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Die geheimen Todeslager

Während der Stalin-Epoche kamen unaufhörlich Gefangenentransporte mit politischen Häftlingen in die Region Krasnojarsk. Hunderttausende sowjetischer Bürger durchliefen das „Norillag“, das „Kraslag“ und die „Bauverwaltung Nr. 503“. Allerdings wissen nur wenige, daß die ersten Lager zur besonderen Bestimmung unter sibirischer Verwaltung (SibULON) Ende der 1920er Jahre im Jenisejsker (damals Turuchansker) Bezirk auftauchten – und zwar in der Siedlung Kriwljak und am Ufer des Flüßchens Schertschanka. Zweieinhalbtausend Gefangene verbüßten hier ihre Strafe. Bei Schließung der Lager waren noch weniger als 200 von ihnen am Leben.

In den regionalen Archiven findet man keinerlei Materialien über die Existenz dieser Lager. Möglicherweise sind sie nach der Entstehung der Region Krasnojarsk nach Nowosibirsk oder Kemerowo gelangt. Um die Haftverbüßungsorte der ehemaligen „Volksfeinde“ zu erforschen, machte sich kürzlich eine gemeinsame Expeditionsgruppe der jenisejkser Fachschule für Pädagogik und der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation auf den Weg.

- Wir haben versucht, bei den Ortsbewohnern wenigstens ein paar Zeunisse zu sammeln, - berichtet Alexej Babij, einer der Expeditionsleiter . – Die Informationen, die wir erhielten, lassen sich in keinem Archiv-Dokument finden.

Die SibULON-Lager in der Region Krasnojarsk existierten nicht sehr lang, nur etwa 2-3 Jahre. Aber die traurige Berühmtheit der „Todeslager“ ist bis heute geblieben. Die unterschiedlichsten Mythen ranken sich um sie – einige von ihnen muten geradezu phantastisch an.

Schwärme von Kriebelmücken zerfraßen die Menschen bei lebendigem Leibe

Augenzeugen bestätigen, daß die Häftlinge ihre Strafe unter den grausamsten Bedingungen verbüßen mußten. Im Sommer bestrafte man sie oft dadurch, daß man sie den Mücken aussetzte. Dabei zog man sie splitternackt aus und band sie an einen Baum. Innerhalb eines Tages hatten die Kriebelmücken den Menschen bis auf die Knochen zernagt. Und im Winter übergoß man die Gefangenen mit Wasser. Die Dorfbewohner erzählen, daß man noch heute aus dem Sibulon-See, der drei km vom Dorf entfernt liegt, menschliche Knochen herausfischt.

Es heißt, daß, als die Lager stillgelegt wurden, in einer Lagerabteilung nur noch 100 von 1500 Häftlingen am Leben waren, in einem anderen nur noch 60 von 1000 Gefangenen.

Heute werden wir in der Siedlung Kriwljak nur noch durch eine einzige, halb zerfallene Baracke an die damalige Existenz von Lagern erinnert, und durch den See namens Sibulon, bei dem es sich wohl um den einzigen See auf der ganzen Welt handelt, der zu Ehren eines Konzentrationslagers benannt ist.

Im Jahre 1931 brachte man enteignete Großbauern nach Sibirien. Die Behörden fanden es ökonomischer, Holzfällerei mit der Arbeitskraft von Gefangenen zu betreiben. Man müßte noch nicht einmal Geld für die Bewachung und für Stacheldraht ausgeben. Man würde einfach „Kulaken“ dorthin treiben, eine bestimmte Arbeitsnorm vorausbestimmen, und dann sollten sie doch selbst sehen, wie sie dort klarkamen und sich ernährten.

Heute stellen ehemalige Umsiedler den größten Anteil der Einwohner von Kriwljak dar, aber man kann sagen, daß das Dorf am Aussterben ist. Viele leben von Arbeitslosenunterstützung und Rente. Beim Überleben hilft ihnen die Taiga; die Bevölkerung dort ist auf kostenloses Essen umgestiegen – sie sammelt Beeren, Pilze, Nüsse und fängt Fisch.

Die Kinder konnten vor Hunger nicht mehr laufen

Unaufhörlich schaffte man Umsiedler in den Jenisejsker Bezirk. Im Jahre 1930 kamen aus dem Altai-Gebiet und der Baikalregion, 1931 aus der Ukraine, 1940 aus der West-Ukraine und 1941 Deutsche, Letten, Esten und Litauer. In den Nachkriegsjahren brachte man erneut West-Ukrainer, Deutsche und Balten.

