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Sibirien wurde zur Heimat

Zum Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen

Der Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen wird seit 1991 in Russland und anderen Republiken der ehemaligen UdSSR jedes Jahr am 30. Oktober abgehalten. An diesem Tag finden Veranstaltungen und verschiedene kulturelle Maßnahmen statt, in deren Verlauf der Menschen gedacht wird, die unter den politischen Verfolgungen zu leiden hatten. Nach Angaben des russischen Menschenrechtszentrums «Memorial» zählt man in Russland ungefähr 800000 Betroffene (zu ihnen gehören, entsprechend dem Gesetz über die Rehabilitierung der Opfer der politischen Repressionen, auch Kinder, die ohne elterliche Fürsorge zurückblieben). Die genaue Ziffer aller, die durch das totalitäre Regime leiden mussten und unschuldig unterdrückt wurden, ist nicht zu ermitteln – es sind Millionen, und eine erhebliche Anzahl von ihnen wurde nie irgendwo berücksichtigt. Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft, wurden im Geltungszeitraum des Gesetzes «Über die Rehabilitierung der Opfer der politischen Repressionen» 636302 Strafsachen in Bezug auf 901127 Personen überprüft, von denen 637614 rehabilitiert wurden.

In einer Notiz an Berija teilte der Leiter der NKWD-Behörde der Region Krasnojarsk P.P. Semjonow mit: «Die Zahl der deutschen Sonderumsiedler in der Region Krasnojarsk belief sich im September 1941 auf 67264 Personen». Dazu gehörte auch die Familie von Iwan Traise: Ehefrau, zwei Söhne und zwei Töchter. Über die traurigen Ereignisse des fernen Septembers 1941 teilte einer von Iwans Söhnen – Fjodor Traise – seiner Erinnerungen mit uns:

- Es war Mitte September, alle Erwachsenen waren auf dem Feld mit dem Einbringen der Ernte beschäftigt. Mein Vater arbeitete damals als Agronom. Am Abend sagte er zur Mutter: «Man wird uns aussiedelnü». Und am Morgen kamen Soldaten ins Dorf, gingen von Hof zu Hof und teilten allen mit, dass sie sich zur Aussiedlung vorbereiten sollten. Ich erinnere mich, dass es ein warmer, sonniger Morgen war, und dass plötzlich die Menschen überall im Dorf weinten. Diejenigen, die abfahren mussten, schluchzten, und die, die zurückblieben auch.

Von unserer heimatlichen Ortschaft Wiesenmüller im Gebiet Saratow bis zur Bahnstation waren es 20 km. Mein Vater, mein Bruder und ich gingen den ganzen Weg zu Fuß und weinten unaufhörlich. Auch bei Mama flossen unaufhaltsam die Tränen. Ich, ein 11-jähriger Junge, war voller Angst. An der Station standen Waggons zum Transport für Vieh, einzige Bequemlichkeit waren hölzerne Pritschen. Konnte ich damals wissen, dass ich meine kleine Heimat für immer verließ und sie gegen das sibirische Dorf Trassutschaja eintauschte?!

In den deutschen Familien gab es betagte Menschen. Aufgrund des Erlebten, durch Hunger und Krankheit, starben viele von ihnen in diesem schrecklichen Zug. Ihre Körper gingen spurlos verloren, als ob es sie auf dieser Welt nie gegeben hätte. Unterwegs bekamen wir nichts zu essen, manchmal gab es auch kein Wasser. Bis Krasnojarsk transportierten sie uns immer nur nachts – unter verschärfter Bewachung, tagsüber standen unsere Waggons auf einem Abstellgleis. Jeder versuchte damals, von den vorhandenen Kleidungsstücken einige gegen Lebensmittel einzutauschen. Von Krasnojarsk aus wurden die Familien in die einzelnen Bezirke gebracht. Uns fiel der Daurische Bezirk zu. Bis zur Anlegestelle Daursk fuhren wir auf einem Lastkahn. Anschließend wurden wir, insgesamt acht Familien, mit Pferden nach Trassutschaja gebracht.

Damals war es ein großes Dorf mit kreuzförmig angelegten Häusern. Uns alle brachte man im ehemaligen Kolchos-Kontor unter (es stand zu der Zeit leer). Alle Männer aus dem Dorf befanden sich an der Front. Mein Vater wurde sofort als Treibstoff-Fahrer fürs Feld bestimmt. Mein älterer Bruder und ich gingen nicht zur Schule – wir saßen barfuß und ohne Kleidung zu Hause; außerdem konnten wir kein Russisch. Meine Mutter konnte geschickt mit der Nadel umgehen: sie konnte gut spinnen und stricken. Es war ihr gelungen, ihr Spinnrad von zu Hause mitzunehmen. Sie war es, die uns während des Krieges aus der Not heraushalf. Wir holten Wolle von den Leuten, und Mama strickte uns Sachen, nahm Bestellungen der Dorfbewohner entgegen. Ich fing an ihr zu helfen – lernte spinnen und Schals und Socken stricken. Bezahlt wurden wir hauptsächlich mit Lebensmitteln».

