Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Русский

Zurückgekehrt aus jener Welt

Ich las den Artikel „Verbannte Ärzte erinnern sich bis heute“, der in der N° 11 vom 15. März veröffentlicht war und erkannte auf dem Foto die Ärzte Wasilij Michailowitsch Bylin und Mark Solomonowitsch Rschesnikow sowie die Krankenschwester Elsa Ernestowna Gildenbrandt. Sofort musste ich an die Hunger- und Kriegszeit zurückdenken. Wer weiß, ob meine Schwester und ich auf dieser Welt gelebt hätten, wenn diese medizinischen Mitarbeiter nicht gewesen wären.

1941 wurden wir, die Wolga-Deutschen, nach Sibirien deportiert. Anfangs geriet unsere Familie nach Bereg-Taskino, später zogen wir nach Krasnyje Gorki um.

Den kalten Winter des Jahres 1942 erlebten wir im Wärterhäuschen der Imkerei. Die Fenster waren vernagelt, Fensterglas gab es nicht. Drinnen waren weder Möbel noch ein Ofen vorhanden. Wir entfachten direkt im Haus, auf einem Metallring, der vom ehemaligen Kanonenofen zurückgeblieben war, ein Feuer. Den Ofen selbst hatten sie uns weggenommen. In den Nächten war es unerträglich kalt. Die Eltern, meine Schwester und ich schliefen zu Viert auf dem hölzernen, mit Stroh ausgelegten Bett. Im Frühjahr fiel Mama in den Fluss und erkrankte an einer doppelseitigen Lungenentzündung. Eine Woche lang lag sie im Fieberwahn und erkannt meine Schwester und mich nicht einmal mehr. Eines Nachts weckte der Vater uns sagte, dass sie gestorben wäre. Wir legten den Leichnam auf den Tisch; der Vater lief durch das ganze Dorf, um Leute zu finden, die einen Sarg für sie anfertigen könnten, und wir rannten in den Wald. Wie fürchteten uns zurückzukehren, ich war och erst 9 Jahre alt und mein Schwesterchen 6. An demselben Tag beerdigten s8ie Mama auf dem D9orffriedhof zwischen Nachwalka und Krasnye Gorki. Nicht einmal ein Kreuz stellten wir…

Wir ließen uns in Atamanowo, am Ufer des Jenissei, im Badehaus einheimischer Dorfbewohner nieder. Wir aßen hauptsächlich das, was wir im Wald fanden, häufig bettelten wir um Almosen. Ich kann mich erinnern, dass die Leute den Vater beschimpften, er hätte mit seinen Kindern kein Mitleid, und sie rieten ihm, uns in ein Kinderheim zu geben.

Bald darauf gerieten wir nach Kekur. Das Kinderheim war in einem zweigeschossigen Kaufmannshaus untergebracht. Wir schliefen auf dem Fußboden. Statt Bettzeug – mit Stroh gefüllte Säcke. Decken gab es ebenfalls nicht. Die Holländeröfen wurden mit feuchtem Brennholz beheizt, mitunter trat uns Dampf aus dem Mund. Der Vater besuchte uns ein paarmal, und bald darauf kam irgend so ein Däumling aus Atamanowo und teilte uns mit, dass es unseren Vater nicht mehr gäbe. So wurden wir zu Waisen.

Im Kinderheim ging es uns ein wenig besser, aber die beklemmenden Erinnerungen an jene Zeit lassen einen oft nicht einschlafen. Wer sich beeilte an den Tisch zu kommen, der schaffte es auch etwas zu essen abzubekommen. Aber du konntest brüllen soviel du wolltest – einen zweiten Teller Wassersuppe füllten sie dir nicht auf. Häufig lief ich in den Wald; dort konnte man wenigstens Wurzeln ausgraben und die kleinen Zweige der Lärchen abknabbern. Ich erinnere mich noch, dass ich einmal vor Hunger oder aufgrund einer Erkrankung nicht laufen konnte – die Beine verweigerten mit ihren Dienst. Und vielen ging es genauso wie mir. Zwei Zöglinge starben sogar.

Aber offensichtlich erbarmte sich Gott unser. An einem Januar-Tag im Jahre 1945 traf eine Kommission im Kinderheim ein. Darunter befanden sich auch Ärzte. Man ließ uns – 25 Kinder – auf Fuhrwerke steigen, deckten uns mit Wamsen und Sackleinen zu und fuhren mit uns ab. Reden konnte ich vor lauter Erschöpfung schon nicht mehr. Zeitweise schlummerte ich ein und vergaß sogar, dass ich noch ein Schwesterchen hatte. Wir übernachteten in der Wysotinsker Schule; die Ortsbewohner brachten uns Brot und Milch. Und am nächsten Tag brachten sie uns ins Bezirkskrankenhaus.

Während des Krieges unterhielten sie nahe der medizin8ischen Einrichtung eine Wirtschaft. Dort zweigte man für uns warme Milch und mit etwas Butter aufgebesserten Brei ab. In den vergangenen vier Jahren hatte ich völlig vergessen, wie so etwas schmeckt. Jeden Morgen vor dem Essen goss die Krankenschwester jedem ein halbes Glas eines Wermutkraut-Aufgusses ein, denn durch den ständigen Hunger hatten wir überhaupt keinen Appetit mehr. Mehrmals täglich schauten die aufmerksamen Ärzte bei uns herein und erkundigten sich nach unserem Befinden. Dank der Verpflegung und fürsorglichen Pflege wurden wir wieder gesund und weitere drei Monate später begrüßten wir den Tag des Sieges im Kinderheim in Podsopki.

Wie viele Jahre sind seitdem vergangen… Alles hatte es in jener Zeit gegeben: sowohl Freude als auch Kummer. Wir haben unser Leben nicht umsonst gelebt, haben gearbeitet, ohne unsere Kraft zu scheuen, wir haben Kinder und Enkel großgezogen. Manchmal erinnert man sich an die lächelnden, aufmerksamen Ärzte, die uns damals aus der anderen Welt wieder zurückholten.

Frida Baranowa
Ortschaft Podsopki
„Land-Leben“ (Suchobusimskoje), 05.04.2013


Zum Seitenanfang