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«Russland hat Angst vor seiner Vergangenheit»


Transpolar-Magistrale: Strecke Salechard-Igarka.

In Tschechien hat man ein Museum des sowjetischen GULAG geschaffen. In Russland gibt es so etwas bis heute nicht. Enthusiasten, die das Museum gegründet haben, treffen in Kasachstan zusammen, um das KarLag zu erforschen.

Nicht abgeschickte Briefe von Gefangenen, ihre Arbeitshandschuhe und das vollkommen abgetragene Winter-Schuhwerk, eine zerbrochene Gitarre. Diese und andere Gegenstände, die in 15 Geisterlagern des GULAG gefunden wurden, kann man nun Dank der Enthusiasten aus Tschechien online anschauen. Seit bereits mehr als sieben Jahren machen sie sich jährlich einmal auf den Weg nach Sibirien, um nach fast einem Jahrhundert seit der Zeit, als die Organisation des NKWD in Erscheinung trat, um die Orte der Zwangsarbeitslager für Häftlinge zu verwalteten, Fotografien von Gebäuden der Besserungs-/Arbeitslager ins Internet zu stellen.

Das Museum "GULAG.Online" wurde aus Mitteln der tschechischen Öffentlichkeit finanziert, die die Gruppe der Enthusiasten unterstützte, unter denen sich Historiker, Archäologen, Journalisten befinden. Jetzt – wieder im Internet – sammelt die Gruppe Geldmittel für eine Reise nach Kasachstan, um das KarLag zu erforschen. Und das Resultat ihrer jüngsten Arbeit steht bereits im Netz und ist, unter anderem, auch in russischer Sprache zugänglich.

Die Geschichte des Online-Museums begann mit der Erforschung des ehemaligen GULAG-Bauplatzes 501-503. Diese Ziffern bezeichneten den Bau der Eisenbahnlinie Salechard – Igarka im Nördlichen Sibirien, die einmal Teil der Transpolar-Magistrale werden und Tschukotka mit der Barents-See verbinden sollte, doch sie wurde nie zu Ende gebaut und ist heute nicht in Betrieb. Entlang dieser Baustelle gibt es zahlreiche verlassene Besserungs-/Arbeitslager, die, im Gegensatz zu vielen anderen, gut erhalten geblieben sind.


Wachturm in einem der verlassenen Lager des GULAG.

Dank der Erforschung dieses Streckenabschnitts der Bahnlinie ist es möglich, eine Online-Tour durch ein GULAG-Lager zu unternehmen und zu erfahren, wie verschiedene Gebäude aussahen; man kann in die Baracken hineinschauen und sehen, unter welchen Bedingungen die Häftlinge lebten und arbeiteten. Diese Information wird auch von Video-Berichten der Augenzeugen begleitet, hauptsächlich von tschechischen Staatsbürgern, die einst in der UdSSR Repressalien unterworfen waren. Dabei ist jedes Lager auf einer Karte vermerkt, anhand derer man auch das Schicksal eines jeden Gefangenen verfolgen kann: es sind nicht nur die Lager markiert, in denen ein Mensch festgehalten wurde, sondern auch die Orte, an denen seine Verhaftung stattfand, er verhört oder verurteilt wurde.


3D-Modell eines Besserungs-/Arbeitslagers

Nach den Worten des Vorsitzenden der Gesellschaft GULAG.cz, Stepan Tschernouschek, gibt es kein einziges russisches Museum, das über das GULAG-System derartige Einzelheiten berichtet, wie man sie auf der Internet-Seite der Gesellschaft findet:


Teilnehmer der Expedition. Stepan Tschernouschek – ganz rechts.

– Wir verstehen das Wort "GULAG" als Synonym für alle sowjetischen Repressalien, wenngleich wir mit dem Erzählen der Geschichte tschechischer Staatsbürger, die in der UdSSR verfolgt wurden, anfingen. Es ist das Thema der Mitglieder unserer Gesellschaft und Mitarbeiter am Institut für das Studium totalitärer Regime in Prag – Jan Dworschak und Adam Gradilek. Sie unterscheiden drei wesentliche Gruppen von Repressionsopfern. Die erste – vor dem zweiten Weltkrieg, von 1917 bis 1939, – dabei handelte es sich um Tschechen, die im 19. Jahrhundert beispielsweise in der Ukraine, in Wolhynien, oder in anderen Regionen Russlands lebten, sowie enthusiastische Kommunisten, die aus der Tschechoslowakei gekommen waren, um beim Aufbau des sozialistischen Staates zu helfen und die dann in das schreckliche System der Verfolgungen gerieten: sie wurden erschossen oder in den GULAG geschickt. 1938 gab es während des Großen Terrors einen Fall in Schitomir, bei dem innerhalb eines Tages 80 Tschechen erschossen wurden. Das geschah am 28. September, dem Tag des Heiligen Wazlaw – dem Schutzpatron Tschechiens.

