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Die schuldlos Schuldigen

Vor drei Jahren feierten Jekaterina Andrejewna und Nikolaj Dmitrijewitsch Maksimow ihre goldene Hochzeit. All die Jahre lebten sie in Atschinsk, wo sie sich seinerzeit kennengelernt und ineinander verliebt hatten. Allerdings ist keiner der beiden Eheleute aus der Stadt am Tschulym gebürtig. Beide – Kinder verfolgter Eltern – wurden zu unfreiwilligen Opfern der politischen Repressionen, die sich im Lande ereigneten. Übrigens haben sich weder Katjas noch Koljas Eltern vor der Heimat irgendetwas zuschulden kommen lassen. äèòåëè è Êàòè, è Êîëè íè â ÷åì ïåðåä ñâîåé Ðîäèíîé íå ïðîâèíèëèñü. Es sei denn…

BENDER – EIN DEUTSCHER FAMILIENNAME

Katja Bender wurde in Leningrad in einer deutschen Familie geboren, deren Vorfahren allerdings bereits vor Urzeiten russifiziert waren. Als der Vaterländische Krieg ausbrach, holten sie das Familienoberhaupt, Andrej Petrowitsch, an die Front. Töchterchen Katja war zu der Zeit neun Jahre alt und hatte erst die erste Klasse absolviert (zu einem weiteren Schulbesuch kam es nicht).

Von der Front wurde A.P. Bender nach kurzer Zeit zurückberufen und nicht in die aktive Armee, sondern in die Arbeitsarmee geschickt – zum Holzeinschlag ins Gebiet Perm. Das langersehnte Wiedersehen des «Volksfeindes» mit der Familie kam erst 1959 zustande, so dass Andrej Petrowitsch Ehefrau, die 1956 starb, kein einziges Mal mehr wiedersah. Vater und Tochter trafen 1960 zusammen, als Jekaterina Andrejewna selbst schon verheiratet und Mutter war.

Zuvor hatten Katja und ihre Mutter, wie alle deutschen Familien, die aus Leningrad fortgebracht wurden, schon in vollem Umfang das Grauen der Blockade miterlebt. Die Erinnerungen an den Hunger, der Körper und Seele ständig bis zur völligen Erschöpfung brachte, sind bei Jekaterina Andrejewna bis heute nicht verblasst. Unweit der Stelle, wo sie gelebt hatten, war vor dem Krieg eine Kolchose gewesen. So gruben die Menschen, um nicht Hungers zu sterben, die in der Erde vergrabenen Tierhäute aus und kochten diese zusammen mit Tischlerleim. Einmal versuchte das Mädchen, eine Suppe aus Senf und Salz zu kochen, den einzigen Lebensmitteln, die sie im Hause fand. Nachdem es die «Brühe» gegessen hatte, wäre sie um ein Haar gestorben.

Nach Sibirien transportierten sie die Menschen wie Vieh, in einem völlig überfüllten Güterwaggon. An einer der Bahnstation tauschte die Mutter eins von den Kleidungsstücken gegen Brot und Eier. Es gab von beidem ziemlich viel, aber Jelisaweta Jegorowna gab dem Töchterchen jeweils nur ein Ei und ein Stückchen Brot. Die Frau wusste nicht nur vom Hörensagen, dass die entkräfteten Blockade-Menschen, wenn sie plötzlich zu viel aßen, nicht selten starben und auf diese Weise den neuen Wohnort gar nicht erst erreichten.

In Atschinsk trafen sie im April 1942 ein. Anschließend wurden die Verfolgten in nahegelegene Dörfer gebracht. Familie Bender kam nach Barabanowka. Und im Herbst wurde die Mutter, zusammen mit anderen deutschen Frauen, in die Trudarmee geschickt, nach Baschkirien. Die Kinder nahm ein herzensgutes, schon betagtes Paar bei sich auf.

Jelisaweta Jegorowna kehrte im Frühling 1944 mit einer durch die schwere Arbiet zerstörten Gesundheit nach Sibirien zurück. Die zwölfjährige Katharina musste viel arbeiten, um die kranke Mutter und das sechsjährige Schwesterchen zu ernähren. Das halbwüchsige Mädchen arbeitete in der Kolchose auf gleichem Niveau wie die Erwachsenen. An den Abenden strickte es für die Frontsoldaten Socken und Fausthandschuhe. Im Frühling sammelte es im Wald Bärlauch und trug ihn danach 25 Kilometer weiter in die Stadt, um für das erhaltene Gehalt Brot zu kaufen.

Anfang 1946 wurde die Familie an einen neuen Wohnsitz, in die Stadt, verlegt, wo man ihnen in einer halb verfallenen Unterkunft ein kleines Zimmerchen zuteiltå. Jelisaweta Jegorowna und ihre älteste Tochter fanden Arbeit in der Genossenschaft "Udarnik". So erhielt Katja mit 14 Jahren ein Arbeitsbuch. Die noch nicht volljährigen heranwachsenden wurden nicht selten zum Holzeinschlag nach Bogotol geschickt. Es war eine schwere Arbeit. Zuweilen mussten sie dabei fast bis zur Gürtellinie im eiskalten Wasser stehen. Aber besonders kränkend war die Tatsache, dass sich immer wieder Leute fanden, die es immer wieder darauf anlegten, die Tochter eines «Volksfeindes» zu demütigen.

