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Die Jahre haben die Erinnerungen nicht ausradiert

Auf den Seiten der Bezirkszeitung möchte ich den Lesern von einem sehr geachteten Mann unserer Ortschaft berichten. Vom Arbeitsveteran Friedrich Genrichowitsch (Heinrich) Leikom (s. Foto). Am 16. September wird er 80 Jahre alt.

Friedrich wurde am 16. September 1933 in der Siedlung Pallassowskij, Pallassowsker Bezirk, Gebiet Wolgograd, geboren. In der Familie wuchsen vier Kinder auf. Der Vater wurde 1937 ohne Angabe von Gründen verhaftet, niemand wusste, wohin sie ihn brachten. Die Mutter starb 1939. Die vier Kinder blieben auf den Armen der Großmutter zurück.

1941 setzte im Zusammenhang mit den Kriegsaktivitäten gegen Deutschland die Massenumsiedlung der Deutschen aus dem Wolgagebiet nach Sibirien ein. Weder Jung noch Alt wurde verschont. Alles, was sie sich erworben hatten, mussten sie zurücklassen, man erlaubte ihnen lediglich Bündel mit warmen Sachen mitzunehmen. Friedrich war zu dem Zeitpunkt 8 Jahre alt.

So wurde die Familie Leikom, bestehend aus der Großmutter und vier kleinen Kindern, mit einem Zug aus dem Gebiet Wolgograd in die Stadt Krasnojarsk gebracht. Die Jahre haben die schrecklichen Erinnerungen nicht auslöschen können.

«Am Bahnhof verluden sie uns auf Güterwaggons. Wir waren furchtbar lange in den völlig überfüllten und stickigen Waggons unterwegs. An jeder Bahnstation sprangen die Umsiedler hinaus, um ein wenig frische Luft einzuatmen. In Krasnojarsk verluden sie uns auf einen Lastkahn und schickten uns nach Juksejewo. An der Anlegestelle von Juksejewo trafen wir am frühen Morgen ein. Es war ein kalter Septembertag. Wir waren durchgefroren. Durch den Nebel, der über dem Fluss lag, konnte man nichts sehen. Um keines der Kinder zu verlieren, hielt die Großmutter uns an den Händen. Von Juksejewo ging es weiter mit einem Pferdekarren bis nach Talowka. Von 1941 bis 1948 lebten wir in Talowka. Nachdem wir erfahren hatten, dass in Meschowo eine Hilfswirtschaft der zivilen Luftflotte ihren Betrieb aufgenommen hatte, zog unsere Familie mit einigen anderen Familien deutscher Nationalität 1949 dorthin um».

Friedrich wurde in der Kolchose «Erinnerung an Lenin» als Viehhirte aufgenommen. 1963 wechselte er den Beruf. Er machte während der Arbeit eine Ausbildung zum Traktoristen. Seit der Zeit, bis hin zum Renteneinstieg, arbeitete er beinahe 50 Jahre als Traktorist in der Kolchose. Er arbeitete gewissenhaft auf den Feldern und im Haushalt.
1954 heiratete er Irma Bogdanowna Mai. Die Eheleute zogen sechs Kinder groß. 1993 ging er in Rente.

Aus der Zeit seiner Tätigkeit in der Kolchose «Erinnerung an Lenin» besitzt er zahlreiche Auszeichnungen und Belobigungen. Mehrmals bekam er den Titel «Bestarbeiter der kommunistischen Arbeit» zugesprochen. 1985 wurde ihm die Medaille «Veteran der Arbeit» verliehen. 1997 erhielt Friedrich Genrichowitsch eine Bescheinigung über das Recht auf Vergünstigungen, die gesetzlich für Personen festgelegt sind, welche als Leidtragende der politischen Repressionen anerkannt sind.

«Alles schien so weit gut zu sein, – sagt Friedrich Genrichowitsch mit einem Seufzer, – wir haben die Schwierigkeiten durchgestanden, die Kinder großgezogen, ich habe das Rentenalter erlebt. Doch leider belohnt uns das Schicksal nicht nur mit freudigen Ereignissen, früher oder später naht das Unglück. Der Verlust eines geliebten, nahestehenden Menschen – ist der größte Kummer für die Familie. 1998 starb meine Frau an einer schweren Krankheit. Aber, wie man so schön sagt, kommt ein Unheil selten allein; das Schicksal hatte für mich auch noch die Begräbnisse meiner vier Kinder parat. 2007 starb der älteste Bruder Fjodor aufgrund einer schweren Erkrankung».

Als wir uns von Friedrich Genrichowitsch verabschiedeten, sagte er mit schmerzendem Herzen und zitternder Stimme die folgenden Worte zu mir: «Möge Gott die Menschen davor bewahren, Nadjeschda, dass sie ihre eigenen Kinder überleben. Das darf nicht so sein. Die Kinder sollen ihre alten Eltern begraben, aber auf keinen Fall umgekehrt». Vor Aufregung und aufgrund der schlimmen Erinnerungen rollten ihm dicke Tränen über die Wangen. In derartigen Minuten ist es nicht möglich, den brennenden Seelenschmerz eines leidgeprüften Menschen zu lindern und ihn zu beruhigen – ein Mann, der von Kindheit an nicht wusste, was mütterliche Liebe und Zärtlichkeit bedeuten. Von klein auf hatte er die Schrecken der stalinistischen Repressionen erfahren, die Verluste der ihm liebgewonnen und nahestehenden Menschen miterlebt. Das ist sehr schrecklich und grausam!

Derzeit wohnt Friedrich Genrichowitsch bei seiner Tochter und seinem Schwiegersohn in seinem Haus; er hat 11 Enkel und 10 Urenkel.

Sehr geehrter Friedrich Genrichowitsch! Der Veteranenrat und die Einwohner der Ortschaft Meschowo gratulieren Ihnen von ganzem Herzen zum runden Geburtstag. Wir wünschen Ihnen beste Gesundheit, Geduld und noch viele Lebensjahre. Mögen Freude und Glück Ihr Haus nie verlassen. Mögen Ihre Kinder und Enkelkinder Sie mit ihrer Fürsorge und Aufmerksamkeit umgeben.

Mitglied des Veteranenrats N.M. Ganina, Ortschaft Meschowo

„NEUE ZEIT“, ¹ 37, 14.09.2013.


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