Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Ein echter Neuland-Eroberer

Viktor Minz war Komsomolzen-Führer, als ihm von der Parteileitung der Vorschlag unterbreitet wurde, eine Gruppe Freiwilliger zu leiten und sich zur Urbarmachung von Neu- und Brachland nach Sibirien zu begeben. Der Komsomolzen-Führer wurde zum Beispiel für andere Komsomol-Mitglieder und machte sich im Frühjahr 1955 zusammen mit ihnen in die bisher unbekannte Region auf den Weg.

Aus dem Gebiet Kaluga trafen 164 Komsomolzen in Moskau ein, wo ihnen im Georgssaal des Kremls in feierlicher Atmosphäre die Komsomolzen-Reisegutscheine ausgehändigt wurden. Und gleich von dort aus reisten sie mit der Eisenbahn nach Sibirien. Ein großes Land – während der Fahrt wurden die Komsomolzen-Neulandbesteller nach und nach von anderen Regionen und Gebieten aufgenommen. Bis zum Endpunkt – der Jelowsker Maschinen- und Traktoren-Station – waren es nur noch 8 Personen, die bei Viktor waren.

Der Leiter der Maschinen- und Traktoren-Station Naryschkin bestimmte den jungen Mann, der mit dem Komsomolzen-Reisegutschein eingetroffen war, zum Bau. Seitdem sind viele Jahre vergangen. Viktor arbeitete im Schacht in Syry, schob im Winter mit Kohle beladenen Loren, baute in Besjasykowo Räumlichkeiten für einen Viehzuchtbetrieb; im Nowosjolowsker Bezirk war er am Umzug des Dorfes Koma aus der Überschwemmungszone teil und ließ sich schließlich in Tjulkowo nieder.

In der ganzen Zeit, in der er rastlos durch Sibirien wanderte, lebte er als Unverheirateter. Natürlich gefiel der junge, scharfsinnige, fröhliche Bursche den Mädchen. Aber er war mit seiner Wahl vorsichtig. Schließlich bat ein einfaches Bauernmädchen, das zudem auch noch ein halbes Jahr älter war als er, um seine Hand. So entstand in Tjukowo eine neue Familie – die Familie Minz. Ein Jahr nach der Hochzeit wurde Viktor in die Armee geholt, und er kehrte erst nach drei Jahren wieder nach Tjulkowo zurück. Und wieder ging er auf dem Bau arbeiten. Gerade in diesen Jahren wurden im Dorf neue Häuser gebaut. Von vierundvierzig Backsteinhäusern hat er die gute Hälfte mit seinen Händen erbaut. Auch sein eigenes Haus errichtete er selbst, er wohnt bis heute darin.

In der Familie Minz wurden drei Kinder geboren. Noch vor der Geburt des ersten Kindes erkrankte die Ehefrau und konnte nicht weiter als Melkerin arbeiten. Die Sorge um die Ernährung der Familie lastete nun vollständig auf Viktors Schultern. Er erfreute sich an den Kindern, vergötterte seine Frau und arbeitete, arbeite... In Rente ging er, als seine Gesundheit anfing ihre Eskapaden mit ihm zu treiben – zu dem Zeitpunkt hatte er 45 Arbeitsjahre beim Bau erfüllt.

In Tjulkowo kennen alle den Neuland-Bebauer Minz. Sie wissen, dass er eine Antipathie gegen Menschen, die trinken, hegt, dass er den Kommunisten nicht die Repressalien gegenüber seinem Vater verzeihen kann. Von der einst großen Familie, in der es sieben Kinder gab, sind nur noch er und zwei ältere Schwestern am Leben. Zwei Brüder und eine Schwester starben während des Krieges. Ein weiterer Bruder verschwand spurlos im Lager. Und die Schwestern wohnen weit entfernt – die eine in Moskau, die andere - in Kaliningrad. Seine Frau ist verstorben, doch sein jüngster Sohn ist ganz in seiner Nähe, in demselben Dorf, geblieben. Trotz der Verbote seiner Ärzte geht der alte Neuland-Bebauer den Weg zu ihm zu Fuß. Denn er will nicht, dass Krankheiten die Oberhand über ihn gewinnen. So ist er nun einmal, und so war er immer – scharfsinnig, fröhlich, ein eigenwilliger Optimist. Er ist überzeugt: die Frist für seinen Komsomolzen-Reisegutschein im Leben ist noch nicht abgelaufen.

