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Norillag. Die dunkle Vergangenheit einer Stadt

Am 23. Juni 1935 erließ der Rat der Volkskommissare der UdSSR die Anordnung N° 1275 «Über den Bau des Norilsker Nickel-Kombinats».

Im Text des Dokuments heißt es: «Der Bau ist als vorrangig anzusehen, er wird der Hauptverwaltung der Lager des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten übertragen, das verpflichtet wird, zu diesem Zweck ein Sonderlager zu organisieren».

So begann die Geschichte des weltweit größten, hinter dem Polarkreis befindlichen Unternehmens und die Geschichte der Stadt Norilsk.

Mitte der 1930er Jahre war die Massenarbeit von Häftlingen einer der wichtigsten Faktoren der jungen Sowjet-Ökonomie. So wurde 1933 der Weißmeer-Ostsee-Kanal in Betrieb genommen, der ausschließlich mit den Händen von Sträflingen erbaut worden war. Genau dort entstand durch Eingabe des Leiters des Weißmeer-Ostsee-Kanal-Baus Lasar Kogan die berühmte Abkürzung s/k — «inhaftierter Angehöriger der Kanal-Arbeitsarmee». Die Erfahrungen waren erfolgreich gewesen, und so beschloss man, sie für die Erschließung der Nickelvorkommen im Taimyr-Gebiet ebenfalls zu nutzen. Umso mehr, als es erheblich schwieriger war, Freiwillige in diese raue Gegend zu locken, wo die Fröste Temperaturen von bis zu 60 Grad erreichen, mehrere Monate lang tiefste Nacht herrscht und ein normales Leben eigentlich völlig unmöglich scheint.


Wladimir Sossimowitsch Matwejew. Quelle: RIPOL klassik

«TAIMYR-FÜRST» MATWEJEW

Zu der Zeit besaß kein einziges Land in der Welt Erfahrung mit dem Bau eines Industrie-Komplexes hinter dem Polarkreis, so dass vor dem Berufsoffizier des NKWD Wladimir Matwejew, der sich, zum Leiter des Norilsker Bauprojekts ernannt, im Januar 1935 eilig aus der sonnigen Region Krasnodar zur Halbinsel Taimyr aufmachte, keine leichte Aufgabe stand. Nach hunderten freiwilligen Bauarbeitern und Forschern, die zusammen mit Matwejew eintrafen, wurden auch mit mehreren Lastkähnen aus Krasnojarsk die ersten tausend Häftlinge nach Dudinka gebracht. Darüber, unter welchen Bedingungen die ersten Erbauer des Norilsker Kombinats lebten, ist nur sehr wenig bekannt. Aus spärlichen, bruchstückhaften Erinnerungen fügt sich ein düsteres Bild zusammen — die Menschen wurden buchstäblich in den ewigen Frost hinausgeworfen, ohne ihnen irgendetwas zur Verfügung zu stellen, mit Ausnahme von Zelten und einfachster manueller Ausrüstung. Wenn man sich im Sommer aufwärmen und die nasse Kleidung am Lagerfeuer trocknen konnte, die man in aller Eile mit Zweigen der Polarbirken entfacht hatte, so half diese wenig raffinierte Maßnahme im Winter, bei durchdringendem Wind und Kälte, nicht.

Der Gefangene Nilolai Jermolajew, der mit der ersten Partie am Bauplatz des Kombinats eintraf, erinnerte sich: «Im März 1936 wurde ich zum Leiter des Kraftwerks ernannt. Für die Linienführung mussten Schneisen geschlagen werden. Der Chef des Lagerpunktes (Häftling Loboda, ein ehemaliger Kolchos-Vorsitzender) teilte mir einen einzigen Elektromonteur - Tschernow - zu (der aus dem Karlag kam). Und so haben wir beide Bäume gefällt. Bis zum Mittagessen, eingegraben im tiefen Schnee, waren wir völlig durchnässt, gingen zum Essen und waren gezwungen uns umzuziehen. Abends kehrten wir ebenfalls vollkommen nass zurück. Und dabei mussten wir in Zelten hausen! Wie ich das bis heute überlebt habe, ist für mich selber ein Wunder».

