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Lebe wohl, Mirojedicha!

Teil I. Wo die Asche der Lieben ruht.

Im August gibt es eine seltene Schönwetterlage, wenn einen die Sonne noch wie zur Sommerzeit liebkost, die Taiga sich noch nicht vom flammenden Rot der Birken- und Espenblätter verfärbt hat und die Gräser, die dem Polarsommer nachwinken, mehr als mannshoch gewachsen, voller Lebenskraft sind und noch nicht begonnen haben, ihre Köpfe unter den immer heftiger werdenden Nordwinden zu beugen.

Das war genau die Zeit, um nach Mirojedicha zu fahren, um vor den Überresten des Elternhauses ein letztes Mal „verzeih“ zu sagen, um den mit dichtem Gestrüpp überwucherten Dorffriedhof zu besuchen, wo die Asche der lieben Großmutter Pelageja Andrejewna Mosienko ruht.

Zwei Tage später musste sich Tamara Aleksejewna zum dritten und wohl letzten Mal von der Gegend verabschieden, in der sie geboren wurde, den ersten Atemzug, die ersten Schritte tat. Sie ist mit ihrem Ehemann an ihren neuen Wohnort im Gebiet Tomsk abgefahren – zu ihren Kindern und Enkeln.

Auch diesmal traf das Motorschiff unerwartet ein, nachdem es sich in Turuchansk durch seine mächtige Schiffssirene angekündigt hatte. Und sogleich setzte die in solchen Fällen übliche Geschäftigkeit ein, jeder war bemüht während des kurzen Schiffsaufenthalts möglichst schnell seine Angelegenheiten zu erledigen. Dien Träume von einem bescheidenen, stillen Abschied gingen nicht in Erfüllung. Nicht aus dienstlichen Gründen, sondern ausschließlich aus Freundschaft strömten die ehemaligen Arbeitskollegen der Menschikows zum Schwimmanleger, denn es gab etwas, worüber man sentimental werden konnte. Hinter der Sirene des Schiffes bahnte Tamaras Wunsch sich seinen Weg – nur nicht zu vergessen, sich vom Heimatdorf zu verabschieden.

- Ich werde das nicht vergessen.

Und wie sollte man auch? Sie konnte sich gut daran erinnern, wie ihre große Familie von Mirojedicha nach Turuchansk übersiedelte. Aus eigener Kraft bauten sie sich eine kleine häusliche Bleibe auf, alle Kinder dichteten, so gut sie es vermochten, die Wandfugen ab, halfen in der Wirtschaft. Die Mutter, Anna Michailowna, fand Arbeit in der Turuchansker Fisch-Kooperative als Wächterin, der Stiefvater fand eine Tätigkeit auf deinem Kutter, der ältere Bruder Nikolaj und Schwester Alina verdienten bereits selbständig ihren Lebensunterhalt, und die jüngeren – Ludmila, Walerij und Jewgenij – erfreuten sich noch an Kinderspielen. Sie gingen nicht zugrunde, gaben nicht auf, sondern lebten sich ein, wenngleich es im Heimatdorf schöner gewesen war. Sie waren nach Turuchansk umgezogen, weil das Dorf aufgehört hatte zu existieren. Es gab keine Kolchose und das Dorf auch nicht. Man hatte es geschlossen.

Im vergangenen Sommer kam ein bezauberndes Geschöpf in die Reaktion und bat darum, eine Rezension über sein Referat zu halten. Schanna Belousowa hat über das gewohnte Alltagsleben geschrieben, darüber, wie die Menschen aus geschlossenen Dörfern heute leben, wie sie sich fühlen. Und das hat sie mit Herz und Seele getan. In ihrem Referat erzählten die Leute von Suchaja Tunguska, Mirojedicha, Baicha und anderen Dörfern. Eine Menge haben sie durchgemacht – den Krieg, den Verfall, aber damals waren sie noch jung und glücklich. Sie liebten und wurden geliebt. Kummer bereitete der Absolventin der Turuchansker Schule der Umstand, dass ein Wundertäter namens Nikita Chruschtschow den unsinnigen Ukas über die Zusammenlegung von Kolchosen herausbrachte, und deswegen existieren nun zahlreiche Dörfer an den Ufern des Jenisej nicht mehr.

Es scheint, als ob dem Mädchen als Quelle für eine solche Schlussfolgerung die Aussagen von Moskauer Politikern dienten, die im Rahmen ihrer berüchtigten Einschätzung bereit sind, nicht nur die ehemaligen Landesführer anzuschwärzen, sondern auch Vater und Mutter immer wieder aus Neue zu verraten. Es hat sich herausgestellt, dass sie in der Bezirksverwaltung die „Wahrheit“ auf den Weg gebracht haben. Es ist traurig. Aber nicht deswegen, weil irgendeiner da oben sich leichtfertig gegenüber seiner Geschichte verhält, sondern deswegen, weil wir in einem solchen Fall nicht die notwendigen Konsequenzen für uns ziehen können, die Vergangenheit weist uns nicht den Weg in die Zukunft, eröffnet unseren Augen nicht den nächsten Abschnitt, den Gebirgspass, das Tal, die Gebirgskette oder die Steinwüste, den Aufstieg oder den Abhang. Die Sache liegt nicht an Chruschtschow oder einer einzelnen Anordnung. Die Entscheidung über die Zusammenlegung von Kolchosen war vom Leben so diktiert; man hätte das Hab und Gut der zerfallenen Wirtschaften liebe an die toten, als die lebenden Wirtschaften übergeben sollen. Und darin liegt genau der Grund für die Zusammenlegungen.

Eine andere Sache ist die, weshalb so viele sibirische Kolchosen ihren Betrieb eingestellt haben, weshalb so viele sibirische Dörfer heute menschenleer sind. Ausgerechnet die sibirischen und nicht die im europäischen Teil der UdSSR.

