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Alexander Kail: «Ein würdiger Bürger darf seinem Land gegenüber nicht kalt sein»

TAG DES GEDENKENS

Am 30. Oktober wird der Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Verfolgungen begangen.

An diesem Tag erinnert man sich in Russland der Millionen Menschen, die grundlos Verfolgungen ausgesetzt, in Besserungs-/Arbeitslager und in die Verbannung geschickt wurden und die ihre Leben in den Jahren des stalinistischen Terrors und auch danach verloren.

Den Höhepunkt der Verfolgungen stellen die Jahre 1937-1938 dar, als innerhalb von 2 Jahren 1,3 Millionen Menschen nach § 58 («konterrevolutionäre Verbrechen») verurteilt wurden, von denen mehr als die Hälfte erschossen wurde.

3,5 Millionen Menschen wurden in den stalinistischen Jahren aus nationalen Gründen verfolgt. Aus den Reihen der Armee wurden 45% des Kommandostabs «gesäubert», und während des Krieges und auch nach seiner Beendigung waren sowjetische Bürger grausamen Repressalien ausgesetzt, die aus umlagerten Gebieten kamen, in Kriegsgefangenschaft gewesen waren oder zur Zwangsarbeit nach Deutschland getrieben worden waren.

Dieses schreckliche Los ging auch an unseren Landsleuten nicht vorbei. Wir empfehlen Ihnen den Bericht eines unserer Landsleute, dessen Schicksal zu jener furchtbaren Zeit zuschanden gemacht wurde:

Alexander Friedrichowitsch Kail, geboren 1934, Deutscher. Im August 1941 wurde er verfolgt und zusammen mit der Familie nach Sibirien ausgesiedelt. Rehabilitiert 1955. Er arbeitete in der Krasnoturansker Sowchose als Mechanisator. Besitzt Auszeichnungen: «Ehrenabzeichen», Medaillen «Für die Entwicklung von Neu- und Brachland», «Veteran der Arbeit», Ehrenabzeichen «Sieger des sozialistischen Wettbewerbs» nach den Ergebnissen der 9. und 10. Fünfjahrespläne.

Im August 1941, als die deutschen Truppen an den Ufern der Wolga standen, wurde die gesamte Bevölkerung der Saratowsker Deutschen innerhalb von 24 Stunden auf Befehl des Oberkommandos in aller Eile ausgesiedelt und nach Kasachstan und Sibirien gebracht, weil man fürchtete, dass die deutschen Siedler auf die Seite der Hitler-Leute übergehen und dann gegen die UdSSR kämpfen würden.

Der Krieg war grausam und schrecklich. Alle Methoden zum Schutz und zur Verteidigung waren gerechtfertigt. Wir muckten nicht auf, packten so viele Sachen zusammen wie wir tragen konnten und fuhren ab. Bis zum Krieg lebte unsere Familie in der Ortschaft Kano, Bezirk Gmelin, Gebiet Saratow. Wir hatten unser eigenes Haus, eine große Hofwirtschaft. Ich war damals 6 Jahre alt, kann mich aber noch gut an das an unserem Haus festgebundene Fuhrwerk erinnern, mit dem wir zur Bahnstation fahren sollten. Sie erlaubten uns Kleidung und Lebensmittel mitzunehmen. Unsere Eltern hatten vier Kinder. In Gmelinsk wurden wir – in Güterwaggons verladen. Alle weinten. Denn sie hatten ihrer Häuser, ihr Vieh zurücklassen müssen... Wir waren lange unterwegs. Einen Teil der Familien holten sie unterwegs an den Bahnstationen aus dem Zug, um sie an ihren neuen Wohnort zu bringen, aber uns brachten sie nach Krasnoturansk und quartierten uns bei Tante Njura Woroschilowa ein. Wir wohnten lange bei ihr, auch noch nach dem Krieg. Sie war eine gute Frau, wir haben sie in guter Erinnerung. Den Vater holten sie beinahe sofort in die Arbeitsarmee ins Tomsker Gebiet. Er war ein guter Mechanisator. Er starb an einer Erkältung.

