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In dieser Erde bin ich fest verwurzelt

Vor 90 Jahren wurde in einer großen, einträchtig miteinander lebenden Familie ein Mädchen geboren. Es hieß Luise, und außer ihr gab es noch drei Schwestern und vier Brüder. Die Eltern gewöhnten ihre Kinder schon früh ans Arbeiten. Kindheit und Jugend unserer Heldin ähneln dem Schicksal vieler Menschen jener Zeit. Es war ein schweres Leben, es gab nichts zum Anziehen, und sie mussten im Haushalt viel mithelfen. Deswegen endete für sie auch der Schulunterricht mit dem Abschluss der fünften Klasse. Mit zwölf Jahren arbeitete sie bereits in der Kolchose, mit siebzehn – heiratete sie. Bald darauf wurde ihr Ehemann zur Armee eingezogen, und nur wenig später wurde Tochter Ella geboren.

Die aus dem Gebiet Saratow, Kunsker Bezirk, Ortschaft Tarlykowka, stammende Luise Genrichowna Warkentin (Foto) geriet durch den Willen des Schicksals in den Bolschemyrtinsker Bezirk.

«Sie versammelten uns auf dem Platz, sagten, dass wir ein wenig Kleidung und Essen mitnehmen sollten, und dann brachten sie uns zum festgesetzten Zeitpunkt in stickigen Bretterwaggons irgendwohin fort», – begann meine Gesprächspartnerin ihren Bericht. Sie schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort. «Wir waren lange unterwegs, in den Waggons stank es fürchterlich, wir wollten trinken, die Kinder weinten. Und bei uns, den Heranwachsenden und Erwachsenen, stürzten die Tränen nur so aus den Augen. Wir mussten alles zurücklassen, was wir mit unserer Hände Arbeit angeschafft hatten – das Vieh, die Möbel, Kleidung, Hausinventar, und das Wichtigste – unser Dorf am Ufer der Wolga…

Am frühen Morgen traf der Zug in der Stadt Krasnojarsk ein. Anschließend wurden alle zu einer Schute gebracht und nach Juksejewo geschickt und von dort mit Pferden ins Dorf Michailowka gebracht».

So geriet Luise Genrichowna, mit einem Säugling im Arm, ohne die Sprache zu kennen, mitten unter unbekannte Menschen. Sie kam in die Familie der Tolkatschows.

«Sie nahmen mich gut auf, gaben mir zu essen, ein kleines Zimmer und ein paar Sachen von ihrer Kleidung», – erinnert sie sich. – Und es begann ein anderes Leben. Harte, schwere Arbeit von früh bis spät. Sie musste sowohl auf dem Feld arbeiten als auch Essen für die Traktoristen kochen, Kartoffeln pflanzen und ernten, im Winter Getreide sortieren, Heu mähen und bündeln».

Zerbrechlich in ihrer äußeren Erscheinung war sie für viele ein Vorbild und stand vor niemandem zurück, egal welche Arbeit sie verrichtete. 1954 zog sie nach Bolschaja Murta, hier hatte sie zum zweiten Mal Glück. Es kam so, dass ihr zukünftiger Ehemann allein sechs Kinder großzog und die Tochter von Luise Genrichowna. Später wurden noch zwei gemeinsame Kinder geboren.

«Ich brate eine große Pfanne KartoffelnÍàæàðþ áîëüøóþ ñêîâîðîäó êàðòîøêè, stelle Milch dazu (wir hielten eine Kuh), schneide Brot (für gewöhnlich selbstgebacken), Gurken, Tomaten, Kohl (alles aus unserem Gemüsegarten), und als alle satt waren – ab in die Schule», – fährt Luise Genrichowna fort.

So wuchsen sie heran. Sie unterteilte sie nie in eigene und fremde Kinder, sondern behandelte alle gleich. Sie wurden groß, erlernten einen Beruf. Das Schicksal warf sie auseinander. Aber niemals vergessen sie ihre Mutter, rufen sie an, besuchen sie…

«Aber warum sind Sie nicht nach Deutschland ausgereist?» – fragte ich. Ohne auch nur eine Minute nachzudenken, antwortete Luise Genrichowna: «Hier ist meine Heimat. In dieser Erde bin ich fest verwurzelt». Dann, nachdem sie ein Weilchen geschwiegen hatte, stand sie auf und holte aus dem Nebenzimmer ein Fotoalbum. Wir schauten uns die Bilder lange an, sie erzählte von den Kindern, Enkelkindern, davon, dass sie schon seit mehr als vierzig Jahren allein lebt. Gelegentlich erhellte ein Lächeln ihr Gesicht, aber manchmal wischte sie auch eine herabrollende Träne fort.

Alles hat diese Frau mitgemacht: sowohl Freude als auch Kummer. Viele Schwierigkeiten musste sie durchmachen. Aber das hat sie nicht zerbrochen. Sie ist auch heute noch gut auf dem Posten, legt nie ihre Hände in den Schoß. Das Wichtigste in ihrem Leben – die Kinder. Heute bedarf sie ihrer Unterstützung. Sie lieben und achten sie und hören auf ihre Meinung, ihre Ratschläge.

Wenn du diese Frau ansiehst, musst du lächeln, musst dich wundern, wieviel Kraft, Energie, Herzenswärme von ihr ausstrahlt. Und wenn du die Schwelle ihres Hauses überschreitest, tauchst du unwillkürlich in eine Atmosphäre der Wärme und Gemütlichkeit ein.

Für ihre aufopferungsvolle und gewissenhafte Arbeit wurden Luise Genrichowna mehrmals mit Urkunden und wertvollen Geschenken angespornt. Sie ist auch im Besitz einer Medaille zum 65. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945.

Wir wollen die Gelegenheit nutzen und dieser bemerkenswerten Frau Gesundheit, Lebensmut und noch viele-viele Lebensjahre wünschen. Sie wiederholt oft die Worte, mit denen ich auch meinen Bericht schließen will: «Alles ist gut. Alles wird gut!»

Nadjeschda Werner
„Neue Zeit“, ¹ 15, 13.04.2013.


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