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Eine Auswahl von Materialien über deportierte Deutsche

MEMORIAL

Eine Auswahl von Materialien über deportierte Deutsche

Erinnerungen ans Elternhaus

Vor 53 Jahren, am 2. August 1941 kam das traurig berühmte Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets "Über die in den Wolgabezirken lebenden Deutschen heraus. Ein einziger Federstrich genügte, um Menschen zu Schande und Leid zu verdammen. Ein ganzes Volk wurde der massiven Mittäterschaft am Faschismus beschuldigt.

380000 Deutsche wurden nach Kasachstan, Burjatien und Sibirien abtransportiert. Mit der Bitte, ihre Erinnerungen an das Leben in der Verbannung zu teilen, kontaktierte ich Emilie Davidowna Eirich. 1941 war sie 27 Jahre alt und lebte mit ihrer Familie in Engels.

- Ich weiß noch, dass bereits Anfang September Leute zu uns in den Hof kamen und uns befahlen, in 24 Stunden zur Abfahrt fertig zu sein. Sie sagten: "Nehmt nicht so viele Sachen und Lebensmittel mit. Dort wird man euch alles geben." Ich schaffte es, eine Decke, eine Matratze und Kleidung für den kleinen Sohn mitzunehmen.

Am 4. September, gegen Abend, fuhr unser Zug ab. Niemand wusste, wohin sie uns brachten. Wir fuhren in Güterwaggons, wie sie zum Transport von Vieh benutzt werden. Es gab zweistöckige Pritschen. In einem Waggon befanden sich etwa 30 Personen, vielleicht auch mehr. Wir aßen unterwegs das, was wir mitgenommen hatten. Manchmal, an den größeren Bahnstationen, gelang es uns etwas heißes Wasser zu bekommen. Am 18. September brachten sie uns zur Weiterverteilung zur Bahnstation Atschinsk-2. Verteilt wurde streng nach Listen. Alte Leute, Angehörige der Intelligenz, alleinstehende Frauen mit Kindern gehörten zur "dritten Sorte". Man schickte sie weiter in die armen Dörfer. Ich geriet nach Tschipuschejewo (jetzt Nowobiriljussy). Wir kamen in einer Wohnung unter, halfen beim Verputzen des Dorfkontors. Dort habe ich mein Söhnchen begraben. 1942, im Dezember, kam jemand nach Tschipuschewo, um uns zur Mangan-Grube anzuwerben. Und am nächsten Tag brachten sie uns zum Bergwerk. 11 Familien quartierten sie in dem nicht fertiggebauten Siedlungsklub ein. Wir lebten einträchtig miteinander, das Elend schweißte uns zusammen. Ich arbeitete beim Holzeinschlag und als Verputzerin am Bau. Ich weiß noch, wie der Schnee fiel, und wir kneteten barfuß Lehm – um Schuhe war es schlecht bestellt.

Irgendwie trieben sie uns einmal zum Holzeinschlag, zur Kellerei; Lida Stang, meine Gevatterin, hatte keine Schuhe, sie musste Sackleinen um ihre Füße wickeln. Aber damit kannst du nicht weit laufen (der März stand vor der Tür). Wir rieten Lida den Leiter zu bitten, ihr irgendein Schuhwerk zu geben. Sie wandte sich dann auch an unseren Leiter Petrow. Der aber wertete das als Arbeitsverweigerung und ließ sie für drei Jahre einsperren. Sie schickten unsere Lidia Grigorewna nach Reschoty. Ihre vier Kinder wurden auf Heime verteilt, das älteste kam zur Trudarmee. Ihr Mann war ebenfalls in der Trudarmee – in Kirow. Offenbar half ihnen Gott, denn sie kehrten von dort alle lebend zurück.

Im Bergwerk starben während des Krieges zahlreiche Deutsche. 1942 musste auch ich mein zwei Monate altes Töchterchen begraben. Die Gräber hob man damals in „Shanghai“ aus, Øàíõàå", bei den Minen (nicht zu verwechseln mit der östlichen Siedlung). Das Grab wurde sogleich mit Wasser gefüllt. Das Grab meines Töchterchens haben sie zweimal wieder aufgegraben, es wurde verbreitert (zwei deutsche Mütter hatten darum gebeten, ihre Säuglinge gleich daneben zu beerdigen).

Ein Unglück kommt selten allein. 1943 starb der mein Ehemann und ich selbst wäre beinahe ins Gefängnis gekommen. Und das kam so. Wir bauten in der Siedlung Baracken auf aufgeschüttetem Boden. Zu Acht hausten wir in einem Zimmer ohne Dach. Als das Haus fertiggebaut war, beschlossen sie, uns dieses Zimmer wegzunehmen. Wir weigerten uns entschieden auszuziehen. Man bestellte uns zum Verwalter Wolkow. "Wissen Sie denn überhaupt, was Sie für welche sind? – Ich konnte mich nicht beherrschen: "Na, was sind wir denn für welche? – Solange Stalin seine Verfassung nicht ändert, sind wir mit Ihnen rechtlich gleichgestellt". Für derartige Worte war es bis zu einer Haftstrafe nicht weit, aber alles ging gut aus. Und wir hatten unser Zimmer zurückerobert.

