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"Als sie Papa in die Arbeitsarmee holten, habe ich schrecklich geweint..."

Irina Schmidt wurde 1929 im Wolgagebiet, in der kleinen deutschen Ortschaft Brumental (Blumenthal), in einer recht wohlhabenden sowjetischen Familie geboren. Ein Jahr später zog die Familie Schmidt ins Bezirkszentrum Seelmann, wo Iras Vater als Bezirksstaatsanwalt tätig war. Sie führten ein gutes Leben. Irina besuchte die deutsche Schule, an der man Russisch nur in speziellen Unterrichtsstunden hörte, vergnügte sich mit ihren Freundinnen, sang traditionelle Lieder in ihrer Muttersprache. Materiell hatte die Familie keine Sorgen, es mangelte an nichts. Es schien, als ob ein Segen von oben sowohl ihre Familie als auch die gesamte kleine deutsche Siedlung beschattete. Sie lebten ihr geschlossenes Kastenleben, ihre kleine, enge Welt war eingezäunt vor der sich schnell verändernden russischen Realität.

DIE BAUERNPEST

Ende der 1920er Jahre braute sich, wie Alexander Solchenitzyn es ausdrückte, ein neues dreiteiliges Unheil zusammen: Kollektivierung, Enteignung und Liquidierung der Kulaken (Großbauern; Anm. d. Übers.).

Auf der Konferenz der marxistischen Agrarier am 27. Dezember 1929 stellte Stalin die These über die Liquidierung der Großbauernschaft als Klasse auf. Diese These verwandelte sich schnell in einen Befehl und... gesagt-getan: es folgten Plünderungen, Verbannungen, Erschießungen, Misshandlungen. Es schien als sei die Hölle selbst auf russischen Boden gekommen. Dörfer und Ortschaften stöhnten, brüllten und starben.

Hunderttausende Gefangene wurden im "KrasLag", "NorilLag", "JenisseiLag" und anderen Lagern der Region gehalten. Allein zwischen dem 23. August 1937 und dem 15. Juni 1938 wurden in der Region 11620 Personen erschossen, 5439 unglückliche Menschen in Lager geschickt.

Das kleine Mädchen Ira wusste selbstverständlich nichts von all diesen schrecklichen Ereignissen. Ein hoffnungsloses Elend, aber die schwarze Welle hatte die deutschen Siedlungen noch nicht erreicht, doch in der Luft lag schon eine unerklärliche Spannung; die Erwachsenen flüsterten sich mit harten und düsteren Gesichtern Dinge zu, wobei sie sich vorsichtig umschauten, und auch der Vater wurde nachdenklich und schweigsam.

DIE TROIKAS

1937 wurden Troikas (Dreigespanne; Anm. d. Übers.) mit großen Vollmachten ins Leben gerufen und Mindestzahlen für "Erschossene" und Verschleppte festgelegt. Für die Region wurden in diesem Jahr folgende Limits angewiesen: 1. Kategorie (Erschießung) - 750 Personen, 2. Kategorie (Lagerhäftlinge) - 2500 Personen.

In den 15 Monaten ihrer Existenz war allein durch die Troika der NKWD-Behörde der Region Krasnojarsk jeder hundertste Einwohner Repressalien ausgesetzt. Am 17. November 1938 wurden die Troikas liquidiert.

DONNE$RSCHLAG!

Per Dekret vom 28. August 1941 wurden alle Deutschen aus dem Wolgagebiet nach Sibirien ausgesiedelt. Es wurde immer die gesamte Ortschaft ausgesiedelt, das NKWD handelte schnell, sicher nach einem vorgegebenen Plan.

Irinas Mutter erfuhr davon durch ihren Ehemann, der von seinem Arbeitsplatz zuhause anrief. Irina Karlowna erinnert sich:

Am Morgen schlafe ich noch, aber ich höre – Mama spricht am Telefon und weint. Ich begriff noch nichts, machte mich gegen 10 Uhr fertig für den Weg zur Schule. Papa, der von der Arbeit zurückkehrte, sagte, dass die Schule geschlossen sei, aber ich ging trotzdem hin. Wie ich dort ankomme – ist niemand da, vor den Türen hängen Schlösser. Ich hatte schreckliche Angst und fing an zu weinen.

