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Von der Wolga nach Sibirien

EIN BLICK IN DIE VERGANGENHEIT

Julia Davidowna Fribus - Tscherkassowa – gehört zu den 380000 Deutschen aus der Republik der Wolgadeutschen, die gemäß Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 28. August 1941 "Über die Umsiedlung der im Wolgabezirk lebenden Deutschen" deportiert wurde. Hier ihre Erinnerungen an das, was sie erlebte.

- Wir hatten ein gutes Leben. Der Vater arbeitete als Gärtner in der Kolchose, wir hatten unseren eigenen Garten. Unsere Ortschaft Fischer im Bezirk Marxstadt ertrank buchstäblich, wie andere auch, in Gärten. Das Unheil kam am 16. Juli 1938. In der Nacht wurden wir durch Klopfen an der Tür geweckt. Mehrere Leute verhafteten den Vater; er konnte uns lediglich beruhigen, dass es sich um ein Missverständnis handelte und er zurückkehren werde. Doch er kam nicht wieder – nicht nach einem Tag, nicht nach einem Monat, nicht nach einem Jahr. Wir sahen ihn niemals wieder. Er wurde am 1. November 1938 in der Stadt Engels erschossen. Doch davon erfuhr unsere Familie erst nach langer Zeit, einer Zeit voller Schmerz und Leid – erst nach 53 Jahren.

In all diesen Jahren suchten wir den Vater, schrieben überallhin. Im September 1959, 21 Jahre später, schickte man uns eine Bescheinigung über seinen Tod. Darin hieß es, dass er 1942 an Leberzirrhose gestorben sei; registriert worden war der Tod in der Stadt Marx, Gebiet Saratow. Wir glaubten das nicht, und ich schrieb auch weiterhin Briefe. Und erst 1991 schickte man uns eine neue Bescheinigung über den Tod des Vaters. Keine Krankheit, sondern eine Kugel hatte sein Leben zerrissen. Die Urkunde war begleitet von einem an mich adressierten Brief, in dem folgendes stand:

"Sehr geehrte Julia Davidowna! Ihr Vater, David Friedrichowitsch Fribus, geb. 1879, gebürtig aus Fischer, Bezirk Marxstadt, ASSR de Wolgadeutschen, wurde am 16. Julia 1938 verhaftet. Vor seiner Verhaftung arbeitete er als Gärtner in der Ortschaft Fischer. Am 30. September 1938 wurde D.F. Fribus auf Anordnung einer Troika des NKWD in der ASSR der Wolgadeutschen zum Tod durch Erschießen verurteilt. Begründung: Verbreitung verleumderischer Gerüchte und Äußerung terroristischer Absichten gegen die Kommunisten. Die Anordnung wurde am 16. November 1938 in der Stadt Engels, Gebiet Saratow, vollstreckt. Der Begräbnisort ist nicht bekannt, doch wir werden alles Notwendige unternehmen, um die Begräbnisorte der Opfer der stalinistischen Repressionen zu ermitteln“.

Ich erhielt auch eine Bescheinigung, die den Vater entlastet – seine Rehabilitierung. So gelangte trotz allem nach vielen, vielen Jahren die Wahrheit über unseren Vater zu uns. Unser Vater wird vom traurigen Schicksal seiner Familie also nie etwas erfahren.

Nach seiner Verhaftung lebten wir weiter in unserem Haus. Ich war Komsomolzin, und das in einer sehr aktiven Art und Weise. Unser Haushalt war groß, es gab viel Arbeit, so dass es keine Gelegenheit gab, die Hände in den Schoß zu legen. Der Sommer 1941 erwies sich als besonders günstig, denn es wurde eine gute Ernte erwartet. Doch das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 28. August 1941, das unserem Volk ein anderes Schicksal bescherte, hinderte uns daran sie einzubringen – die Umsiedlung ins Unbekannte. Zu der Zeit gab es schon fast keine Männer mehr; die einen waren in den Krieg gezogen, andere erschossen worden wie der Vater. Die Frauen weinten, die Kinder auch; in der Zeit, die einem zum Packen gestattet war, musste man versuchen, alles zu schaffen. Man hatte uns signalisiert, dass wir so wenig Sachen wie möglich mitnehmen sollten und wir Verpflegung, wie es hieß, unterwegs bekämen. Die Züge mit den Viehwaggons standen bereits auf den Gleisen.

Unsere Familie wurde in einenWaggon hineingedrängt. Bei mir war die Mama – Dorothea Iwanowna Fribus, Bruder Richard (geb. 1924), Schwägerin Gerlina Eiwoltowna (Ewaldowna? geb. 1912), ihr Ehemann – Fjodor Davidowitsch Fribus, Neffe Wladimir Fribus, mein Töchterchen Eleonora (sie war damals gerade erst vier Monate alt) und ich, Julia Davidowna Fribus (geb. 1922).

Es ist schrecklich, sich an den völlig überfüllten Viehwaggon zu erinnern. Uns quälten Durst, Hunger, Enge und stickige Luft, aber am meisten die Ungewissheit. Weswegen das alles? Wir fühlten keinerlei Schuld in uns.

Ich weiß noch, wie sie uns an der Bahnstation Bogotol abgesetzt haben; das war am 14. September 1941. Wir stiegen aus den Waggons und gerieten von all der frischen Luft ins Taumeln. Man brachte uns ins Dorf Morkilat im Bogotolsker Bezirk. Dort blieben wir ein halbes Jahr. Danach verlegte man uns ins Dorf Bolschoj Kosul, wo wir bis Mai 1942 lebten. Dann verkündete man uns, dass wir nun ganz in den hohen Norden der Region Krasnojarsk kämen.

