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„Ich setze meine Hoffnung auf sie…“

Menschenrechtler auf dem Dorf. Wie die Sowjetmacht sie bekämpfte

Die Geschichte der Zerschlagung der Bauernschaft umfasst nicht nur die Geschichte der Konfiszierungen und Aussiedlungen. Sie beinhaltet auch die Geschichte des Widerstandes. Es kam vor, dass die Sache bis zu einem bewaffneten Aufstand ging, aber davon will ich hier nicht reden. Gegen den Beschluss die Wahlrechte zu entziehen, eine Individualsteuer aufzuerlegen, den Besitz zu konfiszieren legten die Bauern Beschwerde ein. Sie schrieben Briefe ans Bezirksexekutiv-Komitee, die Staatsanwaltschaft, reichten Anträge bei Gericht ein. Die persönliche Akte eines „Entrechteten“ besteht aus Dorfrats-Bescheinigungen und Schrift- Verkehr mit den Instanzen. Wie aber ging diese Korrespondenz von statten, wenn, wie uns die sowjetischen Lehrbücher überzeugten, ausnahmslos alle Bauern Analphabeten waren?

Nicht alle. Und nicht einmal die Mehrheit. Im Russischen Reich gab es ein Programm zur Liquidierung des Analphabetentums. Viele der Bauern hatten in ihrer Kindheit die kirchliche Gemeindeschule besucht und konnten mehr oder weniger gut lesen, rechnen und schreiben. So dass man eher von Halb-Analphabetentum sprechen kann. Das merkt man auch am Schriftwechsel. Viele Beschwerden wurden von den Bauern selber geschrieben – mit ungefügen Buchstaben und in einem ungeschickten Stil. Aber selbständig.

„Ich setzte meine Hoffnung auf sie, dass Sie richtig an die Sache herangehen und mich vom arbeitenden Volk nicht ausgrenzen“.

„Auf Gruntlage des Dargelegten bitte ich sie, ob sich nicht eine Möglichkeit findet, meine Ausweisung und die meiner Fimilie aufzuschieben bis es wärmer geworden ist“.

„Ich bitte Sie Kansker Staatsanwalt geben Sie mir Beistand und lassen sie mich in mein Haus zurück zu meinen Kindern, die überall verstreut untergebracht sind. Ich fühle und weiß um das sawjetische Gesetz, ich wurde sogar in meiner Eigenschaft als Mittelbauer zum Kulaken. Ich bitte mein Gesuch zu prüfen und mich in mein Haus zurück zu lassen und meine kleinen Kindern nachholen zu dürfen, die ohne Vadder und Mutter leiden“.

Heute riskiert es ein Mensch, selbst wenn er eine zweifache höhere Ausbildung genossen hat, nicht immer, beispielsweise eine Klageschrift ans Gericht zu schreiben. Und so wandten sich die halben Analphabeten (ganz zu schweigen von denen, die überhaupt nicht lesen und schreiben konnten) nicht selten an gebildetere Dorfbewohner. Daher sind die Beschwerden aus einem Dorf oft in derselben Handschrift verfasst. Diese Briefe sind sehr typisch, denn auch die Situationen waren bezeichnend.

Es ist interessant, die Situation „von innen“ zu betrachten. Da lebt ein gewöhnlicher Bauer, der sich von seinen Nachbarn lediglich dadurch unterscheidet, dass er besser lesen und schreiben kann. Natürlich schlägt er seinen Dorf-Mitbewohnern nicht die Bitte ab, irgendein Papier für sie zu schreiben bzw. ihnen vorzulesen. Plötzlich steigt die Anzahl dieser Bitten um ein Vielfaches (gemeint ist das Jahr 1928, als der Entzug der Wahlrechte Massencharakter annahm), und er wird, für sich selber völlig unerwartet, zu dem, was man heute als Menschenrechtler bezeichnet, das heißt er erwirbt eine gewisse Erfahrung in der Verteidigung der Rechte seiner Mitbürger und verbringt damit einen nicht geringen Teil seiner Zeit. Für sich selber unerwartet beginnt er, sich im Steuerkodex und dem Wahlrecht zurechtzufinden. Aber auch heute werden Menschen, ohne dass sie damit vorher gerechnet haben, zu Menschenrechtlern.

Natürlich gefiel es den Behörden nicht, dass ein Untertan plötzlich zum Bürger wurde. Und so fand sie eine elegante Antwort. Das Schreiben derartige Gesuche wurde als „Untergrund-Advokaten-Tätigkeit“, als „nicht durch Arbeit erworbenes Einkommen“ bezeichnet. Und nicht durch Arbeit verdientes Einkommen – bildete die Grundlage für den Entzug der Wahlrechte und die Auferlegung einer Individualsteuer, die vollkommen willkürlich berechnet wurde. Einem gewissen Schtschotkin aus dem Abakaner Bezirk wurde beispielsweise ein Einkommen von 750 Rubel im Jahr zugeschrieben – und zwar allein wegen seiner „Advokatentätigkeit“, ohne alles andere zu berücksichtigen. Und Hof galt als wohlhabend, wenn er Einnahmen von mehr als 500 Rubel im Jahr hatte. Und so kam es, dass der „Dorf-Advokat“ sofort in die Reihen der „Kulaken“ (Großbauern; Anm. d. Übers.) geriet, indem das Stadium „Unterkulak“ umgangen wurde. Ich weiß nicht, ob die Dorf-Advokaten sich tatsächlich für ihre Arbeit bezahlen ließen oder ob sie den Dorfnachbarn unentgeltlich halfen, aber allein die Staatsmacht raubte ihnen ziemlich schnell die Lust, gegen sie anzugehen.

Übrigens waren es nicht nur Beschwerden seitens der Bauern, die oft von derselben Handschrift geschrieben waren. Es wurden auch mit gleicher Handschrift Bescheinigungen darüber verfasst, dass dieser oder jener Knecht und Landarbeiter bei sich beschäftigte oder „die arme Bauernschaft durch den Einsatz landwirtschaftlicher Maschinen“ ausbeutete. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Aleksej Babij
Vorsitzender der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation

„Neue Zeitung“, 01.03.2017


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