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Die Bezirks-"Troikas" lüften ein wenig die Geheimnisse

Zum Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen

Alles ist für immer durcheinandergeraten,
Und ich kann jetzt nicht erkennen,
Wer ein Tier und wer ein Mensch ist,
Und ob ich lange auf die Hinrichtung warten muss?
Ich erfuhr, wie Gesichter verfallen,
Wie die Angst unter den Augenlidern hervorschaut,
Wie die Keilschrift mit harten Seiten
das Leids in Wangen eingräbt,
Wie Locken, aschblond und schwarz, ganz plötzlich silbern werden.
Das Lächeln verdorrt auf gefügigen Lippen,
Und in trockenem Lachen
zittert die Todesangst...
A. ACHMATOWA "REQUIEM“.

Massen-Repressionen... Das sind hunderttausende von zerbrochenen Schicksalen, zu Schanden gemachten und verlorenen Leben, ganze Flüsse von Tränen und unschuldig vergossenem Blut. Die ungeheuren Schreckenstaten des totalitären stalinistischen Unterdrückungsregimes sind bei weitem noch nicht vollständig aufgedeckt und warten auf die Stunde ihrer Enthüllung. Es scheint, dass zum Jahr 1936 die Repressionen ihren Höhepunkt erreichten, doch dem "Führer aller Völker" schien das zu wenig. Am 25. September 1936 sendet Stalin ein Telegramm an die Mitglieder des Politbüros, in dem er fordert, die Repressalien wieder zu aktivieren und zu diesem Zweck G. Jagoda, den Volkskommissar für innere Angelegenheiten, durch N. Jeschow zu ersetzen. Und das geschieht nachdem Ende 1932 - Anfang 1933 im Land eine neue, noch viel grausamere Welle der Repressionen entfacht worden war. Eine barbarische und abnorme Ausgeburt jener Zeit waren die berühmten "Troikas". Heute ist nicht bekannt, wessen perversen Fantasien ihnen den Freifahrtschein ins Leben gaben, aber ihre Rolle der Vernichtung der Nation erfüllten sie glänzend.

Die Sache wurde „ins Rollen gebracht“, und das Revolutionstribunal in Gestalt der "Troikas" verteilte sich über das Angesicht vom gesamten Mütterchen Russland, wobei es Gesetzlosigkeit und Willkür erzeugte. Ohne Gerichtsverhandlung und Ermittlungsverfahren. Ein Zungenbrecher zählte als Anklage, sogleich ertönte das entsprechende Urteil, und alles endete entweder mit Gefängnis oder Tod. 10 Minuten – und der Mensch verschwand, zermalmt von den Mühlsteinen des großen Molochs! 1937 wurden beispielsweise allein durch politische Urteile der „Troikas“ 350000 Menschen erschossen. Diese Ziffern wurden auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU im Jahre 1957 angeführt. Die Zahl der Verhafteten und in Lagern Umgekommenen war um ein Vielfaches höher. "Gibt es einen Menschen – gibt es ein Problem, gibt es keinen Menschen – gibt es auch kein Problem", - war ein beliebter Satz J. Stalins, der im Leben buchstäblich seine Verwirklichung fand. Das traurig-berühmte Gesetz "über die fünf Ähren", das von Stalin höchstpersönlich geschrieben wurde, forderte die Anwendung des Todes durch Erschießung selbst für unbedeutenden Diebstahlÿ und im günstigsten Fall eine Verurteilung zu10 Jahren Haft. Massen-Repressalien und Aussiedlungen wurden nicht nur in Bezug auf die Bauern durchgeführt, sondern auch bei ortsansässigen Parteimitarbeitern, die angeblich "nicht die notwendige Härte und den erforderlichen Eifer" an den Tag legten. Und trotzdem "arbeitete" das Gesetz nicht in vollem Umfang. Am 1. Januar 1933 wurden von 55000 nach diesem Gesetz zur Höchststrafe vorgesehenen Straftätern "insgesamt nur" 2100 verurteilt. Das unmenschliche System, das nichts als Tod und Gräueltaten um sich herum aussäte, ging bis zu seiner Verherrlichung, indem es sich selbst vernichtete. Wie eine Hyäne ihr Inneres in qualvoller Agonie selbst verschlingt, so drehte auch die Revolutionsmacht das Schwungrad der Repressalien, bis es ihre besten Vertreter verschlang, indem es wilde Panik unter den sich lichtenden Säulen der bolschewistischen Orakel säte.

