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«Das Leben ist gelebt, aber es gab darin kein Glück…»

Amalia Friedrichowna Wlassjuk wurde am 16. März 1928 in der Ortschaft Lujowoje, Rowensker Bezirk, Gebiet Saratow geboren. 1941 begann, im Zusammenhang mit den einsetzenden Kriegsaktivitäten gegen Deutschland, die Massen-Umsiedlung der Deutschen aus dem Wolgagebiet. Man gab ihnen drei Tage Zeit zum Packen.

Aus Amalia Friedrichownas Bericht:

- Ich war damals 12 Jahre alt, Schwester Mila – 15 und Bruder Fedja – 11. Wir gaben alles auf, was wir uns im Laufe der Zeit angeschafft hatten und machten uns mit Nichts auf den Weg. Alles blieb zurück.

Bis nach Krasnojarsk fuhren wir mit einem Zug, in stickigen, überfüllten Waggons. Mit uns fuhren aus unserem Dorf die Familien Zwetzich, Leikom, Dukwien, Knaub. Am Krasnojarsker Flussbahnhof verfrachtete man uns auf einen Lastkahn und brachte uns nach Juksejewo und von dort mit Pferden nach Meschowo. Das war im Herbst 1941. Man brachte uns mit drei Familien i einem leerstehenden Haus unter, wo wir ein kleines Zimmer bekamen. Wir schliefen auf dem nackten Fußboden. Irgendwie schafften wir es dort zu überwintern. Der Frühling kam, wir gingen in den Wald, um Türkenbundlilien zu pflücken, aßen Melde und alle möglichen Kräuter. Und als die Kartoffeln herauskamen, rissen wir die untersten Blätter ab, brühten sie mit heißem Wasser ab und aßen sie ebenfalls. Die Sachen, die wir von Zuhause mitgebracht hatten, tauschten wir gegen Essbares ein, und als wir überhaupt nichts mehr hatten, gingen wir, wie man sagt, mit ausgestreckter Hand durch die Welt und bettelten um Almosen. Im Wesentlichen führte unsere Marschroute uns durch die Nachbardörfer: nach Lakino, Schestakowo, Perm. Alles Mögliche widerfuhr uns dabei: manch einer gab uns etwas, andere verjagten uns mit einem Stock oder hetzten den Hund auf uns. Wir, die Deutschen, hatten es sehr schwer in der Fremde zu überleben. Erstens beschimpfte man uns mit dem Wort «Faschisten», zweitens hatten wir keinen Kontakt, denn wir konnten kein Russisch, drittens gingen wir nicht in die Schule – wir hatten ja nichts zum Anziehen. Ein Glück, dass ich in der Heimat wenigstens die ersten drei Klassen absolvieren konnte.

Um etwas zum Essen zu haben und zu überleben, ließen wir uns bei fremden Leuten in deren Gemüsegärten zum Kartoffeln umgraben anwerben. Samen hatten wir nicht, um selbst welche anzusäen. Ich erinnere mich, dass Mama ihren Kamm gegen Kartoffelschalen eintauschte, um sie dann einzupflanzen. So züchteten wir bald kleine Kartoffeln, und damit wurde das Leben ein wenig leichter.

Wir gingen in den Wald, um Besen für die Schafe zu binden. Einmal, ich war 15 Jahre alt, stellten wir sie auf einen Anhänger, und ich konnte den Hebel nicht hochziehen – ich war zu kraftlos. Später schickten sie uns auf den Hof, um Wasser zu erwärmen. Brennholz sägten wir per Hand, erhitzten Wasser, kochten Rüben. Am Morgen standen wir um drei Uhr auf und gingen zur Arbeit. Bei Eintreffen der Arbeiter musste alles erledigt sein.

Wo ich überall arbeiten musste! Am Sowchosen-Lager (hinter dem Podjomnaja-Flüsschen), dort übernachteten wir auch, sie ließen uns nicht nach Hause, ich kochte Essen für die Arbeiter. Dort arbeiteten Lena Lytkina, Schura Kuleschowa, Schura Stazenko, Schura Sotschkowa – sie eggten mit ihren Kühen den Boden. Gesät wurde mit der Hand. Im Herbst, wenn das Getreide reif war, mähten die erwachsenen Frauen mit großen Sensen und Rechen, und wir – die jungen Mädchen – banden Garben und stellten sie zu Haufen auf. Einen Tag später wurden diese Garben auf Karren geworfen und zum Lager abtransportiert. Die Älteren nahmen die Garben und gaben sie in Trommeln, in denen das Getreide gemahlen wurde. Anschließend brachten Lonja Jegorow, Fedja Kopow und Wasja Matschnew das Getreide auf Pferden nach Juksejewo.

1957 wurde ich als Schweinehirtin eingesetzt, später übernahm ich die Büro-Reinigung, und 1983 ging ich in Rente.

Das Leben ist gelebt, aber es gab keinen einzigen glücklichen Tag. Auch innerhalb der Familie gab es kein Glück. Ich heiratete 1948, vier Kinder wurden geboren, mein Mann wurde 1962 von einem herabstürzenden Baum getroffen, der seinen Beckenbereich und die Wirbelsäule brach. Gelähmt lebte er danach noch 17. Doch ein Unglücklich kommt selten allein, wie man sagt. Während ich auf der Arbeit war, fing das Haus Feuer und zwei Söhne erstickten im Rauch – Kolja (er war drei Jahre alt) und Serjoscha (gerade ein Jahr alt)».

Das ist alles, was Amalia Friedrichowna von ihrem schweren Schicksal erzählen konnte. So viele schwere Erinnerungen, dass sie nicht einmal die Zeit fand, sich die Tränen zu trocknen, die ihr unaufhörlich über die Wangen liefen. Und sie beendete ihren Bericht mit folgenden Worten: «Schwere Zeiten haben wir durchgemacht: Kälte, Hunger, Erniedrigungen und die alle menschlichen Kräfte übersteigende Arbeit, die auf unseren kindlichen Schultern lastete. Und was ist jetzt mit dem Leben. Ich habe alles: Kleidung, Schuhwerk, das Essen reicht, nur das Wichtigste fehlt – die Gesundheit.».

Nadjeschda Ganina, Ortschaft Meschowo

„NEUE ZEIT“, № 11, 20.03.2010


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