Nach offiziellen NKWD-Angaben ist im gesamten Jahr 1935 nicht ein einziger Mensch im Lager umgekommen, und 1936 — «nur» vier. Aus verständlichen Gründen schenken Forscher diesen Rechenschaftsberichten nur wenig Glauben. Jener Jermolajew führt in seinen Erinnerungen folgende Episode an: «Ich weiß, dass vor unserem Eintreffen eine Partei, bestehend aus 300 Mann, nach Walek abfuhr, auf dem Jenissei, durch die Kara-See, über den Fluss Pjassina und den See gleichen Namens. In der Jenissei-Bucht gerieten sie in einen Sturm. Ihr Lastkahn brach auseinander, und alle 300 Mann, die sich im Frachtraum befanden, gerieten ins eisige Wasser. Allen gelang es, ans Ufer zu kommen, wo man sie später einsammelte. Den Chef der Wachmannschaften habe ich schon nicht mehr zu Gesicht bekommen — er hat sich selber erschossen, weil er offenbar der Meinung war, dass andere dies sonst tun würden. Die 300 Häftlinge, welche die eisige Taufe erhalten hatten, starben im ersten Winter. An allen drei Lagerpunkten entstanden Friedhöfe».

Zum September 1935 wurde mit den Kräften der ersten Mannschaften aus Freiwilligen und Gefangenen eine Funkstation, eine Permafrost-Station (zur Erforschung der Möglichkeiten von Bauvorhaben unter Bedingungen des ewigen Frostes), eine offene Grundschule, die übrigens aus nur einem einzigen Raum bestand. Im Dezember machte man sich an die Ausführung der wichtigsten, vorrangigsten Aufgabe — dem Bau der Eisenbahnlinie zwischen Norilsk und Dudinka. Unterdessen gelang es gemäß eigenem Rechenschaftsbericht des Norilsker Bauprojekts für das Jahr 1936 den Arbeitsplan lediglich zur Hälfte zu erfüllen. Man musste die Inbetriebnahme der Bahnlinie, der Ziegelfabrik und des Kraftwerks verschieben. Dabei betrugen die Mehrausgaben Millionen Rubel! Die gleiche Situation ergab sich auch Ende 1937. In seinem Bericht beschrieb Matwejew im einzelnen die Gründe für den Misserfolg: die Schiffskarawane mit Baumaterialien, die im Herbst 1936 von Dudinka in die Kara-See gefahren war, traf nicht rechtzeitig ein, so dass die Fracht zur Überwinterung in der Nähe des Pjassino-Sees verbleiben musste. Allerdings zeigt das dem Rechenschaftsbericht beigefügte Protokoll von der Sitzung der Herren des Norilsker Bauprojekts und des Arbeits- und Besserungslagers die Situation am Bau des zukünftigen Kombinats am allerbesten:


Beginn des Industriestandorts 1940. Quelle: RIPOL klassik

«1935 wurde eine geringe Anzahl Menschen, denen es an jeglichen materiellen Mitteln mangelte, in der unwegsamen Tundra abgesetzt, um dort die für das Jahr 1936 geplanten Arbeiten vorzubereiten. Dieses Kontingent hatte angesichts der enormen Verluste von Zeit und Energie bei der Urbarmachung unter den neuen schwierigen Tundra-Bedingungen, den grausamen Schneestürmen, eine Menge zu leisten, denn das alles wirkte sich auf die Arbeitsfähigkeit und Psyche der Menschen aus; und nur diejenigen, die das selber miterlebt haben, können sich eine Vorstellung davon machen, was es bedeutet, die notwendige Kühnheit und Arbeitsenergie auch nach einem Monat unaufhörlichen starken Windes mit Geschwindigkeiten zwischen 18 und 37 Metern pro Sekunde und schweren Schneewolken zu bewahren, in denen jegliche Sicht nach zwei Metern verloren geht und der Mensch, sobald er aus der Hütte tritt, nicht mehr in der Lage ist, dorthin zurückzukehren, weil er jegliche Orientierung verloren hat; dazu die grimmigen Fröste mit bis zu 53 Grad unter Null, die vollkommen neue Situation, die Verstreutheit der Menschen in der Tundra, als menschliche Siedlungen mit nur wenigen Bewohnern die neue Gegend bewohnbar machen und die ersten Vorbereitungen für den Empfang neuer Arbeitskräfte treffen, Materialvorräte schaffen und den Arbeitsplatz entsprechend ausstatten sollten. Unter diesen Bedingungen mussten die Arbeiter des Norilsker Bauvorhabens im Winter 1936 die ersten Arbeiten zur Verlegung der Traktoren- und Pferdestraßen von Dudinka nach Norilsk verrichten…»

