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Der Tag des Gedenkens

Nach Materialien der Wochenzeitung «Argumente und Fakten», betrug die Gesamtzahl der Verluste in der UdSSR zwischen 1917 und 1959 — 110,7 Millionen Menschen. Hierzu gehören 44 Millionen während des Krieges ums Leben Gekommene und 66,7 Millionen — in den Jahren großer Heldentaten. Wie der Historiker Roy Medwedjew bestätigt, verfolgte die kommunistische Staatsmacht etwa 40 Millionen Menschen und setzte sie Repressalien aus.

Schreckliche Zahlen... In welchem anderen Land war das Volk einer geplanten Selbstvernichtung ausgesetzt! Es baute sich selber Baracken, und setzte Stacheldrahtzäune. Im Namen einer gespenstischen Idee kämpfte es gegen abstrakte Feinde...

Heute gibt es bei uns keine Lager, die letzten politischen Gefangenen wurden entlassen und man darf bedenkenlos über alles reden, was man will. Der 30. Oktober wurde vom Obersten Gericht der RSFSR zum Tag der politischen Häftlinge erklärt, dem Trauertag zur Erinnerung an alle durch den bolschewistischen Terror unschuldig umgekommenen Menschen.

Der Tag des Gedenkens — er ist für uns, die wir keine nächtlichen Verhaftungen, Häftlingsetappen, Holzfällerlager, Zwangsansiedlung kennengelernt haben... Aber diejenigen, die fünf oder zehn Jahre GULAG durchlaufen haben, werden sich bis ans Ende ihres Lebens erinnern. An jeden einzelnen Tag, jede einzelnen Nacht.

30. Oktober 1991... Der erste offizielle Gedenktag. So spät wir uns auch «daran erinnern», wieviel Zeit seitdem vergangen ist – wir werden nicht erst heute nachdenklich und versuchen die Geschichte zu entschlüsseln. Fast ein Jahrhundert döste Russland in einem ungesunden Schlaf, nun ist es aufgewacht! Äußerlich — ja. Unter einer anderen Flagge und einer neuen Hymne, aber in der Seele — voller Wirren. Wir wandern wie im Nebel, wissen nicht wohin. Alle warten auf eine starke Hand, dürsten nach einem machtvollen Herrn, um den «wahren» Weg zu beschreiten, egal wohin!

In der Redaktion ruft eine alte Frau an, setzt ein Beispiel für ihre heroische Jugend, schimpft über das ziellose Leben der jungen Leute. Als man auf die stalinistischen Lager zu sprechen kommt, bekommt ihre Stimme einen hohen Tonfall: «Wagen Sie es nicht! Stalin war ein heiliger Mann! Die Lager waren Jeschow zur verdanken, und es saßen dort Banditen und Feinde unseres Volkes!».

Eine unerschütterliche Meinung, geboren aus einem unerschütterlichen Glauben. Tausende Repressionsopfer, die sich in Gefängnissen, in der Verbannung befanden, glaubten hoch und heilig an den Führer und an die Partei. Jeder hoffte, dass man gleich dort oben alles aufklären und ihn rehabilitieren würde, ihn, der unter tragischen Umständen in die Reihe der Verräter, Spione und Saboteure geraten war. Es gab für ihn keine Begnadigung, wie für die, die bewusst in den Kampf gegen die Willkür der Diktatur gingen. Qualvoll zog sich die Zeit dahin, die Tage der Zwangsarbeit wurden zu Monaten, Jahren. Das Land baute mit Begeisterung eine Gesellschaft der freien, glücklichen Menschen, und was sich dort, jenseits der Mauern, im UralLag, NorilLag und KrasLag abspielte, interessierte niemanden.

Gestern war der 30. Oktober... Der Tag derjenigen, deren Leben in den Lagern ruiniert wurde, derjenigen, die so grausam und völlig schuldlos von der Heimat bestraft wurden. Sie erinnern sich. Denken wir darüber nach!

„Krasnojarsker Arbeiter“, 31.10.1991


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