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Für unsere glückliche Kindheit…

Jeden Tag gehen hunderte von Menschen an uns vorbei. Was wissen wir über sie? Welche Gedanken hegen sie, was für Erinnerungen bewahren sie in sich?

Das ferne Jahr 1948. Im Norilsker GULAG erwartet die junge Frau Frieda Morkel ihr Kind. Und nicht nur sie allein hat sich in dieser verwegenen Zeit zu so etwas entschlossen. Das Leben kann man nicht verbieten. Wir haben uns verliebt, geliebt und Kinder geboren.

Die deutsche Familie Morkel aus der Stadt Engels — Mutter und zwei Töchter — wurden mit Beginn des Krieges nach Norilsk verschleppt. Ihr Familienoberhaupt geriet in ein anderes Lager. Wohin genau — das erfuhren sie nicht. (Viel später versuchten Angehörige etwas über sein Schicksal zu erfahren, doch ohne Erfolg.) Im Augenblick der Verbannung war Frieda bereits verheiratet, besaß eine einjährige Tochter namens Valerija und trug den Namen ihres Mannes — Schachotkin. Als der Krieg ausbrach, wurde der Mann demobilisiert (er war Flieger), während sie ins Lager kam, wo sie erfuhr, dass ihr Mann bereits ums Leben gekommen war. Hier fand sie ein anderes Schicksal, ein anderes Leben. Iwan Nikititsch Dikarew, ein Kuban-Kosack, Sohn des Gebietsatamans, kommandierte während des Krieges ein Regiment. Man beschuldigte ihn, dass er Ende 1945 für 2 Monate in Kriegsgefangenschaft geraten war. Er wurde später Friedas Ehemann und Vater von zwei weiteren Kindern. Am 30. Januar 19 48 wurde Sohn Igor geboren. Seine Kindheit begann, wie bei anderen Kindern auch, mit dem Lager-Kinderheim. Bis zu der Zeit, in der die Eltern noch keine Erlaubnis für eine freie Wohnortwahl erhalten hatten und kein Recht besaßen, sich weiter als bis nach Dudinka zu entfernen.

Wir trafen Igor Iwanowitsch Dikarew bei sich zu Hause. Ich betrachtete die Fotografien aus der damaligen Zeit, sah in die jungen, hübschen Gesichter seiner Eltern, seiner Verwandten, seiner Nachbarn. Ich versuchte mir das Leben von damals vorzustellen, zu erraten, ob sie eine derartige Wendung des Schicksals bedauert hatten, wie ihr Leben sich gestaltet hätte, wenn alles anders verlaufen wäre. Sie selbst kann man schon nicht mehr fragen... Aber Igor Iwanowitsch berichtet aus der damaligen Zeit:

— Acht Jahre verbrachte der Vater im Lager, bis man ihn rehabilitierte. An dem Tag habe ich ihn zum ersten und letzten Mal betrunken gesehen. Er kam nach Hause – mit seinen Schulterstücken in der Hand und einem Koffer voll Geld. Von dem Geld kauften sie später dann ein Haus, nachdem sie unserer Familie erlaubt hatten, den Ort zu verlassen. Damals, 1953, entließen sie uns zur freien Ansiedlung an einem Ort unserer Wahl. Am Krugloje-See baute der Vater eine Baracke. Damals ging das recht schnell. Alle halfen mit. Heute der eine, morgen der andere. Papa arbeitete im Schacht, damals trugen sie Nummern. Und Mama, von Beruf Gerichtsmedizinerin, kümmerte sich um die Familie. Die Eltern unterhielten eine kleine Hofwirtschaft: zwei Kühe, Schweine. Jeder, der nicht faul war, versuchte sein Bestes, um die Familie zu versorgen. Pilze und Beeren wurden gesammelt, Fische gefangen. Später hatte der Vater auch ein eigenes Boot und eine Räucherei. Offenbar habe ich damals auch die Natur, das Fischen und die Jagd liebgewonnen. Schon früh besaß ich meinen "Buran", einen Kutter. Soweit ich weiß ist die Tundra jetzt überall verlassen. Als ich Invalide wurde, habe ich alles verkauft. Die Söhne konnten dem nichts abgewinnen. Das Futter fürs Vieh haben wir selbst beschafft, — Gräser gab es in der Tundra genug. Wenn es nicht reichte, kauften wir in der Sowchose etwas dazu. Im Sommer weideten wir die Kühe abwechselnd mit den Nachbarn: jede Familie zwei Tage lang. Allerdings wurde mir da ordentlich etwas eingebrockt. Tante Sonja kommt: "Frieda, vielleicht kann dein Igorek für mich die Kühe hüten...", und schon fragten später auch die anderen. Dabei wollte ich junges Bürschchen viel lieber weglaufen und Kriegsspiele spielen. Aber Mama blickt nur flüchtig auf: "Keine Widerrede!" Streng war sie. Und überhaupt pflegte man bei uns keine Arbeit zu verweigern und stattdessen nichts zu tun. Ich erinnere mich, wie sie uns nach den Ferien einen Aufsatz zum Thema: "Wie ich den Sommer verbrachte" aufgaben. Da ich nichts zu erzählen hatte, schrieb ich einfach: "Ich habe die Kühe gehütet". Und dort, wo heute die Rohre des Wärmekraftwerks verlaufen, zogen wir Radieschen. Ich weiß auch noch, wie ich für einen Gefangenen eine Papirossa anschleppte – im Tausch gegen hölzerne Waffen, Pistolen. Beide Eltern rauchten, und der Vater kaufte sie immer in Schachteln in Dudinka. Und wenn noch viele darin waren, merkten sie nicht, wenn eine fehlte.

