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Auf der "Todesstrecke"


Die Eisenbahn-Magistrale wurde im Polargebiet erbaut. In der Nähe gab es noch Wald, doch bereits nach einer halben Stunde Fußmarsch Richtung Norden endete er, und in der Ferne sah man die Tundra.......

Ja, und der Wald machte einen eher zaghaften Eindruck - die dünnen Bäume wirkten irgendwie zerzaust, mit halbnackten Wurzeln, Ästen, die mit grauem Moos bedeckt waren - der Wald war alt, aber matschig und seicht.

Der Permafrost schmolz, wenn, sobald das Tageslicht wärmer wurde, überflutete die Gräben mit einem unaufhaltsamen Strom flüssigen Schlamms, der die moosbewachsenen Wege - die ersten Routen von Zelt zu Zelt – in einem andauernden Zustande der Nässe hielt. Und als auch dieser Wald abgeholzt wurde, zog der Permafrost die ganzen Siedlungen mit sich, welche dann auf den Eislinsen wie auf Kufen rutschten. Im Winter, bei Schnee, verteilten sich die ersten Trupps mit dem Auto entlang der künftigen Route. Sie räumten den Schnee, schlugen Zelte auf und richteten das tägliche Leben ein. Sie begannen mit dem Bau von festen Holzhäusern, Ställen und anderen Nebengebäuden. Das Erd-Bett wurde vorbereitet, und dann entstanden Siedlungen von Bauarbeitern, Lageraußenstellen....

Der Trupp, in dem ich als Wirtschaftler tätig war, genannt "Kilometer 18", befand sich am Wymskoje-See. Seine kalte Oberfläche erstreckte sich wie eine riesige Bohne über mehrere Kilometer durch das Grün des Waldes. Der See war ein Polar-See - das Wasser war eiskalt und klar, und es gab nur wenige Fische. Aber an Sommertagen kamen Hechte an die Ufer, standen in der sonnengetränkten Wassersäule und wölbten gelegentlich ihre dunklen Rücken.

Wenn die Frau des Vorarbeiters eine Suppe kochen wollte, nahm ihr Mann ein Jagdgewehr und erschoss den Hecht direkt im Wasser. Der getötete Fisch drehte sich mit seinem weißgefärbten Bauch zur Oberfläche und wurde mit einem Ast ans Ufer gezogen.

Die winzige Siedlung bestand aus Baracken - Baracken für Frauen, die an der Verstärkung der bereits abgetragenen Gleise arbeiteten -, ein paar Häusern freier Familien, es gab ein Badehaus, einen Stall, eine Kantine und eine Medizin-Station - und sogar einen Klub.

Ganz in der Nähe befand sich die noch im Rohbau befindliche Bahnlinie. Zwei Schienenstränge verliefen in beide Richtungen und verloren sich in den kleinen Wäldern. Der Verkehr war noch nicht eröffnet. Aber die Bahn war bereits in Betrieb. Dampflokomotiven, die mit Schotter beladene Güterzüge zogen, rumpelten in Richtung der Steinbrüche vorüber, ebenso mit Motoren betriebene Draisinen und Sammel-Güterzüge, aber gelegentlich auch Passagierzüge... Alles war vorübergehend, ohne Fahrplan. In dieses Verkehrsmittel zu gelangen, war eine Frage des Zufalls.

Ich musste pünktlich einen Finanzbericht abgeben und beschloss, wie schon so oft, zu Fuß zu gehen. 18 Kilometer zu laufen ist nicht ungewöhnlich. Besonders im Sommer. Es gab nur einen Weg - auf den Bahnschwellen. Es waren 6 Kilometer bis zum nächsten Eisenbahnknotenpunkt, und vielleicht fuhr dort ein Dampfzug.

Ich ging an den Schienen entlang und genoss die Wärme und das Licht. Der Dampfzug, den ich aufhalten wollte, fuhr an mir vorbei. Lokführer sind wie Seeleute abergläubisch und würden niemals eine Frau allein in einem Wagen mitnehmen.

So erreichte ich den Bahnhof von Barabanicha. Zwischen den Gleisen sieht das Bahnhofsgebäude merkwürdig aus: Es ist eine Kabine, in der kaum drei oder vier Leute Platz finden können. Aber es gibt eine Orts- und eine Gleis-Kennzeichnung, die für den Leiter der Station steht. Es handelt sich um einen jungen Techniker, den der Wille des Schicksals und die Verteilungskommission nach der Berufsausbildung hierhergeschickt haben. Viel Arbeit gibt es nicht - deshalb hat er eine Gitarre in der Hand und einen zerfledderten Gedichtband vor sich auf dem Tisch liegen.

Natürlich kennen wir uns. Hier kennen sich alle, umso mehr, als die Telefonleitung über eine Wählscheibe verfügt. Das Bedeutet, wenn einer spricht, hören alle mit. Ich erfahre, dass der Dampfzug, mit dem die Krankenschwester Belka in die Entbindungsklinik bringen will, bald eintreffen wird. Belka ist eine Person, die jeder kennt. Die Frau eines Bauarbeiters. Sie ist in unserer Nachbarschaft für ihr lebhaftes Temperament und ihre Sprache bekannt. Ich könnte gemeinsam mit ihnen fahren, dann würde ich wäre nicht die einzige Frau auf der Lokomotive sein.... Aber da ist noch etwas: Der Regen hat die Gleise vor uns unterspült. Sie werden gerade repariert, die Lokomotive über die Brücke fahren lassen geht nicht. Was tun?
Eine Dampflokomotive nähert sich, durch den zischenden Dampf können wir Belkas Schreie hören. Wir können nicht mehr warten, wir rufen die Zentrale im Dorf Jermakowo an. Der Fahrdienstleiter teilt uns mit, dass eine Dampflokomotive von der gegenüberliegenden Seite zur Brücke geschickt wurde und uns in das Dorf bringen wird, in dem sich das Krankenhaus befindet.

Langsam bewegen wir uns entlang der Umleitungsstrecke vorwärts. Vor uns ist die Frauenbrigade dabei, die Brücke und die Gleise zu reparieren. Die Schwellen und Schienen setzen sich mit jeder Umdrehung des Rades. Auf der Anhöhe hinter der Brücke schnauft eine schöne "Schtschuka" - der Urgroßvater unserer Elektrolokomotiven. Jetzt müssen wir über die Brücke auf die andere Seite, die Frauen von der Gleisbrigade legen ihre Schaufeln ab und setzen Belka darauf.

Sie hält sich an den Schultern der Frauen fest und wird unter Stöhnen zur anderen Lokomotive getragen, aber sie kommt nicht durch die enge Tür.... Dann hängt sich Belka an den Hals des jungen Hilfslokführers, der sie in die Kabine bringt. Die Krankenschwester und ich klettern als Nächste hinein. Der Pfiff ertönt - los geht's. Die Dampflokomotive hält vor der Auffahrt an, die alte Lok hat nicht genug Kraft - sie muss beschleunigen. Endlich kommen wir an - die ersten Wohnwaggons, dann die neuen Häuser des Dorfes Jermakowo. Belkas Ehemann wartet auf uns am Krankenwagen... In einer Stunde wird ein neuer Bürger geboren....

Soja MARTSCHENKO,
ehemalige Verbannte in der Region Krasnojarsk (ab 1949 - unbefristet
М-А №14, Juli 1995


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