Hier, in der Genossenschaft, lernte Katja Nikolaj Maksimow kennen, den sie mit 18 Jahren heiratete. Die Eheleute zogen fünf Kinder groß, verschafften jedem von ihnen eine gute Erziehung und Ausbildung. Der Ehemann, übrigens, obwohl er Russe war, stammte ebenfalls aus einer Familie, die Verfolgungen ausgesetzt worden war.

NEUJMINA – BEDEUTET UNBEZÄHMBAR

Der Mädchenname von Nikolai Maksimows Mutter lautete Neujmina. Nina Nikolajewna erzählte dem Sohn über die Herkunft ihres Nachnamens folgende Geschichte: «Mein Urgroßvater, der Mamas Familiennamen trug, verletzte während seiner Ausbildung oft die dort herrschende Disziplin. Einmal nannte ihn der Erzbischof, der von den Possen des jungen Seminaristen so ziemlich genug hatte, ihn „Unbezähmbar“ (neujomny; Anm. d. Übers.). Mit der Zeit entstand aus diesem Spitznamen der Nachname des jungen Mannes».

Der unbezähmbare Charakter des Vorfahren wurde an Nina Nikolajewna weitervererbt. Das Mädchen, das 1889 in Tiflis geboren war, hatte am Gymnasium ausgezeichnete Noten und wechselte von Klasse zu Klasse mit Auszeichnungen ersten Grades und einer Vier «wegen überschwänglicher Wildheit».

1904 zog Nina mit ihrer Mutter und ihrem Bruder (er sollte an der Universität immatrikulieren) nach Petersburg. Das Missfallen an der Monarchie kam bei dem Mädchen schon recht früh auf. Das war nicht überraschend – ihre Eltern waren Anhänger demokratischer Ideen, und in ihrem Haus trafen häufig junge Leute zusammen, die lautstark politisch Diskussionen führten. 1906 wurden wegen revolutionärer Stimmungsmache mehrere Lehrkräfte des Pokrowsker Mädchen-Gymansiums von ihrem Arbeitsplatz entlassen und 12 der aktivsten Schülerinnen vom Unterricht ausgeschlossen. Zu ihnen zählte auch Nina Neujmina.

Die ausgeschlossenen Gymansiasten setzten ihr Studium in einer von den Eltern organisierten «freiwilligen Schule» fort. Ihre Examina für das Reifezeugnis legte Neujmina am Larinsker Jungen-Gymnasium ab. Anschließend immatrikulierte sie an der Fakultät für Physik und Mathematik (Bestuschew-Kurse).

Mitglied der Russischen Sozial-Demokratischen Arbeiter-Partei wurde das Mädchen im Jahr 1904. Im Winter 1907 wurde Nina Nikloajewna zum ersten Mal von der zaristischen Geheimpolizei verhaftet. Nach der Revolution 1917 wurde sie mehrfach von «Weißen» festgenommen, weil sie den «Roten» geholfen hatte. Nach der Errichtung der Sowjetmacht in Stawropol (wo Neujmina damals tätig war), präsentierte auch sie der Frau ihre Rechnungen.

Dmitrij Nikolajewitsch Maksimow, Teilnehmer am ersten imperialistischen Krieg, der zuerst unter Machno, später unter Budjonny, diente, wurde Neujminas zweiter Ehemann. Sie lernten sich während einer der turnusmäßigen Verbannungen Nina Nikolajewnas kennen – diesmal im Jenisseisker Gouvernement, Dmitrij Nikolajewitschs Heimat.

Ihr Sohn Nikolai Dmitrijewitsch lebt seit 1938 in Atschinsk. Das Mütterchen hielt es nicht lange in der Stadt – vor ihr «warteten» erneute Verbannungen auf sie. Erst 1954 gelang es ihr, endlich, für immer nach Atschinsk zurückzukehren. Hier wurde sie 1971 auch begraben. Unfreiwilliges Opfer der stalinistischen Repressionen war der Sohn der Maksimows, der «Volksfeinde», der in das Mahlwerk der Willkür geriet, welches sich unablässig drehte, ohne einen Unterschied zwischen rechtmäßig und schuldig zu machen. Es war nicht leicht, mit dem aufgedruckten Etikett eines Volksfeindes zu leben, doch Nikolai Dmitrijewitschs Eltern hegten keinen Groll gegenüber der Staatsmacht. Sie lebten mit völliger Hingabe für ihr Vaterland und brachten das auch ihren Kindern bei.

Im Laufe der Zeit brachte das Leben alles an seinen Platz. Die Gerechtigkeit siegte, wie man sagt. Doch die Erinnerung an das Erlebte wird in den Herzen derer,die unschuldig leiden mussten, lebenslang bewahrt bleiben.

Natalia STEPANISCHTSCHENKO


Auf dem Foto: Jekaterina Andrejewna und Nikolai DmitrijewitschMaksimow mit ihren Kindern.
Das Foto stammt aus dem Familienarchiv.

Atschinsker Zeitung, 01.11.2003

Archiv des Atschinsker «Memorial». Kommunale budgetierte Kultur-Einrichtung «Atschinsker Heiamtkunde-Museum namens D.S. Kargopolowa»

 


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