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Die erste Kolyma-Expedition der Gesellschaft «Memorial»

Echo des GULAG

Vor zwei Jahren, lud der Autor dieser Zeilen die Teilnehmer des Seminars der Mitglieder der Gesellschaft «Memorial», das im Museums des Totalitarismus «Perm-36» im Dorf Kutschino, Gebiet Perm, stattfand, seine Gleichgesinnten an die Kolyma ein – um dort Überreste der Besserungs-/Arbeitslager zu besuchen. Und so traf am 10. August in Jagodnoje eine Gruppe Aktivisten der Gesellschaft aus Moskau, Krasnojarsk und Perm ein.

Geleitet wurde die Expedition von dem Historiker und Mitarbeiter des Museums in Kutschino – L.A. Obuchow. Mit ihm waren vier weitere Männer aus Perm, zwei aus Krasnojarsk und ebenso viele aus Moskau, von der Internationalen Organisation «Memorial» gekommen.
Unter den Ankömmlingen befanden sich nicht nur Historiker und Museumsmitarbeiter, sondern auch Geologen, Archäologen, Kameraleute, Fotografen, Designer, Archivmitarbeiter.

Die Permer nannten die Expedition «Erste Kolyma-Expedition zu den Überresten der Lager». Die erste, weil im kommenden Jahr eine neue gemeinsame Forschungsreise der Krasnojarsker «Memorial-Gesellschaft», des Museums «Perm-36» und der Jagodinsker Gesellschaft «Suche nach ungesetzlich verfolgten Personen» auf der «Todesstrecke», der Bahnlinie von Inta nach Salechard.

Die Bekanntschaft der Gäste mit unserer Region begann in Magadan, genauer gesagt – mit der Kolymsker Trasse, auf der sie vom Flugplatz nach Jagodnoje gefahren waren. Alle, ohne jegliche Ausnahme, waren begeistert von der Kolymsker Natur und baten den Fahrer mehrmals auf der Trasse anzuhalten, um Fotos und Videoaufnahmen zu machen. Reiseführer war der Fahrer des Kleinbusses Sergej Nasarenko, der ursprünglich aus der Siedlung Mjakit stammt, heute jedoch in Palatka wohnt.

Die Bekanntschaft mit unserem Bezirk starte am nächsten Tag. Die Permer wollten vor allem wissen, an welchen Orten der Schriftsteller Warlam Tichonowitsch Scharlamow seine unrechtmäßige Strafe verbüßte. Seine Lager- «Odyssee» begann in den Permer Lagern, mit Wischera, wohin er Ende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gelangte. Im Museum «Perm-36» wird eine Ausstellung vorbereitet, die dem Gedenken an den Schriftsteller gewidmet sein soll.

Am ersten Tag waren die Besucher am Ort des Lager-Krankenhauses Belitschja, sieben Kilometer von Jagodnoje entfernt, wo Warlam Tichonowitsch in den vierziger Jahren gearbeitet hatte. Anschließend kam die Siedlung Dschelgala – dort musste der Gefangene Schalamow ebenfalls schuften. Am 12. August begaben sich die Teilnehmer der Expedition nach Elgen – den Ort des berühmten Frauenlagers, von dem heute nur noch eine einzige Baracke übriggeblieben ist - und etwa 60- 80 Meter Stacheldraht-Umzäunung.

Die Memorialer waren sehr ergriffen, als sie am Ortsrand von Elgen den von Lärchen und Gestrüpp überwucherten Kinderfriedhof besuchten, auf dem inhaftierte Frauen ihre im Lager geborenen und verstorbenen Kinder begraben hatten. An jenem Tag waren wir auch in der Siedlung Ust-Taskan.

Die Gäste besuchten auch die «Serpantinka» - einen Gedenkstein zur Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen an der Stelle, an der sich Ende der dreißiger Jahre das Erschießungsgefängnis befand, in dem Massen-Erschießungen von Häftlingen vorgenommen wurden...

Am 14. August begab sich die Expedition auf die Haupt-Reiseroute: Jagodnoje - Sussuman – eine Siedlung namens Matrossowa - «Butugytschag» - Ust-Omtschug - Palatka - «Dnjeprowskij» - «Kinschal» - Debin - Jagodnoje.