Als Stalin von Gerüchten über Beschwerden und Proteste einiger Parteimitarbeiter gegen die Schreckenstaten des NKWD erfuhr, sandte er an die Sekretäre der Gebietskomitees und Regionskomitees, an die Leiter der NKWD-Behörden, ein verschlüsseltes Telegramm, in welchem er sie dazu verpflichtete, auch in Zukunft Maßnahmen physischer Gewalt „als vollkommenen richtige und zweckdienliche Methoden“ anzuwenden.

Mehr als 70 Jahre sind vergangen, aber wenn du in der Balachtinsker Archiv-Filiale vorsichtig das Kornspeicher-Buch mit dem vielversprechenden Titel "Protokolle der Sitzungen der Bezirks-"Troika" zur Aussiedlung der Kulaken-Wirtschaften", aufschlägst, läuft dir unwillkürlich ein Kälteschauer über den Körper. Dutzenden von Menschen, die sich mit ihrer Hände Arbeit eine mehr oder weniger glückliche Existenz geschaffen hatten, wurde mit einem einzigen Federstrich alles, was sie sich einmal angeschafft hatten, entzogen – das Dach über dem Kopf und – in den meisten Fällen – das Leben selbst.

Hier ein Beispiel zu dieser Sache: "Sitzung ¹1 derr Balachtinsker Bezirks- „Troika“ zur Aussiedlung von Kulaken-Wirtschaften vom 11. – 12. Juli 1931". Anwesende: Dschawin, Nasarow, Stjaschkin (die Initialen fehlen). Gehört wurde der Fall des Kulaken soundso. Festgestellt: Kulaken-Wirtschaft. AUSSIEDELN.

Innerhalb von zwei Tagen wurden 190 Fälle behandelt. Dabei wurde in drei Fällen der Beschluss gefasst, die Eltern der Verurteilten aufgrund ihres Alters in der Obhut von Verwandten zu lassen, in zwanzig Fällen – die Beschuldigten als Bekehrte wieder in der Arbeitswirtschaft einzusetzen". Die restlichen 167 "Ausbeuter" wurden ausgesiedelt. Wohin – ist nicht bekannt. Es folgen die Unterschriften des Vorsitzenden der "Troika" und zweier ihrer Mitglieder. Als Beispiele führen wir mehrere Familiennamen von Verfolgten an:

Matwej Fjodorowitsch Jewdokimow – das Familienoberhaupt nutzt landwirtschaftliche Maschinen zum Zweck des Profits. Ausgesiedelt durch die GPU. Konstantin Dmitrijewitsch Sykow – Müller, Ausbeuter. Ausgesiedelt durch die GPU. Dmitrij Wassiljewitsch Iwanow – Ausbeuter von Ackerknechten. Ausgesiedelt. Polikarp Michailowitsch Tschulikanow – Ausbeuter, ehemaliger Gerber. Vermietet Räume und Lagerschuppen. Ausgesiedelt.

Und hier noch eine "Erfindung" - "Entzug des Wahlstimmrechts im Balachtinsker Dorfrat im Zeitraum 1926-27; die Wahlrechte wurden 22 Personen entzogen, im Jelowsker Dorfrat - 16, ïim Klutschinsker im Zeitraum 1929-32 nahm man 23 Personen die elementaren Menschenrechte. Allein im Jahr 1936 wurden im Bezirk 73 Familien des Wahlrechts beraubt; sie wurden ausgesiedelt. Wohin ist nicht bekannt. Das heißt eine Person scheint da zu sein, aber gleichzeitig existiert sie nicht.

Einige Dorfbewohner versuchten den grausamen Anordnungen Widerstand entgegenzubringen; sie schrieben Beschwerden an die Dorfräte, setzten alles daran, um den ungerechten Beschuldigungen zu entgehen. Hier ein kurzes Beispiel für ein solches Dokument, datierend von 1931, in welchem wir aus verständlichen Gründen den Nachnamen weglassen, aber den Wortlauten erhalten:

"Gesuch. An die Malo-Tumninsker Wahlkommission zur Wahl in den Dorfrat. Man hat mir die Wahlrechte entzogen, weil ich ein Ausbeuter sein soll, aber ich halte eine solche Entscheidung, entsprechend der Verfassung, nicht für richtig, weil ich nur bei der Getreideernte Lohnarbeiter eingestellt habe. Mein Saatfeld hatte eine Größe von 6,75 Dessjatinen, und wegen Arbeitermangel habe ich eingestellt... Ich bitte darum, mein Gesuch zu überprüfen und mir das Wahlrecht wieder zuzuerkennen".