In Krasnojarsk brachten sie uns am rechten Flussufer unter; es gab dort viele Menschen, die in unterschiedlichen Sprachen miteinander redeten: Deutsche, Letten, Esten, Finnen. Fast zwei Monate lebten wir dort in Zelten und warteten auf unseren Weitertransport. Dann brachten sie uns auf das Schiff „M. Uljanowa“. Abgeladen wurden wir unweit der kleine Siedlung Alike Wjerchne – Imbatsker Dorfrat, Turuchansker Bezirk. Die sibirische Siedlung Alike war klein, 15 – 17 Häuschen standen dort, aber wir waren ungefähr 100 Familien. 15 von ihnen wurden in einem Pferdestall einquartiert, in dem man das Vieh mit einem Zaun abgetrennt hatte, die anderen wurden in Formationen aufgestellt und kamen in andere kleine Siedlungen, manche fanden sogar Unterkunft in einer Wohnung. In aller Eile wurden Baracken für die restlichen Menschen errichtet.

Wir wurden sofort für Arbeiten aufgeteilt. Die Schwägerin kam in eine Fischfang-Kolchose und mir wies man das Fischrevier von der Turuchansker Fischfabrik zu. Und ich wurde Fischerin der ersten Kategorie. Das ist eine schwere Arbeit, und sobald sich die dicke Eisschlammschicht auf dem Fluss bildet, gehen wir an die kleinen Flüsse, angeln kleine Fischchen, um später am Jenissei wieder Dorsche, Sterlets und andere große Fische zu fangen. Bis an den Jenissei gingen wir zu Fuß samt Ausrüstung und zogen mit Schlitten 280 km weit. Der Fischfang erstreckte sich über zwei Wochen. Man gab uns Lebensmittel mit, aber das meiste davon ließ ich bei der Familie. Wir selbst ernährten uns von Fisch und aßen sogar Bisamratten. Es kam vor, dass Großvater Iwanow, unser Ältester, dem eine Bisamratte ins Netz gegangen war, ihr das Fell abzieht, sie brät und sagt: "Na, Mädchen, heute gibt’s bei uns Fleisch zum Mittagessen". Wir aßen Sauerampfer, Brennnesseln, Türkenbundlilien und Fische. Die Kleidung, die wir anhatten, wurde nie trocken. An den Füßen trugen wir Brodni – das sind so eine Art Stiefel: unten – Strümpfe aus Pferdehaut, und darüber – aus Segeltuch. Die Füße waren ständig feucht. Wir begaben uns spät in die Zelte, wärmten uns ein wenig am offenen Feuer, aber Kleidung und Fuß-Zeug wurden nie trocken. Am frühen Morgen zogen wir die feuchten Sachen wieder an, und auf ging’s zum Fluss – Fische fangen. Wenn es Fisch gibt – gibt es etwas zu essen, und wenn nicht – dann gab es nichts.

1944 wurden wir nach Wjerchne-Imbatsk verlegt, ich arbeitete gut, und sie setzten mich als Arbeiterin an der Einsalzungsstelle ein. Und im Winter – ging es zum, Holzeinschlag; wir sägten Lärchenholz für die Böttcher-Werkstatt. Fast sieben Jahre lebten wir im Norden. 1949 erlaubten sie uns wegzufahren, aber nur innerhalb der Region Krasnojarsk. So kam ich nach Atschinsk. Bis zum 13. Januar 1956 befanden wir uns, wie es hieß, unter Kommandantur, d.h. jeden Monat mussten wir uns beim Kommandanten melden. Er hieß I.I. Jarlykow.

In Atschinsk arbeitete ich als Rechnungsführerin und Kassiererin. Es gab nichts, wo wir hinfahren konnten – die deutsche Wolgarepublik gab es ja nicht mehr. Unsere Häuser wurden damals sofort von Verbannten aus dem Westen bezogen. Ich lebe mein Leben in Atschinsk, helfe den Kindern, von denen eines bei schlechter Gesundheit ist. Ich wandte mich an die Staatsanwaltschaft in Saratow, ans Gericht. Erst im April dieses Jahres erhielt ich von der Behörde für Inneres im Gebiet Saratow eine Rehabilitationsbescheinigung.

Ich führe sie hier im vollständigen Wortlaut an: "Frau Julia Davidowna Fribus, Geburtsjahr, Wohnort vor Anwendung der Repressivmaßnahmen: ASSR der Wolgadeutschen.

Auf Grundlage des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 28. August 1941 über die Umsiedlung der im Wolgagebiet lebenden Deutschen war sie aus politischen Beweggründen und aufgrund ihrer Nationalität der administrativen Aussiedlung aus der ASSR der Wolgadeutschen ausgesetzt und wurde zur Sonderansiedlung in die Region Krasnojarsk geschickt.

Auf Grundlage von Art. 2 Punkt B des § 3 des Gesetzes der RSFSR vom 18.10.91 "Über die Rehabilitierung der Opfer der politischen Repressionen" gilt Julia Davidowna Fribus hiermit als rehabilitiert. Stellvertretender Leiter der Behörde für Inneres im Gebiet Saratow. -

N. WODOPOLOW"
Danke, auch wenn es spät kommt, aber sie haben es mir mitgeteilt. Und ich habe davon nichts gewusst.
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Atschinsker Zeitung 1993

Archiv des Atschinsker «Memorial». Kommunale budgetierte Kultureinrichtung «Atschinsker D.D. Kargopolowa-Heimatkunde-Museum»


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