Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Das waren Leute!

Wie sollen wir leben?

Liebe Landsleute! Zum letzten Mal möchte ich mit euch mittels der Bezirkszeitung sprechen, mehr schreiben kann ich nicht — ich bin alt geworden, 83 Jahre. Ich hoffe, dass meine Überlegungen über das vergangene und das heutige Leben für irgendjemanden von Interesse und lehrreich sind.

Vor und auch nach der Revolution haben die Einwohner von Ulety gut gelebt. Es gab eine Menge freien Grund und Boden — Ackerland, so viel, wie die Kraft zum Bestellen langte, so viel Vieh, wie man nur halten konnte, und niemand legte den Bauern auch nur die geringsten Hindernisse in den Weg. Natürlich mussten die Böden, das Vieh mit Achtsamkeit gehegt und versorgt werden. Na ja: wenn du nicht arbeitest, kannst du auch nichts essen. Und so arbeiteten sie den ganzen helllichten Tag über und auch noch bis in die Dunkelheit hinein. Dafür gab es Fleisch, Milch, Sahne, Butter… zur Genüge.

Der Wald beschenkte die Menschen mit großzügigen Ernten an Beeren, Pilzen, Tannenzapfen. Nur nicht faulenzen, dann hast du im Winter genug zu beißen und zu schlemmen. Und wir waren nicht faul, besonders im Sommer nicht, der, wie man weiß, in Sibirien nur von kurzer Dauer ist.

Es gab keine Kolchosen, keine Sowchosen — alle Fragen beantworteten, alle Probleme lösten die Bauern selbst, teilten den Boden untereinander auf. Wer eine große Familie besaß, der bekam auch ein entsprechend größeres Stück Land.

Die meisten Menschen in der damaligen Zeit waren sehr fleißig, und deswegen wurden sie auch satt. Natürlich sahen unsere Kinder nur selten Süßigkeiten auf dem Tisch — dort gab es mehr Milch, Fleisch und Brot. Und die Bauersleute verstanden es, aus Mehl die unterschiedlichsten Dinge zu backen – Piroggen sind zum Beispiel aus unserer Speisekarte überhaupt nicht wegzudenken. Und dann kann ich mich auch noch an Buchweizen-Pfannkuchen erinnern — solche rötlichen, dicken.

Und überhaupt sahen die Leute wohl aus und waren gesund. Die Mädchen sahen alle richtig aufgeblüht aus. Und das nicht, weil sie sich auf verschiedene Art schminkten: die Natur färbte ihre Gesichter, die Arbeit an der frischen Luft und das sättigende Essen.

Lenin strebte danach, das Leben des Bauern noch besser zu machen. Er schickte ihm unterschiedliche Maschinen: Schneider, Mähmaschinen, Rechen, Dreschmaschinen. Alle Bauern kauften sie und fingen an, richtig gut zu leben, weil sie sich ihre schwierige Arbeit nun erleichtern konnten. Jeder wollte es dem anderen zeigen: wer ein besseres Haus oder eine Scheune baute. Viele bauten und kleideten ihre Kinder ein.

Aber obwohl genügend Land vorhanden war, befanden sich zahlreiche Äcker weit vom Dorf entfernt, bis zu 20 Kilometer, und mitunter auch mehr. In der Zeit, in der du isst — ist der Tag verloren. Und was bedeutet es in der Sommerzeit, wenn der Bauer einen Tag verliert? Nun, Lenin erteilte den Rat, näher an den Ländereien zu siedeln, auf denen gearbeitet wurde. Und so beschlossen unsere Bauern drei neue Siedlungen entstehen zu lassen. Bei Uletka, in Kriwljak, welches sich unweit von Chadakta befindet, und hinter dem Fluss Ingoda. Ein Teil der Bewohner von Ulety siedelte mit den Familien und dem gesamten Haushalt dorthin über. Die Gemeinschaft steckte dort ein Stück Land für sie ab, und dann begannen sie ihr neues Leben – besser als das vorherige.

Doch da starb Lenin. Ich kann mich noch gut an jenen Tag erinnern. Ich war in der Schule. Die Lehrerin kommt und sagt, dass Lenin gestorben ist und fängt an zu weinen. Und wir alle begannen zu weinen und waren traurig. Der Tod eines einzigen Menschen erschütterte das ganze Volk. Denn er war ein guter Mensch, höflich und aufrichtig gewesen, hatte Mitleid mit anderen gezeigt, und das Volk vergaß das Gute nicht. Man glaubte an Gott. Diebstahl und Mord gab es fast nirgends im Dorf, und die Leute starben allenfalls durch Krankheit oder aufgrund ihres Alters. So haben unsere Dorfbewohner damals gelebt.

Nach Lenins Tod kam es bei den Bolschewiken zum Kampf um die Macht. Wer wen zuerst eliminiert - der wird siegen. Die Säuberungen innerhalb der Partei waren schrecklich. Was ist über die ordentlichen Kommunisten zu sagen, wenn man weder mit Bucharin noch mit Trotzki, Sinowjew, Kamenjew … Erbarmen zeigte? Die gesamte oberste Etage der alten Bolschewiken räumte Stalin sich aus dem Weg. Und sogar den Liebling des Volkes — Kirow – verschonte er nicht. Er wählte sich seine Leute aus – solche wie Kalinin, Woroschilow, Berija, Kaganowitsch, Molotow... Diese wagten keine Widerrede gegen ihn. Und damit begann damals auch das Leiden der Bauern.