So endete die glückliche, sorglose Zeit, es begann eine Periode der Leiden und Qualen. Bis Saratow brachte man die Umsiedler mit dem Schiff, weiter mit der Eisenbahn. In jedem Waggon befand sich ein Ältester von den NKWD-Leuten, es herrschte eiserne Disziplin, wir wurden gut verpflegt. An der Station Schira wurde die vierköpfige Familie Schmidt und ein weiteres junges Paar abgesetzt.

- Als wir an der Bahnstation auf den Bahnsteig traten, stand dort bereits eine Unmenge Menschen, um die echten deutschen anzustarren. Viele wunderten sich:

- Schau mal, das sind ganz gewöhnliche Leute, genau wie wir, - ließen sich enttäuschte Stimmen vernehmen. Die Sibirier hatten furchterregende gehörnte Ungeheuer erwartet, wie die sowjetische Propaganda die Deutschen darstellte.

Man verfrachtete die Umsiedler auf Leiterwagen und brachte sie ins Dorf Tschebaki. Später siedelte man sie nach Polowinkino um. Für Irina war es schwer sich an die russische Sprache zu gewöhnen, und das Lernen in der Schule fiel iohr nicht leicht, doch das Mädchen besuchte beharrlich den Unterricht und beherrschte die fremde Sprache nach und nach.

- Ich hörte mehrfach von den Ortseinwohnern das Wort "Faschistin", und auch andere Beleidigungen. Wir lebten einträchtig miteinander: das allgemeine Unglück, das über unserem Land hing, vereinte alle.

ZWEITE UMSIEDLUNG

- Als sie Papa 1942 in die Arbeitsarmee mobilisierten, weinte ich heftig. Soweit ich mich jetzt erinnere herrschte Winter, es war kalt, Papa stapft ratlos an der Tür hin und her, und Mama schluchzt an seiner Brust.

Sie trieben ihn zum Bau von "Noril-Nickel", und uns siedelten sie nach Dudinka aus. Wir fuhren mit dem Schiff. Am Aussiedlungsort hausten wir in einem Gemeinschaftswohnheim, schliefen auf zweistöckigen Pritschen. In einem Raum befanden sich bis zu einhundert Menschen, immer herrschte ein Heidenlärm. Ich stieg auf die Pritsche, stopfte mir die Ohren zu und lernte laut. Während der gesamten Zeit schickte Papa nur einen einzigen Brief, in dem er uns anflehte, unsere Sachen gegen Lebensmittel einzutauschen. "Das Wichtigste ist – am Leben zu bleiben", - dieser Satz stand mehrfach in dem Brief.

- Die Familie Schmidt besaß wertvolle Sachen, die sie in glücklichen Tagen erworben hatten. Irina und ihre Mutter gingen in den nächst gelegenen Siedlungen von Haus zu Haus und tauschten sie gegen amerikanische Lebensmittel, von denen die Einwohner nicht wenige besaßen. So fristeten sie drei Jahre lang ihr Leben. Nach dem Sieg machte der Vater sie in Dudinka ausfindig. Abgemagert, krank und stark gealtert. Ira erkannte ihn nur an seiner Stimme.

WIEDER SIBIRIEN

Nach einiger Zeit bekam der Vater ein Dokument ausgehändigt, dass er aufgrund seines Gesundheitszustands unbedingt in eine andere Klimazone umziehen sollte. Sie zogen nach Minussinsk, wo sie im Laufe der Zeit ein schönes Haus bauten. Irina absolvierte das Minussinsker Technikum für Pädagogik, heiratete und wurde Frau Butusowa. Die Eltern begaben sich einige Zeit darauf nach Taschkent zu Verwandten, und die Butusows zogen nach Balachta.