Die Sondersiedler lebten in Erdhütten und arbeiteten in der Holzfällerei. Regelmäßig mußten sie sich in der Kommandantur melden und registrieren lassen. Die Ortsansässigen benahmen sich ihnen gegenüber ganz unterschiedlich – die Behörden begrüßten es nicht, wenn man mit „Volksfeinden“ verkehrte. Zu essen gab es nichts. Die Arbeiter starben direkt bei der Arbeit. „Einer setzte sich auf einen Baumstumpf, um ein wenig auszuruhen – und da war er auch schon tot“, - erinnern sich die Dorfbewohner.

Man kann unmöglich den Berichten der ehemaligen Repressierten zuhören, ohne daß einem Tränen aus den Augen fließen. Eine Geschichte ist schrecklicher als die andere. Jewgenia Petrowna, gebürtig aus der Ukraine, schimpft heute auf alle – sowohl die damalige Sowjetmacht, als auch auf die heutige Regierung. Auf die erste, weil sie ihre Heimat verlor, auf die zweite, weil sie jetzt ein Bettlerinnen-Dasein führt und ihr die finanziellen Möglichkeiten fehlen, in die heimatlichen Gefilde zurückzukehren.

Heute leben in der Siedlung viele Deutsche. Einige wurden auch aus dem Altai-Gebiet, in das sie Anfang des vergangenen Jahrhunderts im Zuge der stolypinschen Reformen gezogen waren, nach Sibirien verschleppt.

Und obwohl 1941 ein Ukas über die Aussiedlung der Wolga-Deutschen verabschiedet wurde, jagte man sie in Wirklichkeit aus allen Teilen der UdSSR fort. Da ist zum Beispiel Emma Jakowlewna Gorodezkaja – gebürtig aus der Gegend von Saratow. Sie erzählte, daß ihre Familie drei Repressionswellen durchmachte. Anfang  der 1930er Jahre wurde sie enteignet, weil sie eine gesund, starke Wirtschaft besaß, 1937 gerieten sie in den „großen Terror“. Als der Krieg ausbrach, verschleppte man die Familienmitglieder, die noch am Leben waren, nach Sibirien. Aber das schrecklichste, was sie erleben mußte, war das Hungerjahr 1933.

Mein Bruder und ich – wir konnten nicht mehr gehen; vor Hunger waren unsere Beine wie gelähmt. Die Schwester, die zur Arbeit gehen mußte, war gezwungen, den zweijährigen Jungen allein zu Haus zu lassen. Einmal entdeckte sie bei ihrer Rückkehr, daß das verhungerte Kind seine eigenen Hände und Füße angenagt hatte und durch den Blutverlust gestorben war. Am nächsten Tag verlor die Frau den Verstand.

***    

Es ist erstaunlich, daß die Repressionsopfer, nachdem sie derart unmenschliche Bedingungen durchgemacht haben, heute auf niemanden Wut hegen und niemandem böse sind. Sie sagen: „Was gewesen ist, ist nun vorbei“. Als es endlich wieder die Möglichkeit gab, zurückzukehren, blieben sie in Sibirien, weil sie es inzwischen für ihre zweite Heimat hielten.

Olga LOBSINA,
Foto: Sarah Schönfeld, Irina Moisejewa
 

Übrigens

 
Die Repressionsopfer E.J.Gorodezkaja und J.P. Adolf

An der Expedition nahmen auch zwei Fotokünstler aus Deutschland, Sarah Schönfeld und Felix Meier, teil. Die Reise in die Region Krasnojarsk fand im Rahmen ihres Projekts „Heimat – GULAG“ statt. Anschließend reisten sie an die Kolyma weiter. Eine Ausstellung mit Fotos der deutschen Fotokünstler können die Krasnojarsker im Winter besuchen.

Photo-Tatsachen

Ein Samowar als Lebensretter

 

Dieser Samowar befindet sich im Museum des Jarzewsker Zentrums für Kinderkunst. Anfang der 1930er Jahre wurden hunderte von enteigneten Großbauern aus dem Baikalgebiet, zunächst in beheizbaren Güterwagen und dann mit einem Lastkahn auf dem Fluß, unter grauenvollsten sanitärischen Bedingungen forttransportiert. Viele starben unterwegs an Durchfallerkrankungen. Der Familie Komogorzew gelang es, ihren Samowar von zuhause mitzunehmen, in dem sie auf der ganzen Reise immer ihr Wasser abkochten. Das rettete nicht nur das Leben der Erwachsenen, sondern auch ihrer vier Kinder, weil sie auf diese Weise kein unabgekochtes Wasser zu sich nahmen.


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