Hauptzweck der Reise waren ein Besuch der Überreste der Lager des «Butugytschag», des «Dnjeprowsker» Lagers und des Lagers «Kinschal», sowie der Siedlung Matrossow, wo Anfang der 1980er Jahre der Menschenrechtler S.A. Kwalew seine Verbannungsstrafe verbüßte, und der Siedlung Debin, wo Warlam Tichonow Schalamow als Sanitäter im Krankenhaus arbeitete.
In der Siedlung Matrossow wurden sie begrüßt und im Gasthaus untergebracht. Alteingesessene zeigten ihnen die halb verfallenen Gemeinschaftswohnbaracken, in denen einst Verbannte wohnten, und das Club-Gebäude und erzählten von ihren Erinnerungen an die Vergangenheit.

Am frühen Morgen des 15. August fuhren sie weiter über die Tenkinsker Trasse in Richtung Ust-Omtschug. Vor Erreichen des Bezirkszentrums, das noch 40-50 Kilometer entfernt lag, bogen sie nach links ab und schlängelten sich etwa 10 Kilometer auf der Straße dahin. Am Mittag trafen sie im «Butugytschag» ein...

Ich war schon einmal an diesem düsteren Ort gewesen, doch diesmal sah er nicht so aus wie damals. Die wohlriechende Natur verbarg die halb verfallenen Lagergebäude, Wachtürme und Pfosten, an denen der Stacheldraht befestigt war, vor unseren Augen. Das Tal war von strahlendem Sonnenlicht durchflutet, monoton plätscherte der Butugytschag-Bach vor sich hin, ab und an schrie ein Tannenhäher.

Nach dem Mittagessen beschlossen wir, dem eineinhalb Kilometer von unserem Aufenthaltsort entfernten Lagerfriedhof einen Besuch abzustatten.

Nachdem wir den Hügel hinaufgestiegen waren, sahen wir hunderte nicht sehr hoher Absteckungspfähle mit Blechdeckeln von Konservendosen, mit den eingeschlagenen Seriennummern der Gräber. Viele der Pfosten waren verwittert und angefault und waren auf die niedrigen Grabhügel gefallen.

Länge des Friedhofs – etwa dreißig Meter, Breite - ungefähr 40-60 Meter. Nach unseren Berechnungen betrug die Anzahl der sichtbaren Grabstätten (Pfosten mit Blechdeckeln) rund eintausend.

Beim Anblick dieser künstlichen Palisade war uns nicht wohl zumute, aber ein noch schrecklicheres Bild bot sich ganz am Anfang des Friedhofs: aufgebrochene Gräber und umherliegende menschliche Knochen...

Nein, es waren keine wilden Tiere gewesen, die hier die Asche der Unglückseligen geschändet hatten – das war das Werk von Menschenhänden.

Anfang der 1990er Jahre schrieb die Zeitung «Magadanskaja Prawda» über junge Leute aus Ust-Omtschug, die, nachdem sie auf den Lagerfriedhof gekommen waren, einige Gräber aushoben und die Überreste daraus entwendeten. Später; in der Diskothek, «verstärkten» sie dort den Effekt der Lichtorgeln mit den Schädeln...

Soweit mir bekannt ist, verhängte niemand für diesen Frevel eine Strafe...

Ein noch viel gruseliges Bild sahen wir am nächsten Tag, als wir im Dickicht der Lärchen und Zwergkiefern einen «freien» Friedhof entdeckten.

Die hölzernen Gedenktafeln waren heruntergerissen und zerbrochen, die Gräber geöffnet, überall verstreut lagen Särge und menschliche Knochen. Auch das – eine Tat jugendlicher Banden. Uns blieb nichts anderes übrig, als die Überreste einzusammeln und sie erneut der Erde zu übergeben.

Am Abend, vor dem Essen, teilten wir unsere Eindrücke über das, was wir gesehen hatten, und beschlossen uns in drei Gruppen aufzuteilen, um besser untersuchen zu können, was vom Lager in dem dazugehörigen Territorium noch geblieben war.