In unserem Leben ist alles Mögliche passiert. Es kam vor, dass sie Steine nach uns warfen, aber wir erlebten auch, dass Menschen ihr Letztes mit uns teilten. So haben wir gelebt.

15 Jahre lang mussten wir uns regelmäßig in der Kommandantur bei Kommandant Jarlykow melden. 1956 ließen sie uns aus der Sonderansiedlung frei, erlaubten uns aber nicht, nach Hause zurückzufahren. Und so bin ich hiergeblieben. Mein ganzes Leben habe ich als Verputzerin am Bau gearbeitet. Ich bin niemandem böse, habe auf niemanden Hass. Ich muss nur immer noch an mein Elternhaus in Brockhaus denken, an unser Leben, wie es vor dem Krieg war. Aber das kann man alles nicht mehr zurückholen.

Aufgezeichnet von J. Puschkanowa


Abschied von der Heimat (Lied der vertriebenen Wolgadeutschen)

Dieses Lied schickte Emilia Davidowna Eirichs Schwester 1943 aus der Arbeitsarmee. Bereits übersetzt aus dem Deutschen ins Russische von Vera Jegorowna Salzman (das deutsche Original ist nicht mehr auffindbar). Literarische Bearbeitung des russischen Textes von O.S. Kulikowa.

Oh, Schatten eines vergangenen Tages, îh, Schatten eines vergangenen Tages,
Du bist voller Schrecken, du bist voller Schrecken.
Wir hatten eine Seele, wir hatten eine Seele,
Aber es kam die schwere Stunde, die schwere Stunde kam,
Als aus der schrecklichen Dunkelheit
Inmitten der Rosen Gefängnisluft umhüllte.
Abschied nehmen ist nicht leicht, Abschied nehmen ist nicht leicht -
Weit fort gehen wir, weit fort gehen wir,
Aber vielleicht rettet Gott uns, vielleicht rettet er uns,
Führt uns weg vom Tod, führt uns weg vom Tod.
Wir sind vertrieben worden, wir sind vertrieben worden,
Und alle sind nun gleich, und alle sind nun gleich.
Nicht zählen kann man all die Waisen, nicht zählen kann man sie -
Die Arbeitsarmee ist in Betrieb, sie zieht einen hindurch...
Geht ins Nichtsein durch Jahre der Tränen und des Bösen,
Geht ins Nichtsein, und Mutter Erde weint.
Doch glauben wir an Gott – tragen das Kreuz des Schicksals,-
Damit es uns hinausführt aus dieser Not.
Oh, Schatten eines vergangenen Tages, îh, Schatten eines vergangenen Tages,
Du bist voller Schrecken, du bist voller Schrecken.
Das Herz zieht schmerzlich sich zusammen, es schmerzt für immer -
Die nicht geweinten Tränen reichen noch für viele Jahre.


Helft uns, dass Grab zu finden

Offenbar war das Schicksal mir gnädig, als ich an die «Atschinsker Zeitung» geriet, in der ich die Adresse von «Memorial» entdeckte. Und so wandte ich mich nach Atschinsk, um den Versuch zu unternehmen, Spuren meines Großvaters ausfindig zu machen.

Was kann ich über ihn berichten? Fjodor Janowitsch Ruben, geboren 1900, gebürtig aus dem Gouvernement Witebsk, Lette, parteilos; er lebte im Dorf Oluga, Atschinsker (heute Bolscheulujsker) Bezirk, Region Krasnojarsk, arbeitete in der Kolchose und wurde am 25. November 1937 von der Atschinsker Bezirksabteilung des NKWD verhaftet. Man beschuldigte ihn, dass er angeblich «an einer faschistischen Spionageorganisation beteiligt war, die es sich zum Ziel gemacht hat, bei einem Überfall der faschistischen Länder auf die UdSSR einen bewaffneten Aufstand gegen die Sowjetmacht durchzuführen». Auf Beschluss einer Kommission des NKWD der UdSSR und der Staatsanwaltschaft der UdSSR vom 02.02.1938 wurde über F.J. Ruben die Höchststrafe verhängt – der Tod durch Erschießen. Die Anordnung zur Erschießung wurde am 05.03.1938 um 23 Uhr in der Stadt Atschinsk, Region Krasnojarsk, vollstreckt.

Per Feststellung des Militärgerichts des Sibirischen Wehrkreises vom 06.12.1957 wurde F.J. Ruben aus Mangel an Tatbeständen rehabilitiert.

Ich hoffe, dass irgendjemand den Begräbnisplatz der unschuldigen Opfer kennt, wo möglicherweise auch unser Großvater begraben liegt. Ich bitte sehr herzlich darum mich zu verständigen, falls irgendetwas darüber bekannt ist.

Vielen Dank im Voraus.
Meine Anschrift: 636140, Tomsker Gebiet, Ortschaft Schegarka, Kalini-Straße 19a, Wohnung 2, Lydia Valentinowna RUBEN.

Atschinsker Zeitung  18.08.1993

Archiv des Atschinsker «Memorial». Kommunale budgetierte Kultureinrichtung «Atschinsker D.D. Kargopolowa-Heimatkunde-Museum»


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