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Die ruhelose Erinnerung schläft nicht …

Die Geschichte lässt sich nicht korrigieren, das Einzige, was bleibt – ist die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, damit kein einziges Ereignis, kein einziges Datum, kein einziges menschliches Schicksal in Vergessenheit geraten.
Am Vorabend des Tages der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen trafen im Lesesaal der Siedlungsbibliothek Menschen, für die die Verfolgungen Teil ihrer Biografie sind, und Schüler der höheren Klassenstufen unserer Schule zusammen. Die Begegnung war den Sowjetdeutschen gewidmet, die das schreckliche Schicksal Verfolgungen ausgesetzt gewesen zu sein miteinander teilten. Unsere Gäste Paulina Augostowna Bundan, Magdalena Iwanowna Awdejewa und Jurij Iwanowitsch Lutz teilten mit uns die Erinnerungen über ihr Leben.

Die Deutschen kamen zur Zeit Peters I und Katharinas II nach Russland. Sie siedelten auf freien Ländereien, legten sich eine Bauernwirtschaft zu, gründeten Familien, und Russland wurde ihre Heimat. Eine jähe Wende in ihrem Schicksal ereignete sich 1941. Am 28. August 1941 wurde ein Gesetz verabschiedet, nach dem die gesamte deutsche Bevölkerung der Autonomen Deutschen Wolga-Republik, der Bezirke Saratow und Stalingrad nach Kasachstan und Sibirien ausgesiedelt werden sollte. Die Aussiedlungsoperation wurde in aller Eile und mit aller Härte durchgeführt. In mehr als zwei Wochen wurden 446480 Deutsche in Bezirke Kasachstans und Sibiriens deportiert. Es werden unterschiedliche Zahlen über die eingetroffenen deutschen Sonderumsiedler in der Region Krasnojarsk genannt. In einem Rechenschaftsbericht des Leiters der Krasnojarsker Umsiedlungsabteilung Stepanow wird die Zahl 75623 Personen als tatsächlich Eingetroffene erwähnt, anstelle der geplanten 75000, und das Regionskomitee der KPdSU berichtet per 1. November 1941 über die Ankunft von 17307 Familien in einer Gesamtzahl von 77359 Personen. Sie wurden auf beinahe alle Bezirke der Region verteilt.

Die Familie Bundan aus der Ortschaft Gnadentau im Gebiet Saratow geriet in den Kasatschinsker Bezirk, in das Dorf Gamurino. Paulina war zu dem Zeitpunkt zwei Jahre alt. August Augustowitschs Familie wurde ein kleines Häuschen zugewiesen, in dem sie sich niederließen. Zu essen gab es nichts. Sie gingen in den Wald, sammelten Beeren oder kochten Hafer, die sie dann aßen. Im Frühjahr, wenn das erste Gras hervorsprießte, sammelten die Einwohner auch dieses und aßen es. Durch giftige Pflanzen vergifteten sich ihr kleiner Bruder und das Schwesterchen. Wie Paulina Augustowna sagt, hatte ihre Familie ein sehr schweres Leben: sie arbeiteten seit frühester Kindheit, es gab keine Kleidung, so dass sie ncht zur Schule gehen konnten, und ein ständiges Hungergefühl. Im Frühjahr, beim Aufpflügen, fanden sie im Boden gefrorene Kartoffeln, aus denen das Mütterchen Fladen buk, die wunderbar schmeckten! Paulina Augustowna arbeitete mehr als dreißig Jahre in unserer Siedlung als Tierärztin. Sie war stets beflissen, den Hofbesitzern zu helfen, wofür man ihr sehr dankbar war.

Ihre Landsmännin Frieda Alexandrowna Ksenafontowa (Walter) geriet ebenfalls als kleines Mädchen zusammen mit den Eltern nach Sibirien in die Siedlung Pjatkowo. Der Vater wurde sofort zur Trudarmee eingezogen, und so blieb sie mit ihrer Schwester und ihrer Stiefmutter allein zurück. Jekaterina Fjodorowna, die ihnen die Mutter ersetzte, arbeitete als Traktoristen in der Kolchose, und die Mädchen halfen ihr so gut es ging im Haushalt. Sie hungerten wie alle anderen auch. 1947 kehrte der Vater zurück und fand Arbeit auf der Farm. Frieda beendete fünf Schulklassen und begann anschließend auf der Farm als Melkerin zu arbeiten. 1966 kam sie mit Mann und Kindern nach Prediwinsk, wo sie heute noch lebt.

Die zweite Welle der Sowjetdeutschen, die in unsere Region kamen, waren die sogenannten «Ukraine-Deutschen». In den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges lebten sie in den besetzten Gebieten und besaßen den Status als Volksdeutsche (ethnische Deutsche, die in anderen Ländern lebten und ehemalige Bürger dieser Länder). Nach der Niederlage der deutschen Truppen und dem weiteren Vorstoß der Roten Armee nach Westen, wurden die Sowjetdeutschen von den deutschen Behörden aus der Ukraine nach Polen, aber auch nach Deutschland, evakuiert. Unter Zwang mussten sie mit den deutschen Truppen zurückweichen. Die ersten Deutschen – Repatrianten – trafen in kleinen Gruppen ab Anfang 1945 auf dem Territorium der UdSSR ein. Sie alle wurden zu Sondersiedlern und besaßen nicht das Recht, in ihre Häuser zurückzukehren, in denen sie vor dem Krieg gewohnt hatten. Einige Familien gerieten in unsere Siedlung und Dorf Pokrowka. Sie wurden im Herbst auf einem Lastkahn gebracht, als auf dem Jenissei bereits Eisgang herrschte, und am Ufer abgesetzt. Sie sollten sich selbst eine Behausung, Arbeit und Nahrung suchen. In der Regel handelte es sich um kinderreiche Familien mit vielen kleinen Kindern.