Am folgenden Tag machte sich die erste Gruppe auf den Weg zu der Stelle, an der einst das Lager «Butugytschag» gestanden hatte. Die zweite, zu denen auch der Autor dieser Zeilen gehörte, sollten den Hügel hinaufklettern, drei-vier Kilometer weit laufen, - dorthin, wo sich die Überreste des Lagers «Gornjak» befanden. Die Marschroute der dritten Gruppe, die sich über etwa zehn Kilometer erstreckte, lag hinter einem kleinen Pass und führte in Richtung des Tschapajew-Lagers. Die letzte Gruppe machte sich per Autobus auf den Weg…

Im Lager «Gornjak» hielt ich mich im Juni 1993 auf. Leider konnte ich damals die Lagerzone aufgrund mangelnder Zeit und wegen schlechten Wetters (es schneite) nicht gründlich genug untersuchen. Jetzt ergab sich die Möglichkeit dazu.

Bis zum Fuß der Bergkuppe, an dessen steilem Hang das Lager gelegen war, waren wir zwei Stunden unterwegs. Eine weitere Stunde mussten wir über das Geröll der Arbeitszone klettern. Ich vereinfachte mir den Weg ein wenig, indem ich nicht über die Geröllbrocken in der Arbeitszone lief, sondern über die Steine der Wohnzone, das heißt im Lager selbst.

Ein paar Gebäude aus Stein mit eingestürzten Dächern erweckten von unten den Eindruck einer uneinnehmbaren Festung, umrankt von drei Reihen Stacheldrahtzaun. An der Stelle, an der ich meine Untersuchung begann - ein eingestürzter Wachturm. Trotz der abschüssigen Bergkuppe – einem Winkel von 45 Grad, - standen die Gebäude horizontal auf ihren steinernen Fundamenten. Angeordnet waren sie wie in drei Ebenen. Die Größe der Lagerzone betrug etwa 300 mal 60 Meter.

In der untersten Ebene befanden sich ein paar Gebäude aus Stein ohne Dächer, die eingestürzt waren. Man konnte sich unschwer ausmalen, was sich damals in ihnen befunden hatte.

Dort das Isoliergefängnis, umgeben von zwei Reihen „Stacheln“. Dort ein paar Einzelzellen sowie eine Gemeinschaftszelle mit vergitterten Türen und kleinen Guckfenstern. In den erhaltenen gebliebenen Holztüren - Gucklöcher, in den Zellen - Pritschen. In dem der Wache am nächsten gelegenen Bau, hatte sich offensichtlich die Sanitätsabteilung befunden. Dies lässt sich anhand von Fragmenten durch Arzneimittel entstandener Bläschen vermuten. Es folgen einige zerstörte Gebäude. Hinter den Ruinen, etwas näher zum Wächterhaus gelegen, der halbverfallene Bau der ehemaligen Küche und Kantine mit Wasserleitung, Kesseln, Kanonenöfen, Scherben von Geschirr. Hier entdeckte ich sogar noch ein Küchenmesser…

Auf der zweiten Ebene – Baracken, Werkstätten, Lagerhäuser, ein Badehaus mit Wäscherei. Etwa zehn Meter von der Wache entfernt ein Gelass von etwa 10 x 15 Meter Größe. Hier befand sich, aller Wahrscheinlichkeit nach, ein Lagerraum – vielleicht für Kleidung oder Arbeitsinventar. Durch das Fensterchen in der Tür wurden an die Gefangenen vermutlich das herausgegeben, was hier gelagert wurde.

Weiter – ein ebener Platz von 60 x 20 Meter. Nach unserer Mutmaßung muss sich auf dieser Fläche ebenfalls eine Unterkunft für die Gefangenen befunden haben.

Acht Meter weiter – eine zweistöckige Wohnbaracke. Eine Hälfte der Baracke ist noch recht gut erhalten geblieben. Im ersten Geschoss – keine Wohnräume, wenngleich sich dort einige Pritschen und sogar Betten und Kanonenöfen befinden.

Was sich hier einst befand, war nicht schwierig zu definieren. In einem gut erhaltenen Zimmer, links von der Treppe, die in den ersten Stock hinaufführt, befinden sich an der Wand – Kleiderhaken und Rohre für eine Wasserheizung, ein Kannenofen sowie ein Eisenbett. Hier befand sich offenbar der Trockenraum, wo die Gefangenen nach der Arbeit ihr Schuhwerk und ihre Kleidung zum Trocknen abgaben. In den anderen Räumen befanden sich höchstwahrscheinlich Werkstätten – zur Reparatur von Schuhen sowie eine Schneiderei. Auch hier Kleiderhaken, Überreste von Kleidungsstücken, Kanonenöfen und Bettstellen. Offenbar wohnten diejenigen, die für die Häftlinge die Schuhe und Kleider instand setzten, auch hier, wobei sie sich «Vergünstigungen» zunutze machten: sie schliefen nicht auf Pritschen, sondern in Betten.