Olga KOSLOWA


«Es heißt, dass er erschossen wurde»

Drei Jahre war Viktor Abramowitsch Minz alt, als sie seinen Vater verhafteten. Bei dem Paragrafen handelte es sich um den «Massen-Paragrafen» - 58, politische Motive. Viktor Minz weiß nicht genau, wer sein Vater war. Auch an den Vater selbst kann er sich nicht erinnern – er war damals erst drei Jahre alt. Später fing er an sorgfältig Erkundigungen einzuziehen - «von denen man überhaupt nicht sprechen durfte, verstehen Sie?», und fand heraus, dass er Vorgesetzter war. Genauer gesagt, Parteileiter. Zu der damaligen Zeit waren die meisten bedeutenden Vorgesetzten Parteileiter.

Der Vater wurde zu 7 Jahren verurteilt – zu der Zeit eine lächerliche Strafe, man kann sogar sagen, dass er freigesprochen wurde. Doch der Vater kehrte «von dort» nicht zurück, und der Sohn wartete! – rechnete nach, wann der Vater heimkommen müsste. Später hörte Viktor, dass man von - «erschos-s-sen» sprach.

- Aber vielleicht ist er ja auch selbst gestorben, die Bedingungen dafür waren ja durchaus geeignet, - überlegt Viktor Minz, - und Mama starb auch kurz nach Papas Verhaftung. Und ich kam für zehn Jahre in ein Kinderheim. Ich besaß Verwandte – in Moskau lebte meine Tante Sonja. Ihr Mann hatte zusammen mit Dmitrij Uljanow, Lenins Bruder, Medizin studiert. Mein Onkel war Lenin einmal bei Dmitrij begegnet. Nein, der Onkel war von den Repressalien nicht betroffen. Und meine Tante erreichte problemlos ein Alter von achtzig Jahren.

Und das Leben im Kinderheim fand immer streng in Reih und Glied statt: Aufstellung im Speisesaal, Aufstellung beim Essen, aufgestellt und in Reih und Glied wieder zurück. Nach dem Essen rannten wir in den Gemüsegarten, gruben halb erfrorene Kartoffeln und Möhren aus und pflückten Kohlblätter. Dann kochten wir alles, was wir gefunden hatten, in einem Kessel und «schütteten» es hierhin (er zeigt auf seinen Bauch). Bis heute macht sich diese Diät bemerkbar (er streicht über den wunden Punkt). Mit 14 Jahren verließ ich das Kinderheim und ging arbeiten. 1953 bauten wir die Staatliche Moskauer Lomonossow-Universität auf den Spatzenhügeln. Mir fiel dort die Arbeit eines Taklers zu. «Nach oben» -«nach unten» - gib acht! Wir bauten schnell. Die Ziegelsteine flogen mit Maschinen nach oben.

- Viktor Abramowitsch, hatten Sie denn nicht das Verlangen, an dieser neuen Universität zu studieren?

- Das war nichts für mich. Nichts für den Minz aus dem Kinderheim, dessen Vater verfolgt worden war. Später kam ich ins Gebiet Kaluga, in den Barjatinsker Bezirk. Dort arbeitete ich in einem Torf-Unternehmen. Die Fabrik war in der Torfbeschaffung für das nahegelegene Kraftwerk beschäftigt. Dort rückte ich zu den Komsomol-Führern vor. Aus Barjatino führte der Weg meines Schicksals nach Sibirien, aufs Neuland. Aber das ist schonwieder eine andere Geschichte.

Laut Gesetz zählt der Sohn des unschuldig verfolgten Abram Minz – Viktor Minz – ebenfalls zu den Repressionsopfern. Viktor Abramowitsch zeigt den entsprechenden Nachweis. Dann schaut er in seinen neuen russischen Ausweis und überlegt:

- Sehen Sie mal, die Rubrik «Nationalität» haben sie weggenommen. Früher war sie da, nun ist sie verschwunden. Interessant, nicht?

Der Jude Minz wundert sich, dass sie die Nationalität herausgenommen haben. Ja, und früher durfte sie allein für diese Rubrik den Menschen «entfernen».

«Wir haben alle gesehen, wie wir überlebt haben:
Prügel, angeschossen, abgehärtet.
Unsere Heimat, boshaft und erniedrigend,
Böse Töchter und Söhne.
Die Helden unsere Zeit sind keine zwanzig,
Keine dreißig Jahre alt.
Man kann unsere Zeit nicht ertragen, nein!»
(Anna Barkowa).

Anastasia BOLOSCHINA

„Dorf-Nachrichten“ (Balachta), 19. November 2004
Das Material wurde vom Balachtinsker Heimatkunde-Museum zur Verfügung gestellt.

 


Zum Seitenanfang