Die Eltern lebten einträchtig miteinander. Mit den Baracken-Nachbarn ebenfalls — wie eine große Familie. Wenn jemand sich über irgendetwas freute — dann freuten sich alle, wenn jemand Kummer hatte — gab es niemanden, der nicht entsprechend darauf reagiert hätte. Zum Pelmeni vorbereiten kamen stets 20-30 Leute zusammen. Da ging es lustig zu, es wurde gesungen. Anschließend legte man die ganzen fertigen Pelmeni in den gemeinsamen Futterkorb und begab sich in die Scheune. Jeder brachte und nahm so viel wie nötig. Auch die Kinder gingen einträchtig miteinander um, einer war für den anderen da. Ich erinnere mich, dass der Vater eines Tages einen großen Apfel aus Dudinka mitbrachte. Was für ein Wunderding! Ich nahm ihn mit in die Klasse, während des gesamten Unterrichts lag er vor mir auf der Schulbank. Und am Ende des Schultags schnitt die Lehrerin ihn in winzige Stückchen, damit er für alle reichte. Wir, die Kinder, konnten in jede beliebige Familie kommen und sagen: ich möchte etwas essen. Und man würde uns auf jeden Fall etwas geben. Das beliebteste Essen damals waren getrocknete Kartoffeln. Sie befanden sich in so großen Auspress-Krügen. Du splitterst ein Stückchen ab und zerkaust es mit Vergnügen. Und zu den Festtagen, an Neujahr, bemühten sie sich auch uns zu verwöhnen. Dadurch zeichnete sich ganz besonders die Oma, Mamas Mutter, aus. Aus nichts konnte sie die herrlichste Leckerei zaubern! Mama verstand das nicht so gut. Es ist wohl nicht jedem gegeben. Aber mit meiner Frau hatte ich Glück. Egal, um welches Gericht es sich auch handelte, du konntest dir alle zehn Finger danach ablecken. Hier kam ich in die erste Klasse. In den Händen hielt ich selbstgebastelte Blumen. Ich besuchte die Schule N° 2. Meine erste Lehrerin war Anastasia Grigorewna Kramorowa. Zu Neujahr hatten wir große, echte Tannen. Den Schmuck dafür bastelten wir selbst. Und auf dem Garde-Platz befand sich eine Tanne wohl auf einem neunstöckigen Haus. Schade, dass meine Schwester die Fotos davon mitgenommen hat.

Viele in unserer Klasse waren Kinder von Gefangenen. Einmal, als ich mich im Urlaub mit meiner Frau „auf dem Festland“ aufhielt, gingen wir in ein Restaurant. Ich sah einen Burschen, — sein Gesicht kam mir ganz bekannt vor. Ich sitze, schaue ihn an, kann mich aber nicht erinnern. Ich ging zum Rauchen nach draußen, er folgte mir. "Warum, — sagt er, — hast du mich so angestarrt?" "Aus welcher Stadt kommst du"? — frage ich ihn zurück. "Du kennst sie nicht“, — antwortet er. Es stellte sich heraus, dass wir in eine Klasse gegangen waren! Wir fuhren zu ihm – er besaß die Fotos aus der Zeit noch.

1959 erlaubten sie unserer Familie den Ort zu verlassen. Mit dem Raddampfer „Baikal“ fuhren wir bis nach Krasnojarsk. In Moskau machte Papa extra 2 Wochen Halt, um uns den Mir-Platz zu zeigen. Und das war für uns auch eine ganze Welt. Wir wohnten im Hotel „Moskwa“, besuchten den Zoo, den Kulturpark, die Museen. Wir waren auch im Mausoleum. Oh, sage, ich, seht mal – die schönen Kamillenblüten! Und dort ließen wir uns dann auch nieder, in der Heimat des Vaters. Wir kauften ein Haus. Ich beendete dort die Schule und reiste anschließen d nach Nowosibirsk, um am Bau-Technikum zu studieren. Ich lernte bereits im 2. Kurs, als ich meine zukünftige Ehefrau kennenlernte. Und so brach ich meine Ausbildung ab. Ich verliebte mich, gleich nebenan der Park, Tanzvergnügen... Wir heirateten früh – beide mit 19 Jahren. Und bis heute bin ich mit meiner Waljuschka glücklich. Zwei Söhne hat sie mir geboren. Es sind schon Enkel da. Anfangs haben meine Frau und ich bei ihren Eltern gewohnt. Auch wenn es dort einträchtig zuging – wir wollten doch selbständig sein und in unserer eigenen Familie leben. Ich schrieb ans Kombinat, — und schon bald wurde ich abberufen, zum Talnacher Bergbau bestellten sie mich. Ich arbeitete noch mit Krawjez zusammen, dem Mann, nach dem eine Straße in Talnach benannt wurde. Inzwischen habe ich mein Soll erfüllt, ich bin Veteran der Arbeit — und möchte wieder zurück. Ich würde gern ein kleines Häuschen, eine Datscha, kaufen. Ich möchte nicht länger in diesen Gemeinschaftswohnungen leben. Aber schauen wir mal, wie es sich ergibt, — wir haben keinen Reichtum angehäuft. Und im Großen und Ganzen kann ich, trotz aller Widrigkeiten, sagen, dass ich eine glückliche Kindheit hatte. Und auch ein glückliches Leben.

D. WERCHOLESOWA, Foto: W. Skworzow sowie aus dem Familienarchiv der Dikarews.

 

Îãíè Òàëíàõà 9-15.04.1999


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