Der zweite Stock der Baracke wird von einer Doppeltür in zwei Hälften unterteilt. In jedem Teil gibt es 148 Pritschen, jeweils zwei Kanonenöfen und zwei Fenster auf jeder Seite. Die Wände sind weiß gestrichen. Die Pritschen sind zerlegbar. An der Decke – Bruchstücke von elektrischen Leitungen.

Weiter in Richtung Lagerzonen-Grenze eine Einrichtung, die an ein Badehaus erinnert. Hier gibt es mehrere große Eisenöfen, Metallbehälter, Waschbecken, hergestellt aus Konservendosen, eine Metallinstallation mit Türen – vermutlich der Saunaraum und die Entlausungskammer.
Die dritte Ebene sah ungewöhnlich aus.

Offenbar lebten hier, in der dritten Ebene, Freie – möglicherweise der Lagerleiter oder Bergbau-Spezialisten.

Das Ungewöhnliche an dem, was wir sahen, bestand darin, dass die Gebäude (und es waren ihrer drei, deren Wände allesamt eingestürzt waren) aus Holz gebaut und mit Sögespänen gedämmt waren.

In den Häusern waren noch halbe Backsteinöfen mit Ofenrohren erhalten, an denen sich oben anstelle von Gusseisen zehn Millimeter dicke Eisenblätter mit Öffnungen für Kochplatten befanden.
Die Konturen eines der Häuser waren mit einem Staketenzaun umgeben, in dem sogar eine Pforte erhalten geblieben war. In dem kleinen Vorgarten von etwa drei mal vier Metern Größe, war an einem Querbalken, der zwischen Rundhölzern befestigt war, eine Kinderschaukel in Form eines Bootes eingehängt. Die Schaukel funktioniert im Übrigen bis heute.
In einem anderen Gebäude liegen ein zerbrochener Geschirrschrank in Originalausführung sowie ein paar Schüsseln und Krüge aus Aluminium herum, die offenkundig Freien gehörten.
Das alles bestätigte die Vermutung, dass im oberen Teil des Lagers Freie lebten, und zwar mit ihren Familien; sie hatten Kinder, woher sollten sonst die Kinderschaukel und ein halb aus Holz gebautes Fahrrad herrühren, das ich außerhalb der Lagerzone fand? Das Fahrrad nahm ich für unser Museum mit.

Und das häusliche Inventar – Betten, Möbel und sogar Geschirr – bezeugten, dass der Alltag der hier lebenden Menschen sich in mehr oder weniger zivilisierter Weise abspielte.

Besondere Verwunderung rief bei allen die Existenz von Kindern in dieser gruseligen Umgebung hervor. Schließlich gibt es hier – weder ein Fleckchen normaler Erde noch ein einziges Bäumchen, sondern nur riesige Steine und Stacheldraht. Die Kinder sahen lediglich Lagerbaracken, Gefangene und Gras, das im Vorgarten am Haus wuchs. Nichtsdestoweniger lebten die Kinder in diesem steinernen Zarenreich...

Während ich die Lagerzone untersuchte, näherten sich der Video-Filmer Andrej Korschunow aus Perm, die Moskauerin Olga Blinkina und Aleksej Babij aus Krasnojarsk. Ihre Verwunderung kannte ebenfalls keine Grenzen.

Nachdem wir den Lagerbereich gründlich erforscht und einen detaillierten Plan davon angefertigt hatten, begaben wir uns an die höchste Stelle der Bergkuppe – dorthin, wo die Öffnungen der Stollen gähnten und irgendwelche merkwürdigen Strukturen emporragten.

Und wieder offenbarte sich unseren Augen ein abenteuerliches Bild.