1942 geriet auch Mama in die Arbeitsarmee, und wir wurden in ein Kinderheim nach Aleksandrowka gebracht. Kurz darauf kehrte die Mutter zurück, weil sie so viele Kinder hatte, und kam zu uns, um uns abzuholen. In Aleksandrowka wollte man mich adoptieren, sie baten meine Mutter darum, aber Mama wollte mich nicht hergeben. Die Mutter arbeitete in der Kolchose und verrichtete dort ungelernte Arbeiten. Ich beendete zwei Schulklassen an der Grundschule – und das ist meine ganze Ausbildung. Schuhwerk und Kleidung besaßen wir nicht, und Hunger hatten wir. Ich begann früh zu arbeiten, im Alter von 8 Jahren, zuerst auf der Darre, ich trieb die Pferde an, die das Rad drehten, später häufte ich mit der Hand das Heu auf, und noch später wurden wir mit Heugabeln ausgerüstet, um das Heu zu schobern.

1953 wurden an der Maschinen- und Traktoren-Station Traktoristen-Kurse eingeführt, drei Jahre lernte und arbeitete ich dort. 1954, mit 21 Jahren, heiratete ich meine Anna Adonewna, mit der meine ältere Schwester mich bekannt machte. Ich war so arm, dass ich bei der Hochzeit sogar einen fremden Anzug trug. Wir lebten in der Familie der Mutter, später – in einer Erd-Hütte, und dann bauten wir unser eigenes Haus. Ich habe eine sehr gute Frau, fleißig, reinlich, sie hat mich geliebt, und auch ich liebe und achte sie bis heute. Gemeinsam arbeiteten wir in der Sowchose; sie war dort 25 Jahre als Melkerin tätig, hat das «Ehrenabzeichen» erhalten und auch ein paar andere Auszeichnungen. Wir haben 56 Jahre miteinander gelebt und vier Kinder großgezogen. Jetzt haben wir sechs Enkel und drei Urenkel. 1965 zogen wir aus dem alten Krasnoturansk ins neue um und nahmen unser Haus mit. Später wurde es dort zu eng, und 1991 wies die Sowchose uns als Veteranen eine Wohnung in einem Haus mit zwei Wohnungen zu; dort wohnen wir heute noch. Ich bin sehr arbeitsgierig, habe immer gut verdient, der Lohn war höher als der des Sekretärs im Bezirkskomitee; damals bezahlten sie sowohl für die geleisteten Arbeitsjahre als auch für Qualität und Sicherheit der Ausrüstung, und für jeden verdienten Rubel gab es am Jahresende noch Prozente. Und überhaupt war das Verhältnis gegenüber den Arbeitern ein ganz besonderes — es gab Auszeichnungen, Prämien, Ehrenbezeugungen und Achtung; es war nicht so wie heute. Alle fragen mich, warum ich nicht nach Deutschland ausgereist bin. Mich haben Verwandte und Bekannte dorthin eingeladen. Aber was soll ich dort? Dort habe ich nichts, hier habe ich alles, was ich brauche. Hier ist meine Heimat, hier haben meine Vorfahren gelebt, ein anderes Land kenne ich nicht. Ich hege gegen niemanden Groll, die Zeit war halt so, und keiner hatte es leicht. Wenn du dich den Menschen gegenüber gut benimmst, dann werden sie sich dir gegenüber ebenso verhalten.

Mein Sohn ist nach Deutschland gegangen, weil seine Frau darauf bestanden hat. Er arbeitet als Fernfahrer. Bislang ist bei ihm alles in Ordnung, aber wie lange wird es andauern? Ich wünsche mir sehr, dass alle Kinder in der Nähe wohnen, auf ihrem eigenen Stückchen Land.

Die Unterhaltung führte Sophia Spasskaja

„Stadt-Info“ (Krasnoturansk), 25.10.2013


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