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Vandalismus oder Notwendigkeit?

In letzter Zeit wird mehr denn je über die Notwendigkeit eines Comebacks der historischen Bezeichnungen für Städte und Dörfer, Gebiete und Regionen, Straßen und Plätze, Schiffe und sonstigen, über die Liquidierung der Monumente bolschewistischer Führer, die überall die Parks, Straßen und Plätze füllen, überall in unserem Land – und nicht nur hier. An einigen Stellen geschieht etwas. Die Städte Samara, Twer, Sankt-Petersburg, Nischnij Nowgorod, Jekaterinburg und andere erhielten ihre wahren Bezeichnungen zurück, Denkmäler Lenins und seiner Mitstreiter wurden demontiert. Vom Fundament entfernt wurden beispielsweise das Monument «des feurigen Revolutionärs», «der Ritter mit dem warmen Herzen, dem kühlen Kopf und den sauberen Händen» - Dserschinskij -, und das nicht irgendwo, sondern in Moskau, an der Lubjanka. Erhalten gebliebene Kirchen und Klöster kehren zu den Gläubigen zurück. Die Kirchen werden restauriert, aus Ruinen wieder aufgebaut und manchmal, allerdings sehr selten, ganz neu errichtet.

Bei uns in Krasnojarsk ist so etwas, das kann man wohl sagen, bisher noch nicht geschehen. Erst ganz allmählich hat man angefangen davon zu sprechen, in den Lokal-Zeitungen zu schreiben, den Behörden Vorschläge zu unterbreiten. Einer dieser Vorschläge war, den Straßen im alten Teil der Stadt ihre historischen Namen wiederzugeben, das kommunistisch-monumentale und plakative Blendwerk in ihnen loszuwerden, insbesondere das gewaltige Monument des Schöpfers des sowjetischen Staates sowie die Büste seines Weggefährten — des «eisernen» Felix.

Die Bewohner der Stadt, der Region, die davon reden und schreiben, ihre Vorschläge machen und auf ihnen beharren, sind diejenigen, bei denen wir uns daran gewöhnt haben, dass sie als Demokraten bezeichnet werden und die ohne Unterstützung der Öffentlichkeit wenig erreichen: immer noch stark vertreten unter den Abgeordneten, in den Verwaltungen, in den Reihen der zahlreichen Konservatoriumsleiter, Reaktionäre, alle», befinden sich Leute, die uns jahrzehntelang als Funktionäre der KPdSU ideologisch, politisch und ökonomisch gelenkt haben — in jeder Hinsicht, die uns in eine «leuchtende Zukunft» geführt haben, indem sie die russische Kultur, Sittlichkeit, Moral, Spiritualität, allgemein-menschliche Prinzipien zerstörten, die sie nach ihrer Geschichte umgestalteten, in dem Versuch, etwas Künstliches, Lebensfremdes und Unmoralisches, aber etwas Eigenes, zu schaffen. Sie zerstörten das Alte, verstümmelten unsere Seelen und schufen – nichts. Weder die zahlreichen Bronze- und Granit-Idole, noch das Bestreben, in den Straßennamen, Plätzen, Städten und Schiffsnamen das Gedenken an die wütenden Revolutionäre zu verewigen. Über siebzig Jahre haben sie nach dem Prinzip gelebt: «niederreißen — nicht aufbauen». Aber warum sollte damals zerstört werden?

Gegner der Liquidierung der kommunistischen Idole, der Umbenennung von Straßen und Plätzen, versuchen ihre Beharrlichkeit, ihre Geistlosigkeit damit zu erklären, dass in ihnen, in diesen Idolen und revolutionären Namen – unsere Geschichte begründet liegt. Ist es tatsächlich an dem? Es gibt so eine und so eine Geschichte. Zur ersten gehören — die Menschen, ihre Taten und Handlungen, ihre Schöpfungen und Errungenschaften, und sie bleiben für alle Ewigkeit, in der zweiten Geschichte — fallen sie, treten ins Fettnäpfchen, wie in einen Kuhfladen, egal, ob sie es selbständig tun oder mit jemandes Hilfe.

1917 haben sie uns in eine Geschichte hineingezogen, aus der wir bis heute nicht herausfinden können: immer noch hält man uns am Boden und an den Ärmeln fest - für alles und nichts.

Alles, was in den 70 Jahren tatsächlich historisch war, geht in die Geschichte ein und bleibt auch ohne kommunistische Idole, ohne bolschewistische Ortsnamen und plakative Agitationssymbolik in ihr.