Es begann mit der Kollektivierung, als man damit anfing, die Bauern in die Kolchosen zu jagen. Die Ländereien gingen an — die Kolchose, das Vieh — an die Kolchose, die Familie — an die Kolchose. Wenn du nicht willst — bist du ein Feind, dann geh‘ in die Verbannung, ins Gefängnis, in den GULAG. Alle Uletowsker Einzelbauern wurden zerstreut. Ungefähr ein Drittel der Einwohner von Ulety traten der Kolchose bei, die anderen schickte man fort, um ohne Lohn den Kommunismus aufzubauen – für ein Stückchen Brot und einen Atemzug frischer Luft.

Auch unsere Familie wurde entkulakisiert, wie man das damals nannte, und nach Krasnojarsk ausgesiedelt. Unser Vater besaß ein Haus, in dem zehn Familienmitglieder Platz fanden, außerdem zwei Scheunen, einen Schuppen, ein Badehaus, drei Pferde, zwei Bullen, vier Kühe und fünfzig Schäfchen. Alles wurde konfisziert und der Hausherr mitgenommen — zum Aufbau des Kommunismus.

Man erinnert sich, dass es 1937 eine Meldung gab, nach der die Partei beschlossen hatte, den Verbannten die Heimat zurückzugeben. Meiner Ansicht nach hatte Kalinin diesbezüglich eine Rede auf der Kolchos-Sitzung gehalten. Wir fuhren wieder nach Ulety. Ein halbes Jahr lebten wir dort so gut es ging und warteten auf die Verhaftung; den Vater und vier Söhne brachten sie nach Chita, wo sie erschossen wurden. Ich, der Jüngste, blieb als einziger am Leben. 10 Jahre verbrachte ich im GULAG, habe den ganzen Kommunismus mit aufgebaut.

Das ist derjenige, der daran schuld ist, dass Russland zugrunde ging; die kleinen Männer vom Land, die Analphabeten, die haben sie zum Schreibstift geführt. Die Parteiführer sind schuld, wir alle können von dieser «Politik» der Partei nicht zur Besinnung kommen. Und wie zuvor kämpfen wir um die Macht, sind nicht in der Lage zu teilen. Wie lange noch werden wir uns selbst verhöhnen und verspotten?

Wie soll das Leben weitergehen? Meine Meinung ist folgende — uns wird nur die gewissenhafte Arbeit retten (scheinbar brauchte niemand die Bauern und die gesamte übrige arbeitende Bevölkerung). Arbeit auf dem Boden, der einen ernährt. Nur sie allein ist es, die uns, den Tieren und den kleinen Vögeln Nahrung bietet.

Bei uns haben sich viele Schmarotzer vermehrt, die auf Kosten der Arbeiter und Bauern leben. Und sie alle, mit Verlaub gesagt, lehren den Bauern, wie er leben und nach welchen Gesetzen er den Boden pflügen soll. So etwas gab es schon zu Zeiten der Kollektivierung, auch damals gab es «Lehrer», und die «Führer» bemühten sich, das gewohnte Leben der Dorfbewohner zu zerstören.

Mögen die Bauern selbst entscheiden, wie sie leben möchten — in der Kolchose oder allein. Aber wenn es nach mir ginge, dann würde ich das vollständige Privateigentum auf dem Ackerland einführen und die Farmwirtschaft unterstützen. Mögen sie mit den Kolchosen konkurrieren und ihnen zeigen, wie sie arbeiten können. Welche Sünde gibt es zu verbergen — auf alles Staatliche blicken sie heute, als wäre es ein „Unentschieden“. Auch in den Kolchosen wird gepfuscht — wenn nur der Tag schnell vorübergeht. Weil sie den Glauben an ein besseres Leben verloren haben, man sieht Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit aus allen Ecken hervorschauen. Da muss etwas getan werden. Der Boden verödet — gebt ihn an eine Privatperson, er wird mit Verstand darüber verfügen, denn die Kolchose hat auch nicht genügend Kraft, um ihn zu bearbeiten. Und man muss dies schnellstens tun, seine Bauern mit diesen Maßnahmen unterstützen, so lange Russland noch nicht bis zu den Wurzeln von Ausländern aufgekauft worden ist.

Sie wissen alle, wie wir heute leben. Schlecht leben wir. Daher erwachen auch die niederen Gefühle in den Menschen. Der Neid nagt an dem, dem es ein wenig schlechter geht, als seinem Nachbarn. Wir sehen nicht, dass der Nachbar sich hundertmal mehr anstrengt, bevor er etwas erwirbt oder baut. Wir stehlen Autos, setzen Haus und Garage in Brand und töten sogar. Ganz zu schweigen von den Jugendlichen. Diese Generation haben wir wohl bereits verloren.

Ich lebe jetzt in der Stadt und sehe, was mit uns geschieht. Nein wirklich, denke ich, auch in Ulety derartige Besäufnisse, Räubereien, Plünderungen... Aber wahrscheinlich nicht. Im Dorf hat man keine Zeit für Müßiggang, denn schließlich haben alle einen Haushalt, einen Gemüsegarten und züchten Vieh. Ich freue mich, dass die Uletowsker im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen und ihren Kindern fleißiges Arbeiten beibringen. Oder irre ich mich?

Ich würde mich gern noch einmal in Ulety aufhalten. Aber dazu kommt es nicht mehr, diese verfluchte Krankheit - und ich bin schon alt. Bald werde ich von euch gehen, Landsleute, für immer. Und so habe ich beschlossen, ein letztes Mal einen Brief an diese Redaktion zu schreiben. Haben Sie ein glückliches Leben, arbeiten Sie nach Ihrem Gewissen. Und verzeihen Sie mir, falls ich irgendetwas Falsches gesagt haben sollte.

N. MALOFEJEW

Krasnojarsk — Ulety
„Uletowsker Bote“, 01.08.1994


Zum Seitenanfang