Diese ganz und gar vernünftigen Erklärungen beeindruckten die Leitung des NKWD nicht sonderlich. Im April 1938 wurde Wladimir Matwejew seines Amtes enthoben, zwei Wochen später verhaftet und zu fünfzehn Jahren Lagerhaft mit Konfiszierung des gesamten Besitzes verurteilt. Die Zeitung «Sowjetischer Taimyr» sparte nicht mit Beiworten: «Die Volksfeinde haben versucht, dem Land kein Nickel zu geben und den Menschen die Reichtümer des Taimyr vorzuenthalten. Volksfeinde — das sind diejenigen, die dutzende Millionen Rubel für den Bau der Eisenbahnlinie vergraben haben… Wer hat dieses Lumpengesindel, das zuvor nach konterrevolutionären Fällen beurteilt worden war, beherbergt? Diese Verbrecherbande hat der «Taimyr-Fürst», wie er sich nennt, dieser korrupt Mistkerl Matwejew, unter seine Obhut genommen…"

DER PREIS DES METALLS

Der neue Chef des Norilsker Bauprojekts und ehemalige Direktor des Metallhüttenwerks Awraamij Sawenjagin, voll im Geiste der Zeit, enthüllte in der Arbeit seines Vorgängers eine Vielzahl von Mängeln. Er schrieb in einem Bericht an den «Eisenbahn-Volkskommissar» Jeschow: «Die Situation am Bau ist schlimmer, als im Rechenschaftsbericht angedeutet…
Es fehlt eine Lagerverwaltung, es wurden keine festen Lagerabteilungen geschaffen, es gibt keine Sicherheitsvorkehrungen, kein verpflichtendes Regime. Am Bau wurde offenkundige Schädlingstätigkeit entdeckt».


Befehl über den Frachtverkehr. Quelle: RIPOL klassik

Übrigens hielt Sawenjagin sich nicht lange mit der Suche nach den Schuldigen auf, sondern machte sich flink selber an die Sache. Zum Ersten führte er am Objekt ein strenges Lagerregime ein. Mit der unter Matwejew üblichen freien Bewegungsfreiheit der Häftlinge war es nun vorbei. Zweitens bemühte er sich gleichzeitig, sie mit allem Notwendigen zu versorgen — die Zelte wurden durch mehr oder weniger solide Baracken ersetzt, für die Kinder wurde eine dauerhafte Schule gebaut, für die Ingenieure — ein Haus für ingenieurtechnische Arbeiten mit einer recht guten Bibliothek. Im Unterschied zu den meisten Lagerchefs behandelte Sawenjagin seine Schützlinge nicht wie Verbrauchsmaterial. Beispielsweise betrug die Tagesnorm an Brot im Norillag bei Erfüllung der Planzahl mehr als ein Kilogramm, in den Suchgruppen gab es Büchsenmilch und Schokolade. Aber das Wichtigste war, dass ausgerechnet Awraamij Sawenjagin es schaffte, dass das Norilsker Kombinat sich nicht auf den Ausstoß metallurgischer Halbfabrikate, Feinstein, beschränkte, sondern die Vollzyklus-Produktion aufnahm. Diese Entscheidung definierte das Schicksal des zukünftigen Norilsk als größte Stadt hinter dem Polarkreis. Denn für die Produktion von verkaufsfähigem Nickel brauchte man Elektronen- und Anoden-Anlagen, leistungsstarke Kraftwerke, mit einem Wort — die leibhaftigste High-Tech nach dem Stand der damaligen Zeit. Die hochtechnisierte Produktion bedienen konnten nur Spezialisten auf höchstem Niveau, für die wiederum hervorragende Alltagsbedingungen von Nöten waren — gute Wohnungen, Schulen, Theater. Das alles entstand in Norilsk nur wenige Jahre nach Sawenjagin, aber er war es, der den Beginn, den Grundstein, für das große Bauvorhaben legte. Nicht zufällig trägt das Kombinat bis heute seinen Namen.

1939 wurde endlich die Frage hinsichtlich des Mangels an Arbeitskräften entschieden: hierher wurde ein Großteil des aufgelösten Solowjezker Lagers überführt — ungefähr zehntausend Mann. Die Arbeit setzte mit aller Macht ein, und bereits am Vorabend des Großen Vaterländischen Krieges stellte sich das Norilsker Kombinat als riesiger Komplex dar, einschließlich der Kleinen Metallhütte, einigen Kraftwerken, dem Flughafen und der Bahnlinie. Auch das Norillag war größer geworden, welches nun aus vierunddreißig Abteilungen und zehn Lageraußenstellen bestand.