Aus Mirojedicha zogen 16 Mann an die Front, aber nur Pawel Gawrilenko und zwei Brüder Osipow – Jewdokij und Jegor – kehrten zurück. Der gewöhnliche Soldat Gawriil Gawrilenko kam bei Leningrad ums Leben, sein jüngerer Bruder Nikifor – nahe Kiew, Nikolaj Garilenko ist seit August 1943 verschollen, sein Zwillingsbruder Nikandr liegt in einem Massengrab im Dorf Schukowo, Gebiet Kalinin, begraben, der jüngste Bruder der beiden, Fjodor, gilt ebenfalls seit 1943 als verschollen; auch die beiden Brüder Katargin – Semjon und Iwan – ließen ihr Leben; Ilja und Jewgenij Mosienko sind im Gebiet Rostow begraben, Afanasij Osipow nahe des Dorfes Maklowo in der Region Witebsk, Leonid Osipow bei Ternopol, Wladimir Osipow kämpfte mit anderen an der Nord-West-Front und fiel im Januar 1943. Auch Aleksej Polijechtowitsch Mosienko ließ im Gefecht sein Leben; der Krieg verschonte ihn trotz seines ehrfürchtigen Alters nicht. In dem Dorf mit den 12 Häusern trafen insgesamt 13 Todesbenachrichtigungen ein. Sie waren die schweren Bomben, von denen Mirojedicha getroffen wurde. Und zwölf Gruben entstanden nicht durch die Überreste der zerstörten Häuser, sondern durch die Toten. Es kamen Männer ums Leben, auf denen die ganze Hofwirtschaft ruhte; als es sie nicht mehr gab, da starb auch das Dorf aus. Alte Leute und Frauen allein schafften es nicht, Heu für 60 Stück Vieh zu beschaffen, den 11,5 Hektar großen Gemüsegarten zu unterhalten, zu fischen und zu jagen, eine Behausung und Produktionsgebäude zu bauen.

Im europäischen Teil des Landes gab es solche Verluste nicht, die Menschen dienten an den Westgrenzen, jeder zweite Soldat befand sich eine Zeit lang in deutscher Gefangenschaft und kehrte nach Hause zurück.

Die sibirischen Diversionen näherten sich der Front bereits nahe Smolensk, dort gab es keine Kriegsgefangenen. Auch in der Schlacht bei Moskau gab es sie nicht. Die sibirischen Divisionen wurden hauptsächlich aus Bauern formiert, und deswegen starb, zusammen mit den sibirischen Divisionen bei Moskau auch das sibirische Dorf, eben jenes, das eigentlich dazu aufgerufen worden war, dem Land die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen zu sichern. Ein Ausweg wurde scheinbar gefunden: man fing an, nach § 58 Verurteilte, zur Ansiedlung in die ländlichen Gegenden zu schicken.

Bis 1953 lebten in Mirojedicha 11 Personen, die nach § 58 verurteilt worden waren. Unter ihnen befand sich auch der amerikanische Professor William Williamowitsch Friedman. Er und seine Frau hatten in Moskau Englisch unterrichtet. In seinem erlernten Beruf konnte er in dem Dorf nicht Arbeiten, denn die Schule war eine Grundschule, in der Englisch nicht gelehrt wurde. Der Professor lebte von der Unterstützung, die seine Frau ihm schickte; in der Kolchose verrichtete er leichte Arbeiten. Und da er auch fließend Russisch konnte, übte er zweifellos günstigen Einfluss auf das geistige Klima im Dorf aus.

Eine interessante Persönlichkeit war auch Jakob Sigismundowitsch Golombin-Masurskij. Interessant schon allein deswegen, weil er als einziger in Mirojedicha eine Uhr besaß, die er von Fall zu Fall mit den Uhren eintreffender Leute verglich. Die Dorfbewohner wählten ihn mehrmals zu ihrem Rechnungsführer, viele Jahre hatte er auch die Gelegenheit, als Verkäufer tätig zu sein. Beide Aufgabenbereiche waren ziemlich bedeutsam. Auf seinem erlernten Spezialgebiet als Ingenieur und Maschinenbauer konnte er in Mirojedicha nicht arbeiten, aber während seiner Anwesenheit kam es zu tiefgreifenden Veränderungen bei der Bezahlung der Arbeit. Bis 1943 kamen die Arbeiter jeden Morgen zum Vorsitzenden, der die festgelegten Tagesarbeitseinheiten eintrug. Zweiter Schritt – der Rechnungsführer. Er stellte die Summe für den voraussichtlichen Vorschuss auf. Dritter Schritt - der Kassierer gab das Bargeld heraus. Vierter Schritt – der Mensch ging ins Geschäft und kaufte dort Brot und andere Lebensmittel, sofern dafür noch Geld übrig war.

Jakob Sigismundowitsch führte Ordnung ein, als man den Leuten nur zweimal im Monat einen Vorschuss gewährte, was sie von unnützen Zeitverlusten und unnützen Demütigungen verschonte. Das Ende seiner Haftzeit näherte sich, und um die Kolchose nicht ohne Rechnungsführer zurückzulassen, brachte er diesen Beruf einem anderen Verbannten – Wasilij Aleksandrowitsch Gribanow – bei, einem Ukrainer, der ebenfalls eine hohe Ausbildung genossen hatte.

Ein anderer Ukrainer, Sergej Kornejewitsch Kurilko, war Arzt der obersten Kategorie.Eine medizinische Station gab es im Dorf nicht, aber der Bevölkerung wurde qualifizierte medizinische Hilfe geleistet.

Ein unermüdlich Arbeitender und großer Spaßvogel war Wan-Gojuj. Er versuchte nicht zu verbergen, weshalb er hier seine Verbannung verbüßte. Als professioneller Spion hatte er diesen Beruf an der Charbiner Agentenschule von der Pike auf gelernt. In Mirojedicha arbeitete er als Viehwärter. Der Tadschike Dawljat Muratow arbeitete in der Kolchose als Hirte, Kyrgis, ein Beamter aus Tuwa, war ein guter Arbeitsorganisator während der Heumahd, der Tuwinier Chartek stand in dem Ruf, einer der besten Jäger zu sein, der Lette Lajne sowie der Litauer Dusjawitschus waren für Bauangelegenheiten zuständig, der Este Ronaldo Lepik konnte den ersten kolchoseigenen Bootsmotor L-3 bedienen und sicherte die Anlieferung von Fisch, Fleisch, Quark, Schmand, Butter, Gemüse und Kartoffeln auf dem Turuchansker Markt. Den Weg zum Markt hatten den Mirojedichern die griechischen Sondersiedler gebahnt, die als erste den Basar von Turuchansk beherrschten: dort handelten sie mit wildem Lauch, Nüssen, Beeren und ähnlichen Kleinigkeiten, und später richtete dann auch der Kolchos dort seine Marktstände ein.

Im Herbst 1942 ließen sich in Mirojedicha die deutschen Familien Schamne (?), Kwint (Quindt ?), Berk, Dubs, Schuppe, Reksius (Rexius ?), Scheel, Balmer und Gaak (Haak ?), sowie die griechischen Familien Palagidi, Armanidi, Iwanidi und Fatijadi nieder.

