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Zerbrochene Schicksale

Am Vorabend des Tages des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen möchte ich auf den Seiten der Bezirkszeitung über die Schicksale von Menschen deutscher Nationalität erzählen, die nach dem traurig-berühmten Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 aus dem Wolgagebiet und anderen Regionen aus ihren angestammten Wohnorten ins entlegene Sibirien ausgewiesen wurden. Diese Menschen hat fast alle das gleiche Schicksal ereilt – sie mussten ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen und ihre Heimartorte praktisch mit Nichts verlassen.

In der Ortschaft Meschowo trafen einige verfolgte Familien deutscher Nationalität ein. Unter ihnen befand sich auch die vierköpfige Familie Knaub – die Mutter mit ihren drei Kindern. Die älteste Tochter Olga war damals 15 Jahre alt, Viktor 13; Frieda war die Jüngste.

FRIEDA JOHANNESOWNA KNAUB wurde am 6. August 1932 in der Siedlung Seljanka, Bezirk Pallassowka, Gebiet Wolgograd, geboren. Sie war in der Familie das letzte Kind. Der Vater starb 1933, als sie 9 Monate alt war. Nach Aussagen der Mutter verstarb er nicht aufgrund einer Krankheit, sondern wurde vergiftet. Als man auf den Feldern mit der Vernichtung von Nagetieren beschäftigt war, fand man ihn dort tot auf dem Boden liegen, neben ihm eine Flasche mit Kreolin. Gemäß der Version der Mutter vergiftete man ihn, weil er der Sohn eines Kulaken war.

Frieda war neun Jahre alt, als ,an sie aus den angestammten Heimatorten aussiedelte – und sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern.

Mit Frieda Johannesownas Worten: «Nach Vaters Tod ließ Mutter das Haus zurück und zog mit uns in den Bezirk Kmelin (Gmelin; Anm. d. Übers.) zu ihren Verwandten. Dort lebten ihre drei Geschwister. In der Heimat hatte ich die erste Klasse beenden können. Am 1. September brachte Mama mich in die 2. Klasse, aber das Schulgebäude war gefüllt mit lauter verwundeten Juden. Wir konnten überhaupt nichts begreifen. Später kam ein Vorgesetzter in Militäruniform und verkündete, dass in der Schule kein Unterricht stattfinden und man alle Deutschen an einen anderen Wohnort deportieren würde. Sie gaben uns vierundzwanzig Stunden Zeit zum Packen. Wir sollten nur das Allernötigste mitnehmen, was man selber tragen konnte, und einen Lebensmittelvorrat für drei Tage. Mama kochte Essen, packten ein paar Dinge ein, die sich mit den Händen tragen ließen. Man brachte uns zur Bahnstation und verlud uns auf Güterwagen. Wir waren sehr lange unterwegs, fast einen ganzen Monat. In Krasnojarsk ließen sie uns aussteigen und brachten uns anschließend zum Flusshafen. Dort verluden sie uns auf einen Lastkahn und brachten uns nach Juksejewo. In Jusejewo trafen wir am frühen Morgen ein, es war September, es war kalt, wir waren ordentlich durchgefroren. Über dem Fluss lag dichter Nebel, man konnte nichts sehen. Es herrschten große Aufregung und Verwirrung, Lärm, Geschrei, man hörte Kinder weinen. Mama versammelte uns um sich und fasste uns bei den Händen, damit wir in der Menge nicht voneinander getrennt wurden. Dann brachten sie uns mit Pferden nach Meschowo. Unsere Verwandten fuhren auch mit us – Mamas drei Geschwister mit ihren Familien, aber auch andere Familien; die Mels, Fritzlers, Usligers, Borgardts u.a.

Ohne jeglichen Besitz kamen wir dort an, alles, was wir uns zuvor angeschafft hatten, war an unserem alten Wohnort zurückgelassen worden. Von der Kolchose erhielten wir vier Säcke Getreide, und das war alles, womit sie uns halfen.

Am neuen Wohnort verwandelte sich unser Leben in eine Hölle. Wir bekamen eine provisorische Unterkunft, eine kleine Holzhütte für zwei Familien. Nach dem Krieg wurde Mama schwerkrank, das eisige sibirische Klima hatte sich auf ihre Gesundheit ausgewirkt. Später litt sie an einer Lähmung, und sie lag insgesamt vierzehn Jahre im Bett. Da man uns nur eine vorübergehende Behausung gegeben hatte, mussten wir den Wohnraum nach einer gewissen Zeit wieder freigeben. Zu dem Zeitpunkt war Mama bereits krank. Zum Glück gab es noch gute Menschen. Mama und wir Kinder fanden Unterschlupf bei Lisa Galiullina, die selber vier Kinder hatte. Einige Zeit später bekamen wir erneut eine temporäre Behausung. Keiner von uns ging zur Schule, denn wir konnten kein Russisch, und außerdem beschimpften uns die Kinder der Ortsansässigen als «Faschisten» und versuchten uns bei jeder Gelegenheit zu verprügeln. Wir litten ständig Hunger. Nur schwer konnten wir uns am neuen Wohnort einleben: es herrschten zu viel Elend und Hunger.

