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Und es gab keinen einzigen Tag des Glücks

Auf den Seiten unserer Bezirkszeitung möchte ich den Lesern von unserer Jubilarin erzählen. Am 16. März wird sie 85. Der Name meiner Heldin lautet Amalia Friedrichowna Wlasjuk.

Geboren wurde sie im Dorf Lugowoje, Rowensker Bezirk, Gebiet Saratow, an der Wolga. In der Familie wuchsen drei Kinder auf: Mila, Amalia und Bruder Fjodor. Den Vater holten sie 1937 ohne jede Erklärung ab, er kehrte nicht mehr nach Hause zurück. 1941 wurden alle von einer schrecklichen Nachricht überrascht: im Zusammenhang mit den sich entwickelnden militärischen Handlungen gegen Deutschland wurde die eilige Massen-Umsiedlung der Deutschen aus dem Wolgagebiet ausgerufen. Zum Packen der Sachen gab man ihnen 24 Stunden Zeit.

Aus Amalia Friedrichownas Bericht:

«Nachdem wir alles Erworbene zurückgelassen hatten, fuhren wir praktisch mit nichts los. Man durfte lediglich Bündel mit warmer Kleidung mitnehmen. Alles ließen wir zurück. Bis nach Krasnojarsk fuhren wir mit dem Zug in stickigen, völlig überfüllten Waggons. Mit uns transportierten sie die deutschen Familien aus unserem Dorf: die Zwetichs, Leikoms, Dukwins, Knaubs. In Krasnojarsk verluden sie uns am Flussbahnhof auf einen Lastkahn und schickten uns nach Juksejewo. Und von Dort brachten sie uns mit einem Wagenzug und Pferden nach Meschowo. Das war der kalte Herbst des Jahres 1941.

In einem Haus wurden jeweils drei Familien untergebracht – im Haus war es leer, uns stand ein kleines Zimmer von etwa 12 Quadratmetern zu, alle schliefen auf dem blanken Fußboden. Schwierig war es mit dem Essen. Irgendwie überstanden wir den Winter, das Frühjahr kam – wir gingen in den Wald, um Türkenbundlilien zu sammeln, wir gruben Wurzeln aus und aßen sie. Wir aßen Melde, alle möglichen Gräser, und als die Kartoffeln aufgegangen waren, rissen wir die untersten Blätter ab, überbrühten sie mit kochendem Wasser – und das war unser Mittagessen. Die Sachen, die sie uns erlaubt hatten von Zuhause mitzunehmen, tauschten wir gegen Nahrung ein. Wenn es nichts zu essen gab – zogen wir, wie man so sagt, mit ausgestreckter Hand «durch die Welt». Wir gingen durch die Nachbardörfer: Lakino, Schestakowo, Perm. Alles Mögliche passierte: manch einer gab uns was, manche vertrieben uns mit dem Stock, und die « allergutmütigsten » – hetzten ihren Hund auf uns.

Ach, wie schwer es für uns Deutschen war, in der Fremde zu überleben. Kein Tag verging ohne bittere Tränen. Gründe dafür gab es viele: erstens, beschimpften sie uns als «Faschisten», zweitens, hatten wir keinen Kontakt – wir konnten kein Russisch. Und wir besaßen auch keine Kleidung, deswegen bemühten wir uns, nicht in die Schule gehen zu müssen. Ein Glück, dass ich zuhause an der Wolga noch die dritte Klasse hatte abschließen können.

Um uns in irgendeiner Weise zu ernähren und zu überleben, heuerten wir bei den Nachbarn an, um deren Gärtnern für Kartoffeln umzugraben. Die Familien selbst besaßen kein Saatgut, um Kartoffeln zu ziehen.

Ich weiß noch, wie Mama ihren Perlmutt farbigen Knochenkamm gegen Kartoffelschalen eintauschte, um sie einzupflanzen und daraus Kartoffeln zu ziehen. Mit den Kartoffeln wurde das Leben leichter.