Die Spitze des Hügels war von riesigen, über den Kamm verlaufenden, Gräben von etwa 60-80 Metern Tiefe und 3-4 Metern Breite durchkreuzt. Matt-weißes Gestein, an Marmor erinnernd, schien durch seine Masse fest zusammengepresst, und es war furchterregend, sich diesen Gräben zu nähern. Die Ausrichtungsstrecken klafften in diesem merkwürdigen Gestein, aus der Dunkelheit wehte eine tödliche Kälte und Feuchtigkeit herauf.

In einen der Stollen versuchte ich vorzudringen. Ich beleuchtete den Weg vor mir mit einer Taschenlampe und begann mich vorzutasten, doch nach ungefähr acht Metern stieß ich auf ewigen Frostboden.

Aus dem Stollen führten Schienen ins Freie, auf denen das Abfallgestein zu den Halden abtransportiert wurde.

Auf der anderen Seite des Hügels, zu dem wir dann vordrangen, lagerten hunderte Tonnen Gestein, die man aus dem Schacht hinausbefördert hatte. Genau hier wurde Kassiterit gefördert - Zinn.

Hier liegen überall verstreut Arbeitswerkzeuge, Kleidung und Schuhwerk der Gefangenen herum. Auf den Schutthalden und am Eingang zum Schacht, als wären es Bewacher der Geschichte, Mechanismen von beeindruckender Größe: Seilwinden, Seiltrommeln, Loren, Elektromotoren, Pumpen, Steigleitern, hunderte Meter Rohre mit einem Durchmesser von bis zu 200 Millimetern.

Etwas weiter unten – Wände aus Stein mit einer Höhe von mehr als zwei Metern und einer Stärke von bis zu einem Meter. Wozu dienen sie – keiner von uns konnte eine Antwort darauf geben. Eine der Vermutungen war: Steinklumpen wurden aus dem Schacht herausgeholt und hier speziell als Material für den Bau von Baracken und verschiedenen Produktionsräumlichkeiten gelagert. Anders Baumaterial gab es im Umkreis von mehreren Dutzend Kilometern schlicht und ergreifend nicht.
Übrigens war die Arbeitszone des Lagers nicht von «Stacheldraht» umgeben. Möglicherweise diente auch diese Mauer aus Steinen als Hindernis bei Fluchtversuchen. Alle waren sich einig, dass ein Stacheldrahtzaun an dieser Stelle auch absolut unsinnig gewesen wäre – ringsumher eine derartige Walachei, dass man praktisch nirgendwohin hätte fliehen können. Flucht hätte den sicheren Untergang bedeutet.

Und dort drüben noch eine andere Anlage – wie aus der Welt der Fantasie.

Auf dem Gipfel der Anhöhe – eine Kette zwanzig Meter hoher Blockhalden – mit bizarren Felsvorsprüngen. Zwischen zwei von ihnen – ein Kraftwerk. Zwei Wände aus natürlichem Gestein, zwei aus riesigen Felsblöcken. Im Inneren der Anlage sind bis heute die Gerippe von Transformatoren, riesige Porzellan-Isolatoren, Brocken von Stahl- und Aluminium- Leitungen erhalten geblieben...

Als nicht weniger grandios und schrecklich erwiesen sich die Informationen der ersten Gruppe, die das Lager «Butugytschag» untersucht hatte, wo nach Augenzeugenberichten und Veröffentlichungen der regionalen Presse Uran abgebaut wurde.

Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde hier tatsächlich irgendein radioaktives Material gefördert, denn die Strahlungswerte in im Bereich der Verarbeitungszone durch die Aufbereitungsanlage, in der hunderte Tonnen gelber Sand gelagert sind – Abfallprodukte aus der Produktion, liegen deutlich über dem zulässigen Wert. Das hatte ich aber vorher bereits gewusst.

Die Leute aus Perm, die das Lager-Territorium «Butugytschag» erforschten, hielten sich von diesem von Menschenhand geschaffenen Berg fern, denn sie hatten Angst verstrahlt zu werden, allerdings drehten sie trotzdem einen Videofilm und machten Fotos.

Und daneben fanden sie einzigartige Objekte aus der Lagerzeit.

Im wilden Dickicht der Lärchen und Zwergkiefern entdeckten die Jungs Überreste irgendeiner Anlage. Eine eindeutige Antwort, was sich hier damals befunden haben mochte, hatte keiner von uns parat, jeder sprach lediglich seine Vermutung aus.

So brachte J.W. Reschetnikow die Version hervor, dass sich im Lager «Butugytschag» ein Hippodrom befunden haben könnte.