Jurij Iwanowitsch Lutz wurde im Alter von zwei Jahren Sonderumsiedler. Mit seiner Mutter und dem älteren Bruder lebte er in Pokrowka und erlebte eine hungerreiche Kindheit. Das Verhalten der Ortsansässigen im Dorf war zweigeteilt: manche hatten Mitleid und gaben ihnen etwas zu essen, andere beschimpften sie als Faschisten. Aber die Kränkungen sind vergessen. Schule, Dienst in der Armee, Arbeit, Familie – alles so, wie bei den anderen auch. Er hat stets gewissenhaft gearbeitet, in der Holzindustrie war er immer einer der Führenden bei der Produktion. «Bitte nie um etwas» – besagt eine Weisheit, und so hat Jurij Iwanowitsch auch nie um etwas gebeten und alles in seinem Leben selbst erreicht. Er hat in Würde und mit Ehrlichkeit gelebt, was er auch seinen Kindern und Enkelkindern beibrachte.

Jurij Iwanowitschs Kusine – Ida Adamowna Bystrowa (Lutz) war zehn Jahr alt, als sie zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern nach Sibirien gebracht wurde. Sie erinnert sich: «Alle waren glücklich, dass sie uns in die Heimat zurückbringen würden, aber als wir an Moskau vorüberfuhren, fragten sich alle, die im Zug waren, besorgt: «Warum nicht nach Odessa?». Man antwortete ihnen, dass sie in die Verbannung kämen. Mit einem Lastkahn fuhren wir auf dem Jenissei gen Norden und wurden im Dorf Pokrowka abgesetzt. Im ersten Jahr hausten wir mit mehreren anderen Familien in einer Baracke. Die Erwachsenen arbeiteten im Wald, die Kinder blieben zu Hause. Wir gingen durch die Dörfer, tauschten Kleidungsstücke gegen Mehl und Kartoffeln. So überlebten wir». Ida Adamowna ging, nach dem sie vier Schulklassen absolviert hatte, arbeiten. Anfangs in der Holzbeschaffung als Astschneiderin, später als Köchin. Sie heiratete den ebenfalls verfolgten ЗNikolaj Bystrow und lebte mit ihm in Prediwinsk. Sie arbeitete als Verputzerin und Anstreicherin in der Abteilung für Großbau-Projekte, und viele von uns leben in Wohnungen, die mit Ida Adamownas Händen fertiggestellt wurden. Mit ihrem Mann zog sie zwei Töchter und einen Sohn groß. Eine bescheidene, fleißige, fürsorgliche und liebende Mutter, Oma und Uroma – das ist sie – Ida Adamowna!

Magdalena Iwanowna Awdejewa (Kunz) erinnert sich, dass sie bis nach Deutschland mit der ganzen Familie auf Pferden fuhren, nachdem sie ihr Haus, ihren Hof und Garten zurückgelassen hatten. Unterwegs wurde der Vater schwer krank und starb, als sie sich bereits in Deutschland befanden, und dort wurde er auch begraben. Die Mutter arbeitete für Dienstherrn. Nach dem Sieg gerieten sie nicht zurück in die Heimat ins Gebiet Odessa, sondern in die Verbannung. Sie wohnten, wo es gerade möglich war und wie es gerade kam. In den ersten Jahren ernährten sie sich vorwiegend von Kartoffelschalen, die sie sammelten. Sie buken sie auf dem Ofen und freuten sich, dass sie zumindest ein wenig essen konnten. Es war schwierig, in der Schule zu lernen – sie konnten kein Russisch. Mit der Zeit eigneten sie es sich an. Im Alter von 14 Jahren begann sie in der Waldwirtschaft zu arbeiten. 1966 zog sie mit ihrem Mann und den Kindern (Sohn und Tochter) nach Prediwinsk, wo sie heute noch lebt.
Trotz der tragischen Seiten ihrer Kindheit und Jugendzeit, sind sie – meine Helden – voller Lebensoptimismus.

Zu den Deutschen, die sich in Prediwinsk in Sondersiedlung befanden, zählen: Die Familien von Ignaz Genrichowitsch Deis, Kirill Gawrilowitsch Miller, Jekaterina Andrejewna Blum, Peter Michailowitsch Kunz, Andrej Andrejewitsch Blum, Jelena Karlowna Bauer. Alle können hier nicht genannt werden, die das Schicksal ihres so fleißigen und tapferen Volkes teilen mussten.

Die Begegnung war sowohl für die Jugendlichen als auch für die ältere Generation von Nutzen. Sie hat wieder einmal gezeigt, dass die Verbindung zwischen den Generationen nicht abreißt.

W.W. Chartschuk, Prediwinsker Siedlungsbibliothek

„NEUE  ZEIT“, № 46, 16.11.201


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