Der älteste Bruder Oskar war krank zur Welt gekommen. Als überhaupt nichts zu essen vorhanden war, gab Mama ihm ein Kissen und ihren neuen Rock, den sie mitgenommen hatte, und schickte ihn ins Nachbardorf Lakino, um beides gegen ein paar Kartoffeln einzutauschen. Der Bruder erhielt für das Kissen und den Rock einen Eimer Kartoffeln. Auf dem Rückweg wurde ihm schlecht, und er setzte sich am Wegesrand nieder. Am selben Tag begaben sich der Dorfratsvorsitzende und eine verbannte Lehrerin zu Pferde mit dem Rechenschaftsbericht ins Bezirkszentrum Bolschaja Murta. Als sie zurückfuhren, sah die Lehrerin am Weg eine menschliche Gestalt liegen und bat anzuhalten. Sie trat an Oskar heran, er lebte noch, und fragte ihn, ob er bis zum Schlitten gehen könne, aber er schüttelte mit dem Kopf. Da bat die Lehrerin den Dorfratsvorsitzenden um Hilfe, um den Jungen auf den Schlitten zu laden und nach Hause zu bringen, doch der antwortete, dass er nie und nimmer Faschisten befördern würde. Er teilte auch den Angehörigen nicht mit, dass sie den Bruder unterwegs erfrierend aufgefunden hatten. Das erzählte man ihnen erst am folgenden Tag. Als sie losfuhren, um ihn zu holen, war er bereits tot, und neben ihm im Quersack lagen die gefrorenen Kartoffeln. Damals war es nicht möglich, irgendwelche Informationen in Erfahrung zu bringen, und das galt besonders für die Verbannten. Aber die Lehrerin hielt es nicht aus, und etwas später erzählte sie die Geschichte meiner Mutter.

Die älteste Schwester, gerad erst 16 geworden, schickten sie an die Arbeitsfront in die Burjatische ASSR. Dort verbrachte sie, weit entfernt von Freunden und Verwandten, ganze 12 Jahre. Bruder Viktor, der als einziger Mann in der Familie blieb, arbeitete ab seinem 13 Lebensjahr in der Kolchose».

Während des Krieges musste die neunjährige Frieda der Mutter helfen – Kartoffeln schneiden und trocknen, um sie an die Front zu schicken. Ab dem 12.-13. Lebensjahr arbeitete sie beim Ausjäten der Aussaat. Mit 14 Jahren arbeitete sie bereits wie eine Erwachsene auf dem Anhänger, mähte mit der großen Sense Heu und kümmerte sich um die Silage. Mit 16 war sie im Schweinezuchtbetrieb als Schweinehirtin tätig, zwei Jahre später wechselte sie zum Kühe Melken. Sie molk, brachte Futter und Wasser in Eimern für das Vieh herbei – all das war schwere Handarbeit. Sie arbeitete bis zur Rente als Melkerin. Im November 1982 ging sie in den wohlverdienten Ruhestand.

Während ihrer Arbeitszeit war sie mehrfach Siegerin im sozialistischen Wettbewerb, Bestarbeiterin der kommunistischen Arbeit. Sie besitzt den Titel «Veteranin der landwirtschaftlichen Arbeit». Ihr wurden zwei Mutterschaftsmedaillen verliehen, und sie erhielt die Rehabilitationsbescheinigung aufgrund ihrer politischen Verfolgung. Außerdem hat sie den Titel «Beste Meisterin der Viehzucht» inne. Viele Male erhielt sie Ehrenurkunden, Geldpreise und wertvolle Geschenke.

Frieda Johannesowna heiratete 1955 den Dorfburschen Nikolai Lapschin. Während ihres gemeinsamen Lebens wurden 6 Kinder geboren, sie hat 17 Enkel und 7 Urenkel. Sie bedauert, dass mit dem Alter auch die Krankheiten kommen. Ihre Hände schmerzen, denn sie sind gebrochen; außerdem ist ihr Blutdruck nicht in Ordnung. Derzeit lebt sie allein, aber sie fühlt sich nicht einsam. Kinder und Enkel besuchen sie ständig und helfen ihr in allem, was nötig ist.

Nadjeschda Ganina. Das Dorf Meschowo

«Neue Zeit», № 43, 29.10.11.


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