Möglicherweise war der Lagerleiter ein Liebhaber des Pferderennsports gewesen, der beschlossen hatte, innerhalb seines Einzugsbereichs eine Rennbahn zu bauen. Die nicht fertig gebauten Gebäude könnten laut Jurij Wassiljewitschs Überzeugung tatsächlich ein Hippodrom gewesen sein, denn seine imposante Fläche beträgt mehr als 1000 Quadratmeter und die Höhe der Betonwände etwa acht Meter. Daneben ein Gebäude, der an einen Pferdestall erinnert...

Die meisten der entdeckten Objekte sprachen für sich selbst.

Beispielsweise das Isoliergefängnis, das zur Hälfte in die Erde eingegraben ist, mit vier Einzelzellen aus Beton und einer Größe von ungefähr 80 Zentimetern mal 2 Metern sowie einer Gemeinschaftszelle von drei mal drei Metern mit mächtigen Gittern an den Türen und den kleinen Fensteröffnungen. Umgeben sind sie von zwei Reihen Stacheldraht, die mit Laternen bestückt sind.

Ein weiterer Bau – der Klub und die Kantine mit einem aus Steinen errichteten Haupteingang, Fensterchen für die Essensausgabe, eine Bühne und Räume hinter den Kulissen – eine Künstlerwerkstatt (wir fanden dort einige Dosen mit Farbe), ein Schmink- und Umkleideraum, der direkt auf die Bühne hinausführte.

Im Saal, an den Wänden, sind noch einige Halterungen erhalten geblieben. Vielleicht wurden an ihnen Vorhänge oder Beleuchtungselemente befestigt.

Daran, dass es sich hier um den Klub und gleichzeitig auch um die Kantine gehandelt haben muss, zweifelte niemand, aber dass hier Häftlinge verpflegt worden sein sollen, fiel doch schwer zu glauben.

Andererseits – für wen war diese Räumlichkeit errichtet worden? Freie gab es im Lager nur wenige, und in einem derart großen Saal - 80 Quadratmeter – hat man wohl kaum ausschließlich Freie und ihre Familienangehörigen bedient. Obwohl auch die Version aufkam, dass in der Kantine die Häftlinge verpflegt wurden, die in der Mechaniker-Werkstatt arbeiteten, die nur zwanzig Meter von der Kantine bzw. dem Klub entfernt lag.

Alle waren sich darüber einig, dass eine der erhalten gebliebenen Wandflächen mit acht Metern Höhe und ungefähr zwölf Metern Länge und mit Doppeltüren versehen Teil irgendeiner Reparatur-Werkstatt gewesen ist. Die gegenüberliegende Wand ist nach innen zusammen, und die Länge des Raumes, klar erkenntlich an den eingestürzten Betonruinen, kann nicht weniger als 40-50 Meter ausgemacht haben.

Das an dieses Gebäude anschließende Gelände ist mit Steinen ausgelegt, hier befindet sich – ein Steinsockel, auf dem sehr wahrscheinlich ein Denkmal zu Ehren Stalins errichtet war. Es folgen betonierte Stufen, die in eine Art Park mit steinernen Bänken führen.

An einer Stelle, beinahe im Zentrum des vermuteten Erholungsparks, wächst eine hoher Nadelbaum, dessen Stammdurchmesser mehr als 40 Zentimeter beträgt. Der Baum stammt offenkundig nicht von der Kolyma; er wurde vermutlich vor mehr als einem halben Jahrhundert von jemandem vom «Festland» hierhergebracht. Die Permer meinten, es sei eine Edeltanne.

Die Reise der dritten Gruppe verlief hinsichtlich der Erforschung weniger erfolgreich. Das Tschapajew-Lager ist praktisch nicht erhalten geblieben, an seiner Stelle sind lediglich einige halb verfallene Gebäude übriggeblieben, über die sich keine Aussagen treffen lassen.

...Vier Tage lang arbeiteten die Mitglieder der Expedition auf dem Gelände, wo sich in der Vergangenheit ein Lager befunden hatte. Dabei fertigten sie eine grobe Skizze der Lage der Gebäude auf dem Gelände jedes einzelnen Lagers an, stellten mit Video- und Fotoaufnahmen alles Gesehene dar und versuchten zu definieren, wo sich das eine oder andere innerhalb der einzelnen Lagerzonen einst befunden hatte. Doch damit war die Forschungsreise noch nicht beendet.