Auf der Rückseite dieses einzigartigen Dokuments – der Beschluss: "Entzug des Wahlrechts auf Grundlage von Abschnitt ¹ 2, da der Vater ein ehemaliger Händler und Zwischenhändler ist und mit ihm in einer Familie lebt". Es folgen die unleserlichen Unterschriften von Mitgliedern der Wahlkommission. Das ist nur ein Dokument über den Umfang der Repressalien von vielen dutzenden, die im Archiv verwahrt sind.

Und die unterdrückten Deutschen, die zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges aus dem Wolgagebiet nach Sibirien verschleppt wurden? Das ist eine echte nationale Tragödie. Hier einige Zeugenaussagen aus jener schrecklichen Zeit. Es berichtet Irina Karlowna Butusowa:
- Im August 1941 wurden mein Vater Karl Jegorowitsch Schmidt und meine Mutter Marta Genrichowna zusammen mit ihren Kindern (mein Bruder und ich) nach Sibirien verschleppt. An der Bahnstation Schira wurden wir abgesetzt. Ein Jahr später holten sie den Vater in die Arbeitsarmee, und uns und unsere Mutter trieben sie, zusammen mit anderen Verfolgten, auf eine Barke und brachten uns in die Umgebung von Dudinka, wo sie uns ohne jegliche Existenzmittel zurückließen. Wir überlebten – so gut es eben ging. Wir gruben Erd-Hütten in den Boden, ernährten uns von dem, was Gott uns gab. Die Sterberate war sehr hoch. Der Skorbut raffte die Menschen zu hunderten dahin. Am Berghang wurde ein riesiges Massengrab ausgehoben, in dem die Leichen gestapelt wurden. Als die Grube mit Leichen angefüllt war, wurde sie mit Erde zugeschüttet und man hob eine neue aus. Aber trotz allem haben wir überlebt und auf den Vater gewartet. Die Arbeitsarmee hatte seine Gesundheit zerstört, und die Ärzte empfahlen ihm, aufs Festland zurückzukehren. So kam unsere Familie hierher. Hier in Sibirien heiratete ich 1953 im Alter von 24 Jahren, hier habe ich meine Eltern begraben, meinen Sohn großgezogen. Hier lebe ich heute allein. Der Sohn wohnt in Krasnojarsk.

Albina Friedrichowna Rerich, die in Balachta geboren wurde, erzählt von ihren Großeltern:
- Jakob Jakowlewitsch Schmidt, seine Frau Maria Jegorowna und ihre fünf Kinder, von denen Emma Jakowlewna, Albinas Mutter, die älteste ist, war 10 Jahre alt; sie lebten im Gebiet Saratow im Dorf Wiesenmiller. Zu Beginn des Krieges wurden sie, zusammen mit anderen Deutschen, nach Sibirien verschleppt, wo sie im Dorf Fedossowo, unweit von Balachta, angesiedelt wurden. Die Lebensbedingungen waren sehr hart, und als Jakob Jakowlewitsch in die Arbeitsarmee eingezogen wurde, wurde die Situation noch schlimmer. Doch Maria Jegorowna gab nicht auf, sondern sammelte all ihre weiblichen Kräfte, um ihre Kinder großzuziehen. Der Großvater kehrte aus der Arbeitsarmee nicht zurück, er starb, weil er das Hungerdasein und die unmenschliche Behandlung nicht ertragen konnte. Maria Jegorowna erzog ihre Kinder allein, bewahrte bis ins hohe Alter Mut und Gesundheit und starb schließlich mit 89 Jahren.

Friedrich Rerich und Emma Schmidt heirateten 1949 und zogen 1952 nach Balachta, wo 1954 eine Tochter das Licht der Welt erblickte - Albina.

Solche Schicksalsherausforderungen mussten also unsere Vorfahren ertragen, von denen viele noch am Leben sind. Übrigens, Irina Karlowna Butusowa und Albina Friedrichowna Rerich hatten keine Ahnung, dass es einen Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen gibt. An diesem traurigen Tag müssen wir unbedingt über unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nachdenken. Nachdenken, analysieren und ein kleines bisschen weiser und menschlicher werden.

J. DOBRJANSKIJ
„Dorf-Nachrichten“ (Balachta), 31. Oktober 2003

Das Material wurde vom Balachtinsker Heimatkunde-Museum zur Verfügung gestellt.


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