Wer wird es wagen, den Bürgerkrieg und den Großen Vaterländischen Krieg, die Aufstände von Kronstadt, Tambow und Solowjetzky, die Kollektivierung und Liquidation der Großbauern, die Repressionen, die «psychiatrischen Anstalten», den GULAG, den ausgetrockneten Aral-See, den verschmutzten Baikal-See und andere Kämpfe um die Gnade der Natur aus der Geschichte auszuradieren? Niemand! Das alles bleibt auf immer und ewig Teil der Geschichte. Indem ich die Demokraten-Abgeordneten unterstütze, die für die Umbenennungen, für die Demontage der Denkmäler der kommunistischen Führer kämpfen, indem ich dies, ebenso wie die Verbesserung des Wohlergehens für absolut notwendig halte, indem ich diese Problem ausführe und verbreite, trage ich etwas dazu bei.

Erstens: die Umbenennungen müssen auch auf die rechte Uferseite von Krasnojarsk ausweiten und überhaupt auf die gesamte Region. Zweitens: die Liste der Straßen und Plätze, die in der Ausgabe des «Krasnojarsker Komsomolzen» vom 14. September aufgeführt ist, muss erweitert werden, indem man auch die Straßen von Bograd, Majertschak-, Markowskij-, der Republiken, der Roten Armee, der Verteidigung, des Partisanen Schelesnjak, den Platz der Revolution darin aufnimmt. Man muss ihnen die alten Namen zurückgeben oder neue vergeben, die keinerlei Bezug . Ich schlage vor, den Namen A.D. Sacharow-Straße nicht an die Robespierre-Straße zu vergeben (zweifelsohne muss auch sie umbenannt werden), sondern der Straße der Diktatur des Proletariats (hören sie nur, was für eine tosende Bezeichnung das ist), in der ich übrigens geboren bin und lange Zeit gewohnt habe. Darüber habe ich bereits 1990 im Namen der Gesellschaft ehemaliger Repressionsopfer geschrieben.

In Krasnojarsk sollen weder der Lenin-, noch der Swerdlowsker Bezirk, weder die Swerdlow-Straße, noch das Denkmal zu Ehren dieses glühenden Bolschewiken und Zarenmörders bleiben. Die Ortschaft Dserschinskoje muss ihren schönen alten Namen zurückerhalten, Roschdestwenskoje, wenn ich mich recht erinnere. Während meiner Kindheit, und noch bis zum Krieg, gab es in Krasnojarsk mehr als ein Dutzend Kirchen, Synagogen, Moscheen. Und was ist geblieben? Die Pokrwosker, Troitzker und Nikolsker Kirche — das ist alles. An der Stelle des regionalen Exekutivkomitees, bis vor kurzem auch des Regionskomitees der KPdSU, stand einst eine wunderschöne Kathedrale, nach den Zeichnungen des Architekten Ton gebaut. Die Kirche wurde 1936 in die Luft gesprengt. Warum? Wen hat sie gestört? An der Ecke Straße der Verteidigung und Straße der Roten Armee, am Hang, stand die schöne Kirche Allerheiligen. Dort wurde ich 1926 getauft, 1932 haben sie dort meine Großmutter ausgesegnet. Der Kirche war ein langes Sterben beschert: in ihr ließ sich seinerzeit die heutige „Kwant“-Fabrik nieder. Inzwischen sind von ihr nicht einmal Spuren übriggeblieben. Zerstört wurde auch die alte Kirche an der Strelka. Trauriges Schicksal der Blagoweschtschensker Kirche — Ecke Lenin-Straße und Straße des 9. Januar. Sie ist zur Hälfte zerstört, verfallen, wird als Lagerhalle genutzt. Es gibt keine Synagogen, keine Moscheen mehr. Kürzlich wurde eine katholische Kirche wiederhergestellt, man installierte eine Orgel und nutzt die Räumlichkeit nun als Konzertsaal. Als eigentliche Kirche wurde sie nicht wieder hergerichtet.