So nahm die Bevölkerung der kleinen Siedlung bei sich noch weitere 44 Menschen auf. Alle mussten irgendwie untergebracht werden, manche brauchten auch Schuhwerk und Kleidung, für die Erwachsenen musste ein Arbeitsplatz gefunden werden, damit sie die Möglichkeit bekamen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Die zusätzlichen Arbeitskräfte gestatteten es der Kolchose die Größe ihres Ackerbodens von 3 auf 15 Hektar zu erweitern; 11,5 Hektar davon wurden mit Kartoffeln und anderen Gemüsekulturen bebaut. In der Wirtschaft gab es mehr als 40 Stück gehörntes Großvieh, 25 Pferde, und die gestellten Planvorgaben für Fischfang und Felle wurden stets erfüllt. Es herrschte keine Hülle und Fülle, aber verhungern musste in Mirojedicha auch niemand. Keiner der politischen Gefangenen und Sonderumsiedler lebte in Erdhütten. Ständiger Vorsitzender in diesen Jahren und auch später, nach dem Kriege, war Aleksander Ilitsch Garilenko, ein von Natur aus begabter Mann und bemerkenswerter Organisator.

Der Krieg versammelte in einer kleinen Siedlung Menschen, die 14 verschiedenen Nationalitäten angehörten, die unterschiedlichen Schicksale, Traditionen und Lebensweisen zuzuordnen waren, und all das musste man zusammenbringen, um eine lebensfähige Gesellschaft zu gründen.

Es ist schwer sich vorzustellen, dass der größte Konflikt im Dorf die Eifersucht eines Keten darstellte; ohne jeden ersichtlichen Grund verdächtigte er seine Ehefrau des Verrats und hatte mit ihr immer wieder heftige Auseinandersetzungen. Andere Konflikte wurden auf friedlichem Wege gelöst, wie man heute üblicherweise sagt – auf dem Wege des Konsens.

Um eine derartige Loyalität der Mirojediner zu verstehen, muss man sich einmal ihre Ursprünge anschauen.

Teil II. Ursprünge.

Im Jahre 1995 wurde in Moskau beim Verlag „Vosvrashenie“ („Heimkehr“; Anm. d. Übers.) zum ersten Mal der Roman „Mirojedicha“ von Ariadna Efron veröffentlicht. Die einzelnen Vor- und Vatersnamen wurden geändert, was die Art des Romans auch erforderlich machte, denn es handelt sich nicht um eine blanke Statistik, sondern um ein künstlerisches Werk, das von einer talentierten Meisterin verfasst wurde. Dem Roman wohnt in jeder einzelnen Zeile der erhabene, noch erhalten gebliebene Geist, die Atmosphäre der kaufmännischen Lebensweise inne, und die Trägerin dieser Erscheinung ist Baba Lelja, die im wirklichen Leben Alexsandra Nikiforowna Gawrilenko hieß.

Der Gründer.

Aus den Erzählungen der Bewohner von Mirojedicha folgt, dass der Begründer ihres Dorfes Petr Petrowitsch Gawrilenko war. Er war es, der das erste Haus für seine drei verheirateten Söhne und zwei Töchter mit ihren Ehemännern errichtete. In jenem Haus gab es sechs große Zimmer und einen Korridor, und es stand dort von Mitte des 19. Jahrhunderts bis Ende der 1950er Jahre, bis das Dorf geschlossen wurde. Neben dem Haus wurden auch zwei Speicher, eine Herberge sowie ein separater Flügel für Petr Grigorewitsch gebaut. Alle Söhne und Töchter waren unter einem Dach vereint, lebten jedoch jeder für sich, und jede Frau kochte das Essen nur für ihre eigene Familie.

Mit der Ordnung verhielt es sich so, berichtet Baba Lelja: „Des Abends bat das Familienoberhaupt alle Männer – Söhne, Schwager und die ältesten Enkelkinder – an den Tisch, zum Samowar, und dann erteilte er ihnen Anweisungen, was wer am morgigen Tage erledigen sollte – na, beispielsweise so: du, Efim, gehst zu den Jägern und stattest dich dort mit Waren aus; du, Jegorij – gehst mit der Ingaschin einen Kahn bauen; Afonka und Nikolaj - ihr fahrt ans andere Ufer zu den Fischern, und du, Paschka, gibst auf die Zimmerleute acht.

Für die Frauen und Mädchen wurden alle Aufgaben ein für alle Mal zugewiesen. Die Eine stellte für Vorbeifahrende den Samowar auf, eine andere wusch die feine Wäsche, und die Paraskewa, die schleppte jedes Jahr die kleinen Kinderchen mit sich herum, und das war auch alles, worum sie sich kümmern musste.

Und was mache ich – ich war für das Geschirr zuständig, und Marja – für das Silber. Um das Vieh kümmerten wir uns nicht. wir lebten gut. Immer gab es Zitronen auf unserem Tisch, im Winter wurden sie aus Jenisejsk mit dem Pferdfuhrwerk gebracht - in Pferdemist gehüllt, damit sie nicht erfroren.

„Kaufleute waren wir, meine Lieben, Kaufleute. Petr Grigorewitsch gehörte den Altgläubigen an, und er verehrte den heiligen Geist – wofür er später auch leiden musste“.

Man muss annehmen, dass er nur aufgrund des Wohnsitzwechsels, den Umzug nach Sibirien, Leiden zu ertragen hatte. In Jenisejsk gründete er eine Handelsbasis und betrieb Tauschhandel, in dem er zu den Kelten und Selkupen hinausfuhr, und dann schließlich beschloss, sich in der Nähe des Dorfes Monastyrskoe niederzulassen, an jenem Platz, wo sich jedes Frühjahr die Ewenken, Keten und Selkupen einfanden, um dort eine Zeit lang irgendwelche Aktivitäten zu entwickeln.

Zum Jahr 1850 verfügte er nicht nur über eine vielköpfige Familie, sondern auch über erhebliches Kapital. Das Haus und alle angrenzenden Hofgebäude wurden von Unternehmen aus Jenisjesk errichtet.

Die Siedlung erhielt den Namen Marfino, zu Ehren von Petr Grigorewitschs Mutter; sie galt als fromme Frau, aber das Volk taufte das Dorf Miroedicha. Und es taufte es so, dass später keinerlei Versuche die kleine Siedlung umzubenennen von Erfolg gekrönt waren. Ein bekanntes Phänomen – wenn das Volks sich erst einmal einen Spitznamen ausgedacht hat, dann ist es – für immer.