Als Fjodor Jakowlewitsch vom Leben seiner Familie erzählte, seufzte er schwer: an allem war ersichtlich, welches schlimme Schicksal auf seine Familie entfallen war. Den Vater holten sie 1942 in die Arbeitsarmee – zum Holzeinschlag ins Kirowsker Gebiet. Fünf Jahre später kehrte er nach Hause zurück. Nur zwei Wochen verbrachte er bei Frau und Kindern, und dann sollte seine Robustheit mit Zwangsarbeit, die alle menschlichen Kräfte überstieg, erneut auf den Prüfstand – er kam in ein Uran-Bergwerk nach Usbekistan. Dort erkrankte er – man entließ ihn nach Hause. Wie hat nur seine Kraft ausgereicht, um von Uschur bis ganz nach Trassutscha zu gelangen?!

Zwei Wochen später war Iwan Traise tot. Nun musste die Mutter die Kinder allein großziehen. Neben der Arbeit in der Kolchose «Wahrer Weg» (sie kümmerte sich um die Schafe) erlernte sie einen Männerberuf – das Ofensetzen. Die beiden minderjährigen Söhne Fjodor und Andrej (Heinrich) arbeiteten als Anhängerarbeiter bei den Traktoristinnen. Die verdienten Tagesarbeitseinheiten bekamen sie in Form von Mehl, Getreide ausbezahlt – das rettete sie auch.

- Ach, eine schwere Zeit war das, - sagt Fjodor Iwanowitsch. – Die Frauen und Heranwachsenden stellten die Versorgung der Front mit Lebensmitteln sicher. Im Dorf arbeiten wir mit allen anderen zusammen. Wir hatten keinerlei Unannehmlichkeiten seitens der örtlichen Bevölkerung. Im Gegenteil, viele zeigten ihr Mitleid und ihre Gutmütigkeit.

Nach dem Krieg machten Fjodor und Andrej an der Tjulkowsker Maschinen- und Traktoren-Station eine Lehre zum Traktorfahrer. Auf Traktoren der Marken MTS und STS pflügten sie den Acker, säten Roggen, Weizen, Hirse und Gerste und brachten die Ernte ein. Ihre Arbeit verrichteten sie gewissenhaft. In die Armee wurde Fjodor aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht geholt – seine akute Herzerkrankung wurde anerkannt. Den älteren Bruder mobilisierten sie zweimal in die Arbeitsarmee, er floh vom Verschickungspunkt in Krasnojarsk nach Hause. Damals bescheinigte ihm die Kolchos-Leitung gute Arbeitsleistungen und – man ließ ihn in Ruhe.

- So gehen also mein Bruder und ich durchs Leben. Gemeinsam erlernten wir seinerzeit den Beruf eines Fahrers. Er machte auch eine Ausbildung zum Traktoristen, arbeitete auch als Mähdrescherfahrer. Wir wohnen nebeneinander, unsere Kinder und Enkel sind hier, - sagt Fjodor Iwanowitsch. – Wir haben nicht wenig Getreide angebaut! Wegen meiner großen Erfahrung und meiner Liebe zum Mütterchen Ackerboden ernannten sie mich zum Agronomen (das hat mich meine Lebens-«Universität» gelehrt!).

Das Leben hat Fjodor Iwanowitsch alles beigebracht. Er arbeitete in der Jelowsker Maschinen- und Traktoren-Station als Mechaniker und Kontrolleur, aber auch als Leiter der Trassutschinsker Abteilung – ins gesamt war er 21 Jahre in diesem verantwortungsvollen Amt tätig.

Es gibt in Fjodor Iwanowitschs Arbeitsbuch noch einen weiteren Eintrag – stellvertretender Direktor der Sowchose «Jelowskij» in der Futtermittel-Herstellung. Universal-Fachmann in der Landwirtschaft – so kann man Fjodor Iwanowtsch in der Tat bezeichnen.

Und so brachte es das Leben mit sich, dass Fjodor Iwanowitsch Nina Jakowlewna zur Frau nahm – die Tochter eines verfolgten schiwonatschinsker Kulaken. In ihrem Geburtsjahr (1932) enteigneten sie den Vater und erschossen ihn. Nina lernte keine väterliche Fürsorge und Zärtlichkeit kennen. Seit ihrer Kindheit kannte sie nur alle menschlichen Kräfte übersteigende Arbeit und wegen der schrecklichen Armut konnte sie nicht die Schule besuchen. Seit dem sechzehnten Lebensjahr arbeitete sie als Melkerin und Kälberhirtin, und das tat sie ihr ganzes Leben lang...

Vieles haben die deutschen Sonderumsiedler durchgemacht: Verfolgung und Unterdrückung, Verbannung, Hunger, Kälte, Erniedrigung, doch sie blieben gute und fleißige Menschen. Das Schicksal vieler, unter anderem auch das Los des Fjodor Iwanowitsch, mag als Beispiel für Menschen beliebiger Nationalität dienen. Er bekam für jahrelange gewissenhafte Arbeit den Orden des «Ehrenabzeichens» und zahlreiche andere Auszeichnungen verliehen. Seine Ehefrau – Nina Jakowlewna, besitzt Ehrenurkunden, Dankesschreiben von der Leitung der heimatlichen Sowchose und vom Bezirk. Sie sind nicht nur der Stolz ihrer Kinder und Enkel, sondern unseres gesamten Bezirks!

Nina DOBRJANSKAJA

„Dorf-Nachrichten“ (Balachta), 29 November 2010
Das Material wurde vom Balachtinsker Heimatkunde-Museum zur Verfügung gestellt.


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