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An diesen Gräbern gibt es keine weinenden Witwen

Je weiter jene finstere Zeit in die Ferne rückt, um so schärfer stellt sich die quälende Frage — wo sich die namenlosen Gräber befinden, in denen die Überreste von hunderttausenden, Millionen unserer Mitbürger ruhen, deren Leben durch das System des Stalinismus zerfetzt wurde.

Die zu neun Gramm Blei Verurteilten wurden möglichst an Ort und Stelle vernichtet, ohne das Urteil großartig hinauszuzögern. Und die nächsten Opfer warteten bereits in der Schlange...

Es gab eine geplante Zuteilung für die Anzahl der «Volksfeinde» für Städte und Bezirke, Dörfer und Kolchosen. Bei Nichterfüllung der Vorstellungen des Urhebers des Konzepts «Verschärfung des Klassenkampfes» drohte den Vollstreckern selber der Tod.

Derartige Säuberungen wurden auch innerhalb der Mitarbeiter des NKWD praktiziert. Daher versuchten die Henker unfreiwillig und überzeugend das Vertrauen zu rechtfertigen. Keine einzige Ortschaft, keine Stadt entging dem Mahlstein des Genozids. Eine Ausnahme bildete auch Atschinsk mit seinen umliegenden Bezirken nicht.

Tatjana Stepanowa Korenewa, einst Häftling im Atschinsker Gefängnis, reinigte nachts, zusammen mit anderen Verurteilten, die Zellen im Keller, wo weitere Urteile vollstreckt wurden. Hier wurde 1937 auch ihr Vater erschossen.

Der inzwischen verstorbene Rjasanow, der als Kindergarten-Wart im Dorf Malaja Iwanowka tätig war, erinnerte sich, wie er 1937—38 Leichen aus dem NKWD-Gebäude in den Bereich der Minen und Schluchten nahe Atschinsk transportierte.

Die Zeitung «Krasnojarsker Arbeiter» hat bereits über einen der vermuteten Begräbnisstätten von Repressionsopfern im Gebiet des Atschinsker Flugplatzes berichtet. Und wir möchten den Beweis dafür erbringen, dass es ähnliche Bestattungsorte auch in anderen Teilen der Stadt Atschinsk und ihrer Umgebung gab. Diese Informationen wurden von der städtischen Gesellschaft «Memorial» auf Basis der Zeugenaussagen von Bürgern gesammelt.

Der Frontkämpfer und Ordensträger Merdejew, der vom ersten bis zum letzten Tag den Krieg mitgemacht und nicht wenig Blut und Tod gesehen hat, kann nicht gleichgültig darüber sprechen, was sich 1937 in Atschinsk ereignete.

— Jeden Tag zwangen Mitarbeiter des NKWD diejenigen, die Fuhrwerke und Pferde besaßen, Erde, Stallmist und auch einfach Abfälle in den Bereich der heutigen Spielwaren-Fabrik zu bringen. Dort, auf der Rückseite der heutigen Werkshalle, fanden hunderte Begrabene ihr Ende. Die Henker schafften es nicht rechtzeitig, ihre Opfer in der Nacht zu bestatten, deswegen zwangen sie die Bürger, diese Arbeit am Tage zu vollenden.

Merdejew hat selber die aus dem Sand herausschauenden Hände und Köpfe der Getöteten gesehen...

Nach Berichten der Alteingesessenen, wurden diejenigen, für die man nicht mehr genügend Kugeln zur Verfügung hatte, um sie vollständig zu töten, mit einem Axthieb oder einem anderen schweren Werkzeug erschlagen. So eifrig waren einige ausgesprochen emsige Urteilsvollstrecker bei der Sache.

Gegenüber der Spielwaren-Fabrik, bei der Tankstelle, machte sich 1980 die damalige UMM N° 1 des Straßenbau- und Reparatur-Reviers für den «Personen-Transport» an den Bau von Garagen. Man stellte eine Brigade von «Nebenverdienstlern» ein.
Baugruben ausheben, unter dem Fundament Konstruktionen zur Montage der Pfähle des Gebäudegerüsts aufbauen — das sollten Bagger übernehmen. Zum Glück hatten sie ihre eigenen Mechanismen.

Einer der Bauleiter, Leonid Makarowitsch Kusnezow, berichtet.

—Der Bagger senkte sich etwa einen Meter tief in den Boden hinein, als aus der Schaufel plötzlich, zusammen mit dem Sand, mehrere Schädel und andere Knochen auf die frische Aufschüttung gekippt wurden. Insgesamt zählten wir sieben Schädel, in deren Hinterkopf-Bereich sich Löcher befanden. Wären diese Öffnungen in den Knochen nicht gewesen, dann hätte man beim Schütteln im Innern ein Rasseln vernehmen können. Eine der Kugeln, die an einer Seite etwas abgeflacht war, nahm ich mit. Man verhielt sich gegenüber dem Fund sehr wachsam, als ob man vor etwas Angst hätte», — meint Leonid Makarowitsch nachdenklich.

—Oder sie waren selber solche, — mischt sich Sergej Lapschin in die Unterhaltung ein, der ebenfalls Zeuge jener Ereignisse war. — Ganz besonders gut kann ich mich an die Überreste einer Frauen-Handtasche erinnern. Sechs oder sieben Fächer zählte ich darin.

— Und ich als Händlerin, — sagt Sergejs Frau, — habe mich über die Sohlen der Hausschuhe gewundert. Solide gearbeitet. Wahrscheinlich gehörte sie zur Intelligenz...?

— Natürlich haben wir die Miliz gerufen, — sagt Kusnezow. — Aber die eingetroffenen Behördenvertreter befahlen alles zu vergraben und das nicht weiter auszubreiten.

Dasselbe wurde von Mitarbeitern des MWD und KGB vorgeschlagen, ebenso wie von den städtischen Behörden, als im Jahre 1976 an der Stelle der erweiterten Landebahn des Stadt-Flugplatzes ähnliche Begräbnisstätten entdeckt wurden. Das Urteil — «ehemalige Koltschakow-Leute». Aber wieso fand man dann in den Grabstellen Machorka-Tabak von 1937 und Streichhölzer aus dem Jahr 1935?

Irgendetwas passte in der Version über die Opfer der Koltschak-Zeit nicht zusammen. Und selbst wenn wir das annehmen, so sind es trotzdem unsere sowjetischen Bürger, die von Besessenen vernichtet wurden, von anderen Besessenen.

Also, es ist zuverlässig bekannt, dass in den Jahren 1937—38 in Atschinsk ein Fließband zur Vernichtung von Menschen in Betrieb war. Natürlich begrub man sie hier, in der Stadt und in der Umgebung. Der Kreis möglicher Begräbnisorte ist eingegrenzt und äußerst konkret. Die Geschichte wird es uns nicht verzeihen, wenn die Erschossenen nicht in einer menschenwürdigen Art und Weise bestattet werden.

An der Stelle der Massengräber sollen Gedenksteine und -Tafeln stehen. Mögen sie auch bescheiden sein, genau so bescheiden, wie ihre Leben, aufrichtig und einfach. Nicht-Bewusstsein kann uns zu einer Wiederholung der schwarzen Vergangenheit führen.

An der Begräbnisstelle sollen frische Blumen liegen. Die Nachkommen werden zur Asche der Erschlagenen beten.

S. PESTEREW,
Vorstandsmitglied der Gesellschaft «Memorial»,
L. ORLOWSKIJ, freier Korrespondent beim «Krasnojarsker Eisenbahner».
«Krasnojarsker Eisenbahner», 27.01.1990


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