Das Wort „Mirojed“ ist in der Umgangssprache und der Publizistik weit verbreitet, und es bedeutet: „Ausbeuter, Kulak, Großbauer. Person, die von fremder Arbeit lebt“.

Wenn man der Erzählung Baba Leljas lauscht, kann man nicht wenige gute Gründe für die Volksbezeichnung finden. „Sie waren die reinsten Kinder, die ethnischen Gruppen, die Indigenen; sie brachten alles herbei, schleppten alle möglichen Pelze und Felle zu meinem Vater (Nikifor Petrowitsch), und wollten sie gegen Wodka und verschiedene andere Waren eintauschen. Das heißt: zuallererst gibst du ihnen Wodka, und danach nahmen sie auch gern viel Geschirr, die ringförmig gepressten Abfälle von chinesischem Tee, Perlen, Kaliko, Kattun; Geschäfte machen, natürlich, nach ja, und allen möglichen Kleinkram, wenn er nur ein bisschen schön glänzte.

Es war zum Lachen. Zobel stand hoch im Kurs, auch Füchse hatten einen hohen Preis, weil ihn niemand in Unfreiheit züchtete – er wurde nur gewerbemäßig gejagt.

Man bekam ihn also ganz umsonst, und das ist wirklich wahr! Für diesen verflixten Wodka.

Es kam vor, dass du dir mal den Magen verdorben hattest, wie sie, die Ureinwohner, die die Felle gegen Wodka eintauschen; und dann saufen sie den Wodka aus und kratzen sich verlegen am Hinterkopf, weil sie überhaupt keine Ahnung haben, wie das passieren konnte.

Gemüse bauten wir nicht an, es war für uns nutzlos. Alles, was gebraucht wurde, brachten sie „von oben“. Da war es nicht teuer, man nahm, was man brauchte und handelte dann damit. Wir erwarben alles durch Warenhandel, für Ackerbau interessierten wir uns nicht; was sollten wir da denn vor dem Haus ein Gemüsegärtchen anlegen.

Nach Petr Grigorewitsch ließen sich in Mirojedicha noch zwei Kaufleute nieder, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde Nikifor Petrowitsch Gawrilenko, der Sohn des Erstgründers und Vater von Baba Lelja, noch durch einen anderen Kaufmann – Ilja Konstantinowitsch Gawrilenko – übertroffen; sein Haus, ebenfalls mit sechs Zimmern, stand am oberen Ende des Dorfes unweit der Kirche.

Praktisch die ganze Bevölkerung betrieb Handelsgeschäfte, denn weder in Alt-Turuchansk, noch in Seliwanicha, und schon gar nicht im Dorf Monastyrskoje, gab es einen Jahrmarkt. Im Grunde genommen konzentrierte sich der gesamte Handel des Turuchansker Nordens, Ewenkiens in Mirojedicha.

Als die Frage der Verlegung der Landkreis-Regierung aus Alt-Turuchansk aufkam, da erhielt Mirojedicha den Vorzug,und allein die geeigneten Anlegestellen für Schiffe an der Mündung der Unteren Tunguska ließen die Waage zugunsten des Dorfes Monastyrskoje, dem heutigen Turuchansk, ausschlagen.

Im Alter zog sich der Erstgründer des Dorfes, Petr Grigorewitsch Gawrilenko, von den Geschäften zurück und übergab sie an seinen ältesten Sohn Nikifor.

Petr Grigorewitsch starb in Mirojedicha, und sein Grab war das erste auf dem Dorffriedhof; bis heute liegt eine steinerne Gedenkplatte darauf.

Teil III. In erster Linie eine Angelegenheit des Herzens.

Bald nach dem Tod des Vaters nahm Nikifor Petrowitsch Gawrilenko den Glauben der Rechtgläubigen an und machte sich an den Bau einer Kirche. Als Ort für das Gotteshaus wurde der schönste Platz im oberen Teil des Dorfes gewählt. Eine breite Lichtung gab den Blick gen Süden frei, auf die fernen Flussabschnitte des Jenisej, und die Strahlen der untergehenden Sonne vergoldeten die Kuppel der Kirche von Westen. Erst in respektvollem Abstand, in etwa 100 Meter Entfernung, hinter einer kleinen Schlucht, nach Norden hin, befand sich das letzte Haus im Dorf. Aleksej Poliechtowitsch Mosienko hatte es erbaut. Von der Architektur her erinnerte die mirojedinsker Kirche an die in Turuchansk, nur war jene von turuchansker Meistern aus gediegenem Holz erbaut worden und nicht aus Stein. Direkt bei der Kirche lag das Haus von Väterchen Diakon.

Was die Ausstattung betraf, so konnte sich die Kirche mit den Gotteshäusern der Stadt Jenisejsk messen; man hatte aus den besten Meisterwerkstätten Russlands ein Grabtuch nach Mirojedicha gebracht, ein Bild der Wladimirer Mutter Gottes in vergoldetem Rahmen, ein Abbild der Iwersker Mutter Gottes in silbernem Messgewand, Ikonen der „Gottesmutter Tricheironsa“ („Allheilige Jungfrau von den drei Händen“;Anm. d. Übers.) und eine Ikone „zur Freude aller, die von Kummer betroffen sind“.

Von einer Fabrik in Jenisejsk transportierte Nikifor Petrowitsch 11 Glocken heran: 2 große, 3 etwas kleinere und 6 kleine. Der schöne Klang erhob sich über das gesamte Gebiet, wenn an Feiertagen festliche Gottesdienste abgehalten wurden, und die Menschen waren voller Freude.

Baba Lelja berichtet: „Als Petr Grigorewitsch starb, haben sie auch bei uns eine Kirche errichtet, weil es ohne ihn irgendwie ungemütlich war. Und es wurden neue Bilder gebracht! Ach wie sie strahlen, Mütterchen – du meine Gebieterin!

Und alles mit Mitteln der Gawrilenkos – auch die Glocken, einfach alles.

Als allererstes muss man natürlich seine Seele schützen. Aus dem Grunde wurden auch die kleinen Kinder getauft. Wenn es auch für die Kleinen gänzlich sinnlos schien, aber es steckt in ihnen doch von Geburt an eine menschliche Seele.

Als wir, das rechtgläubige Volk, anfingen, die hiesigen Gefilde zu beleben, da begann unsere Geistlichkeit als erstes die Keten in unserem Glauben zu taufen, sich sozusagen um ihre Seelen Sorgen zu machen.