Am 19. August verließen die Memorialer das «Butugytschag» und setzten ihre Reise zunächst auf der Tenkinsker, anschließend auf der Kolymsker Trasse fort – bis zur ehemaligen Siedlung Makit.

Hier bogen wir nach links ab und nachdem wir innerhalb einer Stunde etwa 20 Kilometer zurückgelegt hatten, kamen wir ins Lager «Dneprowskij».

Hier wurde seinerzeit ebenfalls Zinn gefördert, doch im Gegensatz zum Lager «Gornjak» bestanden alle Gebäude hier aus Holz. Einige von ihnen sind recht gut erhalten – zum Beispiel, bei einem Dutzend Wachtürmen am Rande des Hügels, die Arbeitszone – Schachtstollen, Fördertürme, ein paar Produktionsgebäude wie Schmiede, Badehaus, Klempner-Werkstatt.

Von der letzten sind nur Berge von Konservendosen und dünne Blätter aus Eisenblech erhalten geblieben. Gerade für derartige Werkstücke wurden Konserven aus dem ganzen Lager dorthin gebracht, und das Metall wurde hauptsächlich für den alltäglichen Bedarf genutzt: man fertigte daraus Schüsseln und Becher, Töpfe und Teekannen, Badewannen und Waschtröge, sogar Dächer wurden mit diesen Blechen gedeckt. Ferner wurden daraus die Lampen hergestellt, mit denen das Lagerterritorium ausgeleuchtet wurde...

AM Morgen begann es zu regnen, doch er störte bei der Untersuchung der Lagerzone nicht.
Ebenso wie im «Butugytschag», teilten sich die Mitglieder der Expedition in drei Gruppen. Am späten Abend kehrten sie zum Lager zurück und teilten ihre Eindrücke über das Gesehene miteinander.

Die zweite Gruppe, zu der auch ich gehörte, erwies sich bei der Suche als weniger erfolgreich. Wir entdeckten lediglich einige Zink-Schächte mit einem Dutzend Wachtürmen und Gebäude, die an eine kleine Soldaten-Kaserne erinnerten.

In dem Gebäude befanden sich einige Gestelle zur Aufbewahrung von Gewehren, dort standen Kanonenöfen, Betten, und es gab so eine Art Küche – auf dem Herd aus roten Ziegelsteinen thronte ein gusseiserner Kessel mit ungefähr 50 Liter Fassungsvermögen. Auf dem Dachboden entdeckten wir Fetzen von einem Wintermantel und einer Soldaten-Uniform. Vor der Baracken-Kaserne – ein Reck und ein Barren. Bedeutsameres konnte unsere Gruppe nicht auffinden.

Die erste Gruppe, die den äußeren Rand der Lagerzone untersuchte, entdeckte auf einem der niedrigeren Anhöhen einen Lagerfriedhof. Am folgenden Tag begaben wir uns ebenfalls dorthin.

Der Friedhof war nicht von der gleichen beeindruckenden Größe, wie der des «Butugytschag», - vielleicht sechzig Holzpfähle, mehr nicht. Die Gräber waren sorgsam mit Steinen bedeckt, der Kirchhof von einer Reihe Stacheldraht umgeben. Ein Grab war zur Hälfte aufgegraben, aber an der Oberfläche waren keinerlei menschliche >Überreste sichtbar.

Einige verfaulte Pfähle lagen auf den Grabhügeln. Wir stellten sie auf die Gräber und festigten ihren Stand mit Steinen.

Eines der Gräber verwunderte uns sehr. Anstelle eines gewöhnlichen Holzpflocks stand ein Kreuz darauf, und die Steinaufschüttung war höher als auf den anderen Grabhügeln und die Steine akkurater angeordnet. Wessen Asche mag hier ruhen?

Wir kamen zu er einstimmigen Meinung, dass das Kreuz von jemandem nach der Liquidierung des Lagers zum Gedenken an einen Angehörigen aufgestellt worden sein muss, der seine Strafe im «Dneprowsker» verbüßt hatte.

