vergangenen Tagen beschäftigt. "Memorial" - das ist eine BEWEGUNG, gerichtet auf die Destalinisierung unserer Gesellschaft. Der gegenwärtigen Gesellschaft. Daher machen wir jetzt, ohne das Studium der Vergangenheit hinter uns zu lassen, - eine Kehrtwendung zur Gegenwart. Ohne die historische Arbeit liegen zu lassen - machen wir uns an die gesellschaftliche Arbeit.

Innere Betrachtung im Auftrag der "Memorialisten" von Alexej Babij
Veröffentlicht: "Krasnojarsker Komsomoljez", Alexej Babij 1989


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