Und so kam es vor, dass sie mit ihren Pelzen bei uns, bei meinem Vater Nikifor Petrowitsch, angefahren kamen, und das war für sie wie ein Festtag – da sind sie alle, meine Lieben, und die ganze Geistlichkeit aus der gesamten Region.

Eine derartige Schönheit ist mit Worten gar nicht wiederzugeben, du, mein Mütterchen! Die Kleidung so festlich, der feierliche Gesang! Man versammelte sich an diesem Ufer, bei der Kirche und tauchte sie direkt im Wasser des Jenisej unter, diese Keten – sowohl Männer, als auch Frauen und Kinder. Und dann gab man ihnen etwas einfachere Namen – Iwan gab es dort oder Mareja, Wasilj, Makarij und Anna. Wie sie sie taufen, so werden sie auch ins Buch eingetragen; und dann wird der Wodka herangeschleppt, damit sie sich nicht erkälten, denn zu der Jahreszeit pflegt das Wasser immer empfindlich kalt zu sein.

So kommen sie, die verflixten Seelen, darauf, verzeih Herr, sich wegen dieses Wodkas viele Male unmittelbar nacheinander taufen zu lassen, bis die Geistlichkeit schließlich irgendwann dahinterkommt. Aber wie kann ein Rechtgläubiger sie auch alle voneinander unterscheiden, wo sie doch für ihn alle gleich aussehen?

Unser Brigadier, das liebe Onkelchen, das sie auf Ewenkisch Katyrgyntsch nannten, wurde so oft getauft, bis es entweder durch das Wasser oder durch den Wodka starb, und ich sage euch, liebe Leute – das ist die reine Wahrheit!“

Die Kirche in Mirojedicha existierte bis 1921, als Komsomolzen die Glocken entfernten – die beiden größten und drei etwas kleinere brachten sie mit einem Motorschiff nach Krasnojarsk, und die ganz kleinen wurden von den Frauen auseinander montiert, um sie den Kühen um den Hals zu hängen. Wenn eine Kuh sich in der Taiga verirrte, dann konnte einem das klingende Glöckchen sagen, wo sie sich befand. Der Glockenton war wunderschön.

Das letzte mirojedinsker Pater Aleksander schrieb ein Gesuch, in dem er darum bat, ihn aus seinem Rang als Geistlicher zu entheben und ihn nach Turuchansk zu versetzen, um dort als stellvertretender Leiter der meteorologischen Station zu arbeiten, die in dem Gebäude untergebracht war, in dem sich heute das Museum befindet. In jenen Jahren sagte sich nicht nur Aleksander Korsak von seinem Amt los, sondern auch viele andere Kirchendiener mit bei weitem höheren Rängen; sie alle mussten schließlich ihre Kinder irgendwie ernähren – und in Korsaks Fall waren das immerhin 10 Personen.

Obwohl er auf seinen Rang verzichtete, sagte Korsak sich dennoch nicht vom Glauben los, weil er auch danach immer noch einige wenige Gottesdienste in der Turuchansker Kirche abhielt, wo es zu der Zeit keinen Geistlichen gab.

Die Turuchansker haben Korsak eher als Schriftführer im Dorfrat in Erinnerung, denn das Ungewöhnliche an ihm war, dass er mehrere Fremdsprachen konnte, auch Sprachen nicht-slawischer Völker verstand, sich gut in Literatur, Musik und Malerei auskannte.

Und jetzt, wie Baba Lelja erzählt, „bewahren die Männer, die Fischer ihre Netze in der Kirche auf, im Gottestempel. Na ja, so ist das!“

Die Babka zischt wie ein schwelendes, verkohltes Holzscheit, das mit Wasser begossen wird.

Inzwischen haben die Männer ihre Netze nicht mehr in der Kirche; sie haben sie zerlegt, auf kleinen Baumstämmen verteilt und nach Seliwanicha verbracht; beim Bau von Wirtschaftsgebäuden haben sie sich abgerackert, damals gab es eine Menge Baumaterialien. An der Stelle der Kirche ist ein schmaler Graben geblieben – und eine Säule, die beharrlich aus dem Boden herausragt, die sich weder der Zeit noch den Widrigkeiten dieser Welt unterwirft.

Eine Sünde, aber man konnte sie begehen

In A. Efrons Roman „Mirojedicha“ tritt die rothaarihe Schurka als eine der Heldinnen in Erscheinung. Ja – es gab in Mirojedicha eine Schurka – Aleksandra Jelisarowna Gawrilenko, und sie war die Tochter von Jelisar Nikiforowitsch, dem letzten dieser Kaufmannsdynastie, der noch aktiv die Geschäfte führte; und folglich war sie die Nichte von Babka Lelja. Es bleibt allerdings rätselhaft, weshalb die rothaarige Schurka sich mehr zu Jelena Anfinogenowna Prutowych (im Roman Nataschka Fenogenowna) hingezogen fühlte, als zu ihrer Tante. Möglicherweise machte sich der Umstand bemerkbar, dass Schurka Jelena Prutowychs Stieftochter war.

Die Sache war so. Nachdem er frühzeitig zum Witwer geworden war, traf der junge Kaufmann Jelisar Gawrilenko mit seinem Töchterchen Schurka auf dem Arm, voller Energie und Pläne, in Jenisejsk eine junge Frau von außergewöhnlicher Schönheit. Und mit der Zeit nahm alles Weitere seinen Lauf.

Die Romanheldin Babka Lelja teilte uns mit, dass ihr Großvater, und später auch ihr Vater Nikifor Petrowitsch, Jelena Afinogenowna, eben jene jenisejsker Schönheit, dazu gezwungen hätten, für die gesamte Familie, aber auch für ankommende Reisende und die Leute, welche die Post in entlegene Gegenden brachten, das Brot zu backen. Und sie buk jeden Tag.

Und weil sie sie unter Zwang setzten, nahm Jelisar Nikiforowitsch, mein Bruder, Jelena in Jenisejsk „unter seine Fittiche“ – holte sie „in seine Anstalt“.

Eine Braut, die ihm gefiel, fand er hier nicht, und so begnügte er sich einstweilen mit ihr. Das war nicht verboten, man konnte es so handhaben, auch wenn es eine Sünde war. Jelena buk also Brot – eine kerngesunde Frau war sie, und auch heute noch verfügt sie über eine recht üppige Statur!

Natürlich, wäre sie nicht eine aus der „Anstalt“ gewesen, dann hätte man sie akzeptiert und sie offiziell als Brotbäckerin angestellt“.

Und hier bringt die lebendige Geschichte von Mirojedicha die Seele ein klein wenig in Schieflage. Sie hätten nicht extra jemanden eingestellt, sondern die Arbeit selber erledigt.