Auf alle möglichen Arten beschafften wir Essen, scheuten keine Arbeit. Einmal, ich war 15 Jahre alt, setzten sie mich auf den Anhänger, aber ich konnte den Handhebel nicht hochbekommen – mir fehlte die Kraft. Sie entfernten mich und schickten mich auf die Farm, um Wasser zu erhitzen. Brennholz sägten wir mit der Hand, machten Wasser heiß, kochten Rüben. Um drei Uhr morgens stand ich auf und ging zur Arbeit. Die Arbeiter mussten pünktlich eintreffen. Arbeit und Sorgen musste ich bis zur Erschöpfung auf mich nehmen.

Ich arbeitete in der Sowchosen-Station hinter dem Flüsschen Podjomnaja; dort übernachteten wir – sie ließen uns nicht nach Hause. Ich kochte für die Arbeiter das Essen. Neben mir arbeiteten ebensolche Minderjährige wie ich: Lena Lytkina, Schura Koleschowa, Schura Stazenko, Schura Sotschkowa – mit ihren Kühen eggten sie den Boden. Gesät wurde per Hand. Im Herbst, wenn das Korn heranreift, mähten die erwachsenen Frauen mit großen Sensen, und wir – die jungen Mädchen – banden Garben und bündelten sie auf einem Haufen. Einen Tag später wurden diese Garben auf einen Karren geworfen und mit dem Pferd in den Stall gefahren. Die Kinder, die schon älter waren, steckten die Garben in eine Tonne. Darin wurde das Getreide ausgedroschen. Danach brachten Lonja Jegorow, Fedja Kopow und Wasja Mantschew es nach Juksejewo. Auf so mühsame Weise wurde den verbannten Siedlern das Brot zuteil.

Ab 1957 ließen sie mich als Schweinehirtin arbeiten. Von 1969 bis 1970 arbeitete ich als Kindermädchen im Kindergarten. Danach viele Jahre als Köchin in der Kantine – während der Sommerzeit. Und im Winter als Technikerin im Kontor. 1983 ging ich in Rente.

Mein Leben habe ich aufrichtig gelebt, aber es gab keinen einzigen glücklichen Tag! Ich hatte auch kein Glück in der Ehe. Ich heiratete 1948. Vier Kinder wurden geboren. 1962 wurde mein Mann im Wald von einem Baum zerquetscht, seine Hüfte und sein Rückgrat waren gebrochen. Nach dieser Verletzung blieb er 17 Jahre lang bettlägerig.

1962 fing plötzlich das Haus Feuer, und zwei meiner Söhne erstickten im Rauch. Ich war in der Zeit auf Arbeit. Niemand konnte den Kindern zur Hilfe eilen, sie kamen ums Leben. Kolja, 3 Jahre alt, und Serjoscha, 1 Jahr alt. Ewige Erinnerung an sie».
Amalia Friedrichownas Bericht über ihr schwieriges Leben bringt Traurigkeit mit sich. Derzeit ist sie schwerkrank. Der Veteranenrat besucht sie. Eine Sozial-Mitarbeiter hilft ihr im Haushalt. Die ist ihrer Stieftochter Ludmila sehr dankbar. Ludmila wohnt nicht gerade in der Nähe, aber sie kommt jeden Tag für 2-3 Stunden, um Amalia Friedrichowna nach der Arbeit zu besuchen. Sie hilft, wo es nötig ist, und wo Freundlichkeit und Zuneigung die Seele wärmen, da wird auch das Herz ruhiger.

Seit 1983 trägt Amalia Friedrichowna den Titel «Arbeitsveteranin der Region Krasnojarsk». Seit 2001 – «Arbeitsveteranin der Russischen Föderation». Arbeiterin des Hinterlandes. Sie besitzt ein Dokument «Über die Rehabilitation der Opfer politischer Repressionen», 1977 bekam sie den Titel «Bestarbeiterin der kommunistischen Arbeit» verliehen. Ihre gesamte Arbeitstätigkeit ist von einer Vielzahl Ehrenurkunden und Belobigungen gekennzeichnet.

Liebe Amalia Friedrichowna! Die Einwohner unserer Ortschaft und der Veteranenrat gratulieren ihnen zum runden Geburtstag. Wir wünschen ihnen beste Gesundheit und Seelenwärme! Mögen ihre Angehörigen und die Ihnen Nahestehenden Sie mit ihrer Fürsorge und Aufmerksamkeit umgeben. Seien Sie glücklich!

Nadjeschda Ganina, Ortschaft Meschowo.

„NEUE ZEIT“, ¹ 13, 30.03.2013.


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