- Bekannte haben uns abgeworben, - erinnert sich Irina Karlowna. – In Minussinsk wohnte in unserer Notunterkunft eine Familie aus Bolschiye Cyrja, wir freundeten uns mit ihnen an. Dort verkauften wir unser Haus, zogen fort, und hier kauften wir ein neues – hier wohne ich bis heute.
Dass ich nach Balachta gezogen bin, bereue ich nicht. Das ist meine zweite Heimat. Ich arbeitete in der Käsefabrik, verdiente gutes Geld. Und heute vergisst mich die Sozialfürsorge nicht. Ständig kommen sie zu Besuch, helfen, wo es nur geht. Ich nutze Vergünstigungen, im Großen und Ganzen ist alles gut.

Trotz allem, was sie durchgemacht hat, ist Irina Butusowa ein Stehaufmännchen geblieben. Sie ist dem Schicksal dankbar, welches sie durch alle schweren zeiten, Schicksalsschläge und Stürme gebracht und das Wichtigste in ihrer Seele bewahrt hat – die Liebe zu ihren Mitmenschen.

NOCH EINMAL ZURÜCK ZU IHNEN...

Nach Sibirien wurden 500 Tausend Sondersiedler verschleppt. (In Wirklichkeit waren es viel mehr. 500 000 bezieht sich nur auf die Region Krasnojarsk - Anm. der Red.). Betroffen waren Deutsche, Griechen, Litauer, Letten, Esten, Ukrainer, Tschechen, Weißrussen, Finnen, Kalmücken. Und wie viele Bauern haben sie zur Zeit der Kollektivierung "aus Sibirien nach Sibirien" gebracht?! Hier nur einige wenige Namen von Einwohnern unseres Bezirks, die den Verfolgungen ausgesetzt waren: Ignatij Aleksandrow, Dorf Toiluk, Balachtinsker Amtsbezirk. Getreidebauer, verhaftet am 12. Februar 1930 und wegen antisowjetischer Agitation von einer Troika der OPPU zu 5 Jahren Besserungsarbeiten verurteilt; Wladimir Aleksejew aus der Ortschaft Daurskoje - 8 Jahre Besserungs-/Arbeitslager, verurteilt wegen antisowjetischer Agitation von einer Troika der OGPU; die Brüder Platon und Grigorij Baschanow, Mitglieder der Kolchose "Goldsucher", Einwohner des Dorfes Kysyktschul, verhaftet 1933, verurteilt zu 5 Jahren Lagerhaft; Grigorij Besjasykoje, Einwohner von Mossino - 10 Jahre Arbeits-/Besserungslager; Aleksej Bobkow, Einwohner von Daursk. Verhaftet am 22. Dezember 1937 wegen antisowjetischer Agitation, eine Woche später erschossen; Viktor Bredrich, Arbeiter im Mühlenkombinat in der Ortschaft Balachta. Verhaftet am 30. Mai 1938 - 10 Jahre Arbeits-/Besserungslager. Grigorij Buchanow aus dem Dorf Ust-Pogromnaja. Lastarbeiter bei der "Getreidebeschaffung". Verhaftet 1938, einen Monat später erschossen. Alle diese und noch viele andere Menschen, die die Schrecken der unmenschlichen Misshandlungen und Verfolgungen am eigenen Leib erfahren haben, wurden rehabilitiert, doch wie spät triumphierte diese Gerechtigkeit!

In unserer unbestimmten und unsicheren Zeit, da die Aufspaltung der Gesellschaft ein unheimliches Ausmaß erreicht hat, ist es für uns alle das Wichtigste – nicht die Ehre und den Verstand zu verlieren und die Erinnerung an das zu wahren, was man in den Jahren der stalinistischen Repressalien durchgemacht hat, damit die hoffnungslose, schreckliche Vergangenheit sich niemals wiederholt.

Jewgenij DOBRJANSKIJ

„Dorf-Nachrichten“ (Balachta), 4. November 2005
Das Material wurde vom Balachtinsker Heimatkunde-Museum zur Verfügung gestellt.


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