Bau der Schmalspurbahn Dudinka — Norilsk, 1942. Quelle: RIPOL klassik

In den ersten Kriegsmonaten wurden Ingenieure und Arbeiter aus den Monschegorsker und Naltschicksker Metallhüttenwerken, die unter den Bombenhagel der feindlichen Luftfahrt geraten waren, nach Norilsk evakuiert. Dank dieser intelligenten Einspeisung gelang es, innerhalb kürzester Zeit, die Produktion des für Land und Front so notwendigen Metalls in Gang zu setzen. Im Februar 1942 wurde die erste Schöpfkelle Feinstein gewonnen, und am 29. April schickte man vom Kombinat die allererste Partie reinen Nickels an die Maschinenbaufabriken im Ural.


Bergwerk im Tagebau. Quelle: RIPOL klassik

Gleichzeitig wurden gerade die Kriegsjahre zur schlimmsten Zeit für die Bewohner des Norillag. Die Zwangsarbeiter erhielten kaum noch Verpflegung, wobei zeitgleich die Arbeits- und Produktionsnormen des Arbeitstages erhöht wurden. Demzufolge starben mehr als siebentausend Mann, die meisten von ihnen aufgrund von Erschöpfung. Allerdings sieht die Todesrate vor dem allgemeinen GULAG-Hintergrund im Polargebiet nicht ganz so schrecklich aus — lediglich ein Hundertstel aller in sowjetischen Lagern gehaltenen Häftlinge kamen in Norilsk ums Leben.

AM DUNKELSTEN IST DIE NACHT VOR DER MORGENDÄMMERUNG

Im Sommer 1953 bekam Norilsk endlich den Status einer Stadt verliehen. Allerdings ging dem eines der tragischsten Ereignisse in der Geschichte des Lagers und des Kombinats voran — der berühmte Häftlingsaufstand. Bis Ende der 1980er Jahre wusste selbst in Norilsk kaum jemand etwas darüber, so dass die Umstände des Geschehenen widersprüchlich sind. Nach der einen Version wurde die Revolte durch die merkwürdige, von Lawrentij Berija verkündete Amnestie im Frühjahr 1953 ausgelöst, als die hartgesottenen Kriminellen in Freiheit kamen, während die politischen Gefangenen hinter Gittern blieben. Nach einer anderen Version soll die Lagerleitung absichtlich bewaffnete Konflikte provoziert haben, und zwar nach Vorgabe der Staatssicherheitsführung, die um ihre Zukunft fürchtete und bemüht war, ihre eigene Notwendigkeit in der neuen Realität nach der Stalin-Ära zu beweisen. Wie dem auch sei, nach dem der Aufstand im Gorlag seinen Anfang genommen hatte, erfasste er etwa dreißigtausend Häftlinge, welche Wachen und Administration fortjagten, an den Baracken schwarze Fahnen aufhängten und vergeblich versuchten, sich mit der Forderung nach Abschaffung der Folter, Erleichterung der Bedingungen und Überprüfung ihrer Fälle an die Landesführung zu wenden. Der Sturm auf das Lager, der in der Nacht zum 4. August stattfand, war kurz und heftig.
Kämpfer zweier MWD-Regimenter ÌÂÄ, die man speziell aus Krasnojarsk angefordert hatte, sowie bewaffnete Komsomolzen stürmten das Territorium mit zehn Lastkraftwagen und eröffneten das Feuer. Infolgedessen wurden etwa hundert der aktivsten Gefangenen getötet, die übrigen wurden auf verschiedene Gefängnisse verteilt, indem man ihnen zusätzliche Haftstrafen auferlegte.


Die 1950-år… Ein neues Leben beginnt. Quelle: RIPOL klassik

Und 1955 begann eine neue Etappe in der Geschichte der Stadt und des Kombinats. Die sowjetische Regierung wandte sich mit dem Aufruf an die Komsomolzen: kommt her und erschließt den äußersten Norden! Innerhalb weniger Monate füllte sich Norilsk, das kurz zuvor noch gänzlich zugeknöpft gewesen war, mit jugendlichem Lachen und Gesang. Es fanden wohl täglich Hochzeitsfeiern statt. Bereits im darauffolgenden Jahr, 1956, wurde das Norillag aufgelöst.

AUF EWIG MIT DEM TAIMYR-GEBIET VERBUNDEN

In etwas mehr als zwei Jahrzehnten durchliefen ungefähr 300000 Gefangene das Norillag. Einen bedeutenden, wenn nicht den bedeutendsten, Teil machten die sogenannten Politseki, die politischen Gefangenen aus — verurteilt nach dem traurig-berühmten Paragraphen 58 (konterrevolutionäre Aktivität). Speziell für Politische wurde das Gorlag eingerichtet — mit den schwersten Arbeiten und seinen selbst vor dem Hintergrund des Norillag äußerst rauen Bedingungen. Indessen befanden sich darin nicht wenige