Aleksandra Nikiforowna (Babka Lelja) machte sich in jungen Jahren selber auf den Weg ins Kloster, wegen ihrer Abneigung gegenüber dem männlichen Geschlecht, aber dort verlangte man eine Mitgift, so dass ihr liebes Väterchen ihr davon abriet: du bist ja noch jung, einstweilen können wir das Geld lieber noch vermehren.

Nikifor Petrowitsch war keiner, der gern mit Geld um sich warf – er kannte vielmehr seinen Wert. Nur in Mirojedicha konnte man zu der damaligen Zeit die scherzhafte Redensart hören: „Trink du mal deinen Tee, Liebchen, aber trink ihn ohne heißes Wasser aufzubrühen; das heiße Wasser ist ausgegangen; trink ihn mit eingekochten Früchten, das ist schön säuerlich, ohne Zucker gekocht; trink nur, trink, hab‘ keine Hemmungen!“

Viele Jahre lebte Jelena Anfinogenowna in der Kaufmannsfamilie, aber sie konnten den Tadeln und Vorwürfen dennoch nicht entrinnen.

„Jelena, Jelena Finogenowna, ließ sich ebenfalls in der Kolchose einschreiben, erinnerte sich an unser gutes gesalzenes Brot. Als sie ihren Mann vertrieben, meinen Bruder, vergoss sie keine einzige Träne. Eine bessere Wohnung teilten ihr die Sowjetbehörden in unserem Haus zu, aber ihr war das vollkommen gleichgültig, der schamlosen Person“.

Nun, es ist nicht Baba Lelja, sondern W. Paschennaja, die in Aleksander Nikolajewitsch Ostrowskijs Lied “Gewitter“ die Rolle der Kabanicha einnimmt.

Die Anfinogenowna träumte davon Flügel zu besitzen, um damit hin und her, aber auch in ihr heimatliches Nest zurück zu fliegen. Ihre letzten Tage verbrachte sie in ihrer Heimat, aus der sie 55 Jahre zuvor ein schöner, stattlicher Kaufmann, jung und draufgängerisch, fortgebracht hatte.

Teil IV. Die Verwandten.

Der Pelz- und Fischhandel erreichte um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein solches Niveau, als dieses Tätigkeitsfeld nicht allein Nikifor Petrowitsch gepackt hatte. Im oberen Teil des Dorfes erhob sich als zweites Haus neben der Kirche das Herrenhaus des Kaufmanns Ilja Konstantinowitsch Gawrilenkos, der mit der Dynastie Nikifor Petrowitschs keineswegs verwandt war. Sie waren lediglich Namensvettern und in der gesamten Region äußerst einflussreich. Das Herrenhaus, das über sechs Zimmer verfügte und sich zusammen mit einer Scheune, einem Badehaus, Stallungen sowie einen Verkaufsstand unter einem gemeinsamen Dach befand, war von einem Unternehmer aus Jenisejsk errichtet worden.

Zu seiner Ehefrau erkor Ilja Konstantinowitsch sich Darja Konstantinowna Ponomarjowo aus Turuchansk aus, und die beiden hatten miteinander die beiden Söhne Aleksander und Wasilij, sowie die beiden Töchter Ljubow und Anna.

Hier im Hause lebte Ilja Konstantinowitschs Schwester – Marja, die später von ihrem Ehemann den Familiennamen Tschalkina trug.

Der älteste Sohn Aleksander, geboren 1901, ging in die Geschichte des Dorfes als ständiger Kolchos-Vorsitzender ein. Der direkte Erbe des Großkaufmanns entging glücklicherweise den Repressionen der 1930er Jahre, diente in der Mandschurei (sein Lieblingslied war „Auf den Bergen Mandschuriens“), verstand es während des Krieges würdig die Kolchose durch alle Unbill und Schicksalserprobungen lenkte. Er stand der Kolchos bis 1953 voran, bis in seiner allerletzten Lebenstage. Gemeinsam mit den Fischern reparierte er die Netze, verweilte tage- und nächtelang beim Fischfang oder bei der Heumahd; er war für jedermann zugänglich, vermochte es die vielfältigen Angelegenheiten nicht nur in vernünftiger Form zu definieren und zu ordnen, sondern auch ohne merklichen Druck, mit einer ganz besonderen Achtung vor der Würde eines jeden Menschen die Erledigung der anfallenden Arbeiten zu bewirken.

Bestattet wurde Aleksander Ilitsch auf dem Dorffriedhof, in dem Dorf, in dem er geboren wurde und, so gut es ging, sein ganzes Leben lang gewohnt hat.

Das Familienoberhaupt selbst, Ilja Konstantinowitsch, war kein Anhänger des „tierischen Ernstes“, sondern eher ein leidenschaftlicher Mensch. Mit Feuereifer wagte er sich an die riskantesten Dinge heran und gewann sie, er liebte es, auf gut Glück zu leben, und sich nicht Nikifor Petrowitsch als Beispiel zu nehmen, und – er kannte sich mit alkoholischen Getränken aus. Zu jener Zeit – etwa 1916 – war er verwitwet und saß irgendwie während der Heuernte längere Zeit mit Freunden zusammen, die ebenfalls nach russischer Art lebten – „bis zum Tode arbeiten, bis zum Beinahe-Tod trinken“.

Am Morgen gingen die Familienangehörigen zur Heumahd und ließen den Schlüssel für die Scheune unter den Heiligenbildern, denn sie wussten, dass der Vater morgens beten, den Schlüssel sehen und sich um seine Gesundheit kümmern würde. Aber Ilja Konstantinowitsch konnte den Schlüssel nicht finden, weshalb er offenbar auch starb, ohne irgendein Testament zu hinterlassen und ohne erklärt zu haben, wo er sein ganzes Kapital verwahrt hatte –Geld und Gold.

Und bald darauf brach auch die Revolution aus. Die Handelsgeschäfte erloschen, und schon beunruhigten Gerüchte über Kleinodien und Schätze die Gemüter der Menschen. Viele wollten ihr Glück versuchen, aber es war nicht jedem vergönnt.

Es gibt auch Gerüchte über Nikifor Petrowitschs Reichtümer. Jene Baba Lelja sagt: „Ich selber von der Kolchose nicht beigetreten, nein, was sollte ich da, so kränklich wie ich war; zu schwerer Arbeit war ich ja sowieso nicht fähig , und zu der Zeit war ich auch aus dem Alter schon längst heraus. Und die Leute sagen zu mir: aber von irgendetwas musst du ja leben, Nikiforowna! Oder hat dein Vater dir vielleicht Goldstückchen hinterlassen? „Nichts da, antworte ich, - ich lebe nicht ohne Verstand, Verstand ist mehr wert als Gold“, - das sage ich zu ihnen.