Und wie viele Kirchen wurden in den Ortschaften und Dörfern der Region zerstört und liquidiert? Hunderte. Kürzlich fuhr ich durch den kleinen Ort Tschastoostrowskoje, unweit von Krasnojarsk, und sah dort eine zerstörte Kirche. Schrecklich, diese Gotteslästerung! Es ist interessant, wie diejenigen, die Schließung der Kirchen, ihre Zerstörung, die Plünderung des Kirchenbesitzes betrachten, die heute das Lenin-Monument und die Dserschinskij-Büste für historischer Denkmäler halten. Man möchte sie an ein historisches Ereignis erinnern, das für sie oder ihre Vorgänger als selbstverständlichstes ablief, ohne seine Organisatoren und Vollstrecker zu beunruhigen. Es handelt sich um — die Liquidierung des Stalin-Personenkultes, verschiedener Monumente, die im gesamten großen Russland aufgespießt waren, und von denen es wohl noch weitaus mehr gab, als Lenin-Monumente. Wie hat man sie liquidiert? Sicher nicht über Nacht und überall zur gleichen Zeit, stillschweigend, wie man so schön sagt. Das Stalin ein Verbrecher ist — ist eindeutig, aber schließlich war er ein wahrer Leninist, der streng nach Iljitschs Vermächtnis handelte. Nicht er allein ist schuld an dem, was in Russland geschah, was wir durchleben und was wir noch lange durchmachen und erinnern werden. Auch Lenin ist schuld und alle «professionellen Revolutionäre», die sich um ihn herum befanden, ebenso wie seine Nachfolger, alles, was man heute als das System bezeichnet. Ein Götzenbild haben sie aus Lenin gemacht: das System braucht einen «toten Gott», man hat ihn auch geschaffen und in unsere Köpfe hineingeschlagen, und zwar so kräftig, dass wir uns auch heute noch nicht aus unserem Leninismus-Bewusstsein befreit haben.

Man muss das Lenin-Denkmal vom zentralen Platz entfernen, den Platz freimachen für die Errichtung einer Kirche zum Gedenken an all die in den Jahren der bolschewistischen Macht Umgekommenen und die unschuldig Getöteten. Möge es eine Kirche auf dem Blut (Heilig-Blut-Kirche) sein. Das ist nicht einfach, wird eine Menge Geld und Zeit kosten. Das ist richtig, aber eine Kirche brauchen wir, denn ohne sie ist der Mensch arm. Ich bin überzeugt, dass alle die Kirche bauen werden: alte und junge Menschen, Gläubige und Andersfarbige, alle ordentlichen Leute. Geldmittel für den Bau der Kirche werden sich finden: Beiträge und Spenden von Bürgern, Unternehmen, und auch der Staat sollte sich nicht außen vor bleiben — er hat zerstört, also muss er auch aufbauen.

An der Stelle der Dschersinskij-Büste muss unbedingt und so schnell wie möglich ein Denkmal für die Opfer der stalinistischen Repressionen und des roten Terrors errichtet werden. In der Stadt sprach und schrieben sie gleichzeitig über die Notwendigkeit, die Blagoweschtschensker Kirche zu restaurieren. Sie sprachen darüber und haben die Angelegenheit dann aufgegeben, warum? Dabei kann und muss man doch den Wiederaufbau in Angriff nehmen.

Ich schreibe über die Wiedererrichtung und den Bau von Kirchen und denke an die religiöse und bürgerliche große Tat der Mitglieder der Krasnojarsker Christen-Baptisten-Gemeinde. Sehen sie nur, was für eine Kirche sie schräg gegenüber des Sowjetischen Bezirkskomitees der KPdSU errichtet haben, oberhalb des Seitenarms des Jenisseis! Erbaut in weniger als zwei Jahren mit den Händen der Gläubigen, mit ihren Mitteln – und die Kirche ist sehr schön.

Unlängst stand ich am Busbahnhof, dem ehemaligen Flugplatz Sewernij, und als mein Blick auf das Gebäude fiel, das heute nicht mehr seiner einstigen Bestimmung gemäß als Flugabfertigungshalle dient, dachte ich, dass man es vollständig ausbauen könnte, wie mir scheint, mit nur geringfügigen oder vergleichsweise geringfügigen Umbauten und Kosten – und zwar – als Kirche. Ob das tatsächlich so ist, müssen Fachleute entscheiden, aber darüber nachdenken sollten die Bürger und die Autoritäten der Geistlichkeit.

Ich werde auch die hartnäckigen Konservativen, die die Umbenennungen und die Liquidierungen der kommunistischen Idole ausbremsen, fragen, weshalb man jeden von uns ständig und überall durch die Namen der Straßen und Plätze, Monumente der kommunistischen Führer an unsere schreckliche Vergangenheit erinnert.

Wladimir Guldenbalk, Rentner
„Krasnojarsker Abendblatt“, 14.11.1991


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