Die zweite Periode der Repressionen – während des Zweiten Weltkriegs. Dabei ging es vor allem um Menschen, die vor den Nazis oder den ungarischen Faschisten in die Sowjetunion geflohen waren. Sie hofften sich dort zu organisieren und gegen die Deutschen kämpfen zu können. Die NKWD-Organe verhafteten sie direkt an der Grenze, verurteilten sie und schickten sie in Besserungs-/Arbeitslager. Viele dieser Menschen wurden 1942 gerettet, als in Busuluk die Legion Ludwik Swoboda organisiert wurde. Damals gab es eine Amnestie für die tschechoslowakischen Bürger in allen Lagern des GULAG, und viele kehrten danach nach Hause, in die Tschechoslowakei, zurück. Die Zahl dieser Menschen machte ungefähr 10000 aus.
Insgesamt waren 25000 Tschechen und Slowaken von den sowjetischen Repressalien betroffen – keine geringe Zahl.

Es gibt noch eine dritte Gruppe – diejenigen, die nach dem Krieg verfolgt wurden, beginnend mit dem Jahr 1945, als mit der Roten Armee die Organe der SMERSCH (Hauptverwaltung für Gegenspionage des Volkskommissariats für Verteidigung der UdSSR) und des NKWD in die Tschechoslowakei kamen, die entweder ehemalige Emigranten aus Russland und der Ukraine verhafteten und in den GULAG schickten oder gewöhnliche Menschen, die ihnen aus irgendeinem Grund nicht passten und sogar zufäll8ig Vorbeikommende (es kam vor, dass Passanten verhaftet und als Zwangsarbeiter in die Sowjetunion geschickt wurden.
– Hängt die Wahl der Hauptorte für die Forschungstätigkeit während ihrer Expedition, nämlich der Lager entlang der Bahnlinie Salechard – Igarka, irgendwie mit der Geschichte der Tschechoslowaken zusammen, die den GULAG durchlaufen haben?


Abschnitt der verlassenen Bahnlinie Salechard - Igarka

– Diese Verbindung gibt es in der Tat, allerdings nicht unmittelbar. Die Strecke Salechard – Igarka stellt die Verlängerung der Bahnlinie bis nach Workuta dar, die von Häftlingen gebaut wurde, unter denen sich auch tschechoslowakische Staatsbürger befanden – jene, die beim Grenzübertritt aus der Sowjetunion in den Jahren 1939 und 1940 verhaftet wurden, als sie vor den Nazis flohen. Im Großen und Ganzen sind nicht viele Lager des GULAG erhalten geblieben: von den ursprünglich 30000 nur ein paar hundert. Zum Teil hing unsere Wahl mit dieser Tatsache zusammen.

– Mich hat gewundert, wie viele persönliche Sachen der Häftlinge in den verlassenen Lagern entlang dieser Eisenbahnlinie noch erhalten sind... Warum gibt es in Russland kein einziges Museum, das auf dem Territorium eines einstigen Lagers des GULAG-Systems geschaffen wurde?

– Das verwundert mich ebenfalls: du kommst in ein längst verlassenes Lager, weitab von jeder Zivilisation, gehst durch die Baracken, und findest dort – Schuhe, Mützen, sogar Briefe, welche von den Gefangenen geschrieben wurden; in den Öfen entdeckten wir sogar Briefe mit Gedichten. Und das ist blanke Realität, kein Museum! Es stellt sich die Frage, warum es in Russland kein einziges Museum gibt, das auf dem Territorium eines ehemaligen GULAG-Lagers geschaffen wurde. Ich war schon in vielen Museen, die an den Orten einstiger Nazi-Lager entstanden sind, in Auschwitz, in Buchenwald, und es fällt mir schwer mir vorzustellen, dass es in Europa verlassene Lager der Nazis gab, in denen wir Alltagsgegenstände, beispielsweise inhaftierter Juden, hätten finden können.
Aber in Russland ist das bis heute so, deswegen hatte ich die Idee, ein Museum zu gründen, in dem man diese Exponate zeigen kann: so entstanden die Seiten Gulag.cz. Einige der von mir und meinen Kollegen gefundenen Sachen sind in einem immer noch sehr guten Zustand, wohl wegen des Klimas – dort ist es sehr trocken, neun Tage im Jahr ist die Temperatur unter null Grad. Allerdings sind viele Sachen verdorben: häufig deswegen, weil die Barackendächer beschädigt waren, und ab und zu gehen auch ortsansässige Fischer und Jäger hinein und benutzen alles, was im Lager übriggeblieben ist, um das Lagerfeuer nicht ausgehen zu lassen. So nahmen sie das Lager immer weiter auseinander. Wir haben uns deswegen dazu entschlossen, die 3D-Technik anzuwenden, um diese Gegenstände wenigstens im Internet zeigen zu können. Wir fotografieren also jedes beliebige von uns im Lager gefundenen Stück von allen Seiten, damit man es in vollem Umfang zumindest im Internet sehen kann.


Tagebuch eines GULAG-Häftlings, gefunden während der Expedition 2013


Rasiermesser eines Gefangenen verlassenen Besserungs-/Arbeitslager

– Da Sie nun diese nicht ungeschickten Briefe, Tagebücher, Sachen von Häftlingen in ihren Händen gehalten haben, möchte ich Sie fragen, was Sie dabei empfunden haben?
– Es gab ganz unterschiedliche Gefühle, wenn man das so sagen kann. Als wir 2009 das erste verlassene Lager des GULAG besuchten, fühlte ich die sehr spezifische Atmosphäre nicht, alles um uns herum war vom Dickicht zugewuchert aber als ich dann die erste Baracke betrat und die ersten Dokumente fand, da wurde die Geschichte lebhafter, denn du liest die Notizen irgendeines Menschen, weißt nicht, wert er und fängst an dir das Alltagsleben eines Gefangenen vorzustellen. Das waren sehr starke Emotionen. Wenn du dann im zehnten Lager eintriffst, dann gehst du schon professionell an die Sache heran. Du weißt bereits, wo du suchen sollst, du findest Sachen, fotografierst sie und konzentrierst dich darauf, alles festzuhalten, aber nicht auf deine Emotionen. Die Emotionen holen mich für gewöhnlich nach meiner Rückkehr nach Prag ein.


Baracke

– Vor kurzem wurde das Gedenkzentrum der Geschichte der politischen Repressionen "Perm-36" geschlossen; es gab Proteste ehemaliger Aufseher und Lager-Mitarbeiter, die offensichtlich Einfluss darauf nahmen, dass die Leitung der Region Perm die meisten ehemaligen Mitarbeiter des Zentrums entließ. Wie verhalten sich die russischen Behörden ihrer Arbeit gegenüber?

– Im Verlauf unserer Expeditionen haben wir mit den Verwaltungen der nahegelegenen Städte – Igarka, Salechard und Nadym – Kontakt aufgenommen, die sich an der Bahnlinie befinden – man hat uns keinerlei Hindernisse in den Weg gelegt. Das virtuelle Museum selbst kreieren wir in Tschechien, deswegen unterhalten wir keinerlei Verbindungen zu den Behörden. Natürlich ist das, was mit dem Museum "Perm-36" – dem einzigen Museum dieser Art in Russland - geschehen ist, sehr besorgniserregend. Allerdings wurde dieses Museum nicht auf dem Gelände eines einstigen stalinistischen Lagers errichtet, sondern an der Stelle, an der sich nach dem Krieg das Gefängnis befand. Aber es war das einzige Museum dieser Art, und die Tatsache, dass die Behörden der Region Perm es den Gründern, die es geschaffen hatten, weggenommen haben, versetzt mich wirklich in große Besorgnis.

Der russische Staat möchte die Geschichte unter seiner Kontrolle behalten.

Mir scheint sogar das gefährlich zu sein, weil Versuche begonnen haben, die Geschichte in dem Sinne umzuschreiben, dass man sich bemüht, über irgendwelche Ereignisse nicht zu sprechen, sondern vielmehr davon zu reden, was für die Staatsmacht Nutzen bringt. Diese Tendenz tritt leider in Russland gerade offen zutage: der russische Staat will die Geschichte unter seiner Kontrolle haben, damit niemand sie unabhängig beschreiben kann, damit die Interpretation der Ereignisse nur so gestaltet werden kann, wie sie der heutigen Staatsmacht recht ist. Heute sagen sie, dass die Repressalien nicht in großem Maßstab stattfanden, dass sie keinen unmittelbaren Bezug zur Sowjetmacht besaßen, die im heutigen Russland gerühmt wird. Eine äußerst gefährliche Tendenz. Man darf sich daran erinnern, dass die internationale Organisation "Memorial" in Anführungszeichen als ausländischer Agent dahingestellt wurde, dass einer Permer Blogger zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, der im Internet unter "WKontakte geschrieben hatte, dass die Sowjetunion zusammen mit Hitler 1939 das polnische Territorium eingenommen hatte. All das spricht dafür, dass Russland seine Vergangenheit fürchtet.
Alexandra WAGNER

Radio Asattyk, 14.11.2016


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