Und sie lebte und lebte – auch ohne ihre Kolchose, still und genügsam … dank dem lieben Gott und ihrem verstorbenen Elternteil.

Gold ist hier nicht angebracht; es hat nichts mit dem Leben zu tun. Sollen sie doch denken, was sie wollen!

Kriegskinder

In jenem Dorf also trafen auch 55 Siedler ein, ein Dorf, in dem Verstand mehr wert war als Gold, wo man es vorzog Handel zu treiben und nicht miteinander befeindet zu sein, wo die Fähigkeit zum Verhandeln den Menschen im Blut steckte, und wo der gesunde Menschenverstand und die gesamte vergangene Lebenserfahrung einem sagten, dass es leichter ist, wenn man guten Umgang miteinander pflegt.

Die Umsiedler waren für die Mirojedicher ebenso unerlässlich, wie die Einwohner von Mirojedicha für die neuen Siedler. Ihr Leben stand nun in einer engen Wechselbeziehung. Kolchose und Dorf existierten so lange, wie dort die Sondersiedler wohnten; als sie fortfuhren – da hörte auch das Dorf auf zu existieren, da mussten auch die Mirojedicher die heimatlichen Gefilde verlassen.

Das ist die wirtschaftliche Seite des Dörfler-Lebens; es gab auch eine andere, bei weitem gewichtigere und delikatere.

Die meisten Familien in Mirojedicha waren kinderreich, die Frauen bekamen in den Nachkriegsjahren mit einer wahrlich berückenden Begeisterung Kinder und es sieht so aus, als ob es für die Erscheinung überhaupt keine Erklärung gibt; und jedes Mal finden sich mehrere entgegengesetzte Meinungen. Die Einen vermuten, dass die staatlichen Unterstützungsgelder auf die hohe Geburtenrate der Kinder Einfluss genommen hat. Jeden Monat – anfangs 100 Rubel für jedes Kind, und ab 1955 jeweils 50. In diesem Zusammenhang erinnert man sich an einen Vorfall, als 1991 ein Ewenke aus Sowjetskaja Retschka darüber klagte, dass seine Kinder einfach viel zu schnell heranwuchsen.

- Aber das ist doch gut!

- Und wovon soll ich leben, wenn sie herangewachsen sind?

Die finanzielle Unterstützung wurde bis heute nicht abgeschafft, allerdings bekommt man sie hauptsächlich nach erfolgter gerichtlicher Klage, aber die Zahl der Kinder nimmt dadurch auch nicht zu.

Andere „Theoretiker“ bestätigen, dass zur Zeit von Katastrophen, wenn es große menschliche Verluste gibt, Frauen instinktiv die Notwendigkeit spüren, ihre Spezies zahlenmäßig wiederherzustellen; man sagt, so sei eben die Natur.

Aber wie soll man erklären, dass derzeit in Russland die Bevölkerungszahlen jäh zurückgehen und sich die Geburtenrate nicht nur nicht erhöht, sondern, ganz im Gegenteil, ebenfalls sinkt? Wo ist dieser natürliche Selbsterhaltungstrieb geblieben?

Die Sache liegt hier, wie ich meine, an den Lebensbedingungen, die sich nach dem Kriege herausgebildet haben. Dutzende Millionen Frauen waren gar nicht mehr gefragt, nicht gefragt war auch ihre angesammelte weibliche Zärtlichkeit. Diese Frauen hatten nicht die Möglichkeit eine vollständige Familien zu schaffen,; ihnen schaute die Einsamkeit geradewegs ins Gesicht.

Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit veranlasste die reifen Frauen von Mirojedicha eheliche Bunde mit während des Krieges widerstandsfähiger gewordenen Halbwüchsigen einzugehen, die nun zu jungen Burschen aus Sonderumsiedler-Familien geworden waren, und es war nicht wichtig, wie lange dieser Bund fortdauern würde, wo jetzt Väter und Kinder lebten – in Griechenland, Deutschland, Litauen oder Estland.

Wichtig ist etwas ganz anderes – sie waren nicht einsam, sie hatten Kinder, die jetzt altersmäßig alle um die 50 sein müssten, und die haben wiederum Enkel mit so bekannten Familiennamen wie: Mosienko, Gawrilenko, Osipow – und sie sind alle von hier.

Wie schwer es auch gewesen sein mag, mit der bestehenden Lebensweise, dem Heimatdorf zu brechen, die Mirojedicher gingen in der allgemeinen Masse der Turuchansker nicht unter, sie verstanden es, ihren Lebensstil und ihre hohe Geistlichkeit, ihren klaren Verstand, ihr Wohlwollen und ihren Fleiß zu wahren. Die meisten von ihnen sind lebensfrohe Menschen und feinfühlige Diplomaten.

Viele Jahre Arbeitete Petr Ilitsch Mosienko im Turuchansker Flughafen als Versorgungsleiter. Mit einem einzigen Blick auf den Menschen konnte er genau sagen, was und wie etwas am besten zum Nutzen der Sache gehandhabt werden musste. Es war leicht mit ihm zu arbeiten, angenehm und fröhlich. Er war ein hochklassiger professioneller Fachmann in Versorgungs-angelegenheiten.

Und nehmen wir als Beispiel Oleg Aleksandrowitsch Tschalkin – den ehemaligen Leiter der Transportabteilung des Luftfahrtunternehmens. Wie viele tausend Flüge hat er abgewickelt und begleitet, wie vielen Passagieren hat er zugehört und dabei geholfen, ihre Probleme zu beseitigen. Man kann das alles gar nicht aufzählen.

Mehr als dreißig Jahre arbeitete Konstantin Arsentewitsch Tschalkin als Bordmechaniker, machte sich alle Typen von Flugapparaten zu eigen – von der An-2 bis hin zur Mi-8.

In der Turuchansker Kirche ereignete sich ein Unglücksfall – „Vater“ Pawel wurde zum Dieb, er demütigte und beleidigte die Glaubensanhänger in der Weise, dass er unter ihnen Niedergeschlagenheit und Bestürzung auslöste.

Einzig und allein Anna Ilinitschna Krasnopejewa zeigte keinerlei Bestürzung. Sie sagte kurz und grob: „Ich werde aufhören an Gott zu glauben, und den Popen werde ich erst recht kein Vertrauen mehr schenken!“ Soviel Mut hatte diese Frau.

Oder Valentina Arsentewna Kowaljowa. In den Jahren des Krieges arbeitete sie als Melkerin auf der Farm für Milchwirtschaft in Mirojedicha, in den 1950er Jahren als Buchhalterin in der Kultur-Bezirksabteilung, anschließend bis zur Rente als Leiterin des Registratur-Büros des Bezirksparteikomitees. Sie war bekannt als Frau mit unerschütterlichem Charakter und unbeugsamem Willen, und sie war Enkelin des Kaufmanns Ilja Konstantinowitsch sowie die Nichte des ständigen Vorsitzenden der mirojedicher Kolchose – Aleksander Ilitsch Gawrilenko.

Heute ist sie wohl die einzige, die noch die Geschichte des Dorfes in ihrer Erinnerung trägt – von den Ursprüngen bis zum Ende der 1950er Jahre; in Mirojedicha ruht die Asche ihrer Eltern, in Mirojedicha hat sie ihre besten, ihre jungen Jahre, eine Menge Freud und Leid gelassen.

Aus Turuchansk kam Tamara Aleksjewna Mosienko nach Krasnojarsk gefahren, wo bereits ihr Bruder Nikolaj und Schwester Alina arbeiteten. Sie wohnten in Baracken, abends sangen sie ländlichem sehr zu Herzen gehende Lieder; schön sangen sie, mit viel Gefühl. Es war nicht leicht für sie am neuen Aufenthaltsort, und nicht jeder konnte sich unter den neuen Bedingungen zurechtfinden. Wie man so sagt, gelingt es nicht immer, aus jeder Kanne Milch aus Mirojedicha einen krasnojarsker Käse zu machen. Manche konnten es nicht aushalten, sie kehrten zurück, dann allerdings schon ohne romantische Träumereien, ohne Anlegestelle und mit Flausen im Kopf.

Bei Tamara Aleksejewna gestaltete sich das Leben erfolgreich. In Krasnojarsk begegnete sie einem Kursteilnehmer der Flussschifferschule, und sie beschlossen ihren weiteren Lebensweg gemeinsam zu gehen.

Die Bewohner von Mirojedicha ließen sich nicht unterkriegen und verloren auch nicht den Kopf; nur der Staat geriet wegen der Schließung von tausenden von Dörfern, ebensolchen wie Mirojedicha, in Verwirrung.

1959 kam es in der UdSSR zu einer akuten Lebensmittelkrise, es fehlte an Brot, Fleisch und anderen Nahrungsmitteln, Werktätigen fingen an, öffentliche Reden zu halten. Nikita Chruschtschow versuchte die Aufrührer streng zurecht zu weisen, aber wo liegt der Sinn? – Mit lautem Geschrei ernährst du dein Volk auch nicht. Neuland musste erschlossen und urbar gemacht werden. Und wo ist es heute, dieses Neuland? Und wen ernährt es jetzt, wenn doch 70% aller Nahrungsmittel aus dem Ausland nach Russland importiert werden? Es zeigt sich, dass sie sich gründlich verrechnet haben, vielleicht hätten sie das Geld lieber nicht für Neuland-Erschließung verschleudern, sondern es in die bestehende Landwirtschaft einfließen lassen sollen, anstatt diese zu schließen. Du hast nicht einmal Zeit dich umzuschauen, und schon kostet ein Kilo Reis plötzlich 22 Rubel – wie heute in den turuchansker Geschäften.

Unsere schwächliche Landesleitung hat beschlossen, dass sich im Hohen Norden schlicht du ergreifend zu viele Menschen fortpflanzen, es lohnt sich nicht, solche Verluste in den Norden zu tragen, sie haben angefangen „zu sparen“.

Man muss dem ehemaligen krasnojarsker Gouverneur Valerij Subow gerecht werden, welcher in diesem Jahr Abgeordneter der Staatsduma wurde. Bei seinem Treffen mit Turuchanskern sagte er ganz direkt heraus, dass es bei der heutigen Situation keinerlei Sinn macht, im Norden zu leben. Wenn jemand die Möglichkeit hat – soll er von hier wegfahren. Eine solche Bemerkung wirkte wirklich abstoßend auf unsere Ohren, sie war mehr als empörend. Aber der Gouverneur hatte ja recht.

In den 1970er Jahren stieg die Bevölkerungszahl im Bezirk auf über 17000, überall wurden Arbeitskräfte benötigt, und die Löhne und Gehälter waren nur in Norilsk noch höher. Die Preise waren so hoch wie die in Krasnojarsk. Viele Turuchansker kehrten in ihre kleine Heimat zurück. Und so taten es auch Tamara Aleksejewna und ihr Ehemann. Leben wollen, leben, durch die Jahre dahineilen, aber anstelle des Lebens - Einöde und die mit Brettern vernagelten Fenster der ehemaliger Geschäfte, des Hauses für Dienstleistungen (in denen es Nähereien, Reparaturwerkstätten usw. gab; Anm. d. Übers.), ganzer Mikrorayons. Und wieder einmal – zum wievielten Male? - beginnen die Menschen im eigenen Land Zuflucht zu suchen, sie, die Fortgetriebenen, ähnlich wie der Steppenläufer-Pflanze, die an einem regnerisch-trüben Herbsttag über die endlosen Weiten Russlands im Winde fortweht.

Sowohl der Präsident als auch die Regierung und die Deputierten der Staatsduma wissen, dass Russland ohne seinen Norden nicht weiterleben kann, sie wissen es – und hören trotzdem nicht auf, das alles noch weiter zugrunde zu richten.

Weshalb haben sich Geologen im turuchansker Bezirk eine geologische Station eingerichtet? Weil es hier eine soziale Infrastruktur gab: Transportmittel, eine Nachrichtenverbindung, Schulen, Krankenhäuser.

Man hört, dass hier die Bankorsker Erdölvorkommen gefördert werden. Warum zieht das ausländische Unternehmen an? - Weil es in der Umgebung überall eine Infrastruktur gibt, bewohnte Orte. Sie vertreiben die Nordbewohner - wer wird hierher zurückkehren? Wie viel Geld muss man einbringen, um diese riesigen Weiten von neuem bewohnbar zu machen, zu beleben, und woher wird man die Menschen nehmen, für die minus 30 Grad bereits den Frühling bedeuten?

G. BESPALOW
„Igarsker Nachrichten“, N° 94-97 (10944-10947), 24.-31.08.2000
(Zeitung, herausgegeben in der Stadt Igarka)


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