Es gelang nicht die Wohnzone zu entdecken, doch die Stelle, an der sich die Lagerbaracken befunden haben, konnten wir festlegen. Außer einigen hölzernen Fundament-Gerippen ist hier nichts erhalten geblieben.

Die dritte Gruppe hatte am meisten Glück. Außer Produktionsgebäuden an der Grenze der Lagerzone, entdeckten die Jungs eine Behausung für Freie.

Akkurate Häuschen mit Ziegelöfen, weiß gestrichenen Wänden, geschnitzten Fenstern und Veranden und sogar Stuck im Inneren zogen die Aufmerksamkeit auf sich.

Die Häuschen lagen versteckt im undurchdringlichen Dickicht der Bäume, und am Ufer des Neriga-Flusses, etwa zwei Kilometer von der Haupt-Lagerzone entfernt, gelang es auch die Überreste einer Anreicherungsanlage ausfindig zu machen: mächtige Beton-Fundamente, auf denen riesige Behälter installiert waren, Elektromotoren und Pumpen, Belüftungsrohre, Förderbänder und andere Mechanismen. Die Wände waren von irgendjemandem niedergebrannt worden. Hier, bei den Ruinen, tausende Tonnen verarbeiteten Zinn-Erzes...

Mir gelang es ebenfalls, an diesem Ort, an dem sich einst die Fabrik befand, herumzuwandern. Etwas abseits davon entdeckte ich Überreste eines Automobils der Marke «SIS-5».

Diese Fahrzeuge verkehrten in den vierziger und fünfziger Jahren auf den kolymsker Straßen. Während des Krieges wurden sie aus Mangel an Benzin zu «Gasgens» (Gas-Generatoren-Fahrzeuge; Anm. d. Übers.) umgebaut, in denen anstelle von Benzin Holz verwendet wurde.
Es versteht sich von selbst, dass das Auto nicht vollständig erhalten ist, aber das hölzerne Führerhaus, die Motorhaube und das Führerhaus, die noch sehr gut den Markennamen «SIS-5» erkennen ließ, sind recht gut erhalten. Ein paar Meter weiter, im Gebüsch, fand ich eine hölzerne Karosserie von diesem oder einem anderen gleichartigen Fahrzeug sowie einen Reifen mit Schlauch, vielleicht sogar aufgepumpt, - denn er sah noch recht prall aus. Es stellte sich heraus, dass sich an dieser Stelle eine Garage befunden hatte. Wir entdeckten hier zwei hölzerne Führerhäuser der Marke «SIS».

...Drei Tage untersuchten die Mitglieder der Expedition das Lager «Dneprowskij». In dieser Zeit wurden interessante und wichtige Informationen für die kommenden Generationen gesammelt, Fotos und Video-Aufnahmen gemacht und ein Plan des Lagers erstellt.

Am Morgen des 22. August setzte die Expedition ihre Marschroute entlang der Kolymsker Trasse in Richtung Lager «Kinschal» fort.

Leider hatten wir hier kein Glück, denn gegen zehn Uhr setzte Regen ein, der, ohne auch nur einmal aufzuhören, bis zum Abend andauerte und dann auch noch die ganze Nacht und den nächsten Tag über anhielt. Das Wasser in den Bächen und Flüsschen stieg merklich an, und wir waren gezwungen, das Lagerterritorium zu verlassen, weil wir fürchten mussten, hier für längere Zeit festzusitzen.

Übrigens begegnet mir dieses Erzgrube (ebenfalls Zink) bereits zum dritten Mal in Folge mit derartigem Wetter. Dennoch war ich nicht sonderlich verstimmt darüber, weil ich es bereits 1989 ausgiebig durchforscht hatte. Schade nur, dass den Gästen diese Möglichkeit nun genommen war.
Nichtsdestoweniger waren alle Teilnehmer der Expedition zufrieden.

I.PANIKAROW, Teilnehmer der Ersten Kolyma-Expedition zu den Überresten der Lager, Vorsitzender der Jagodninsker Gesellschaft «Suche nach ungesetzlich unterdrückten Personen».
Fotos des Autors

Anmerkung der Redaktion der Seite: da die Fotografien in der Zeitung von ihrer polygrafischen Qualität her sehr schlecht waren, tauschten wir sie gegen Fotos von Aleksej Babij aus.

„Sewernaja Prawda“ („Nordische Wahreheit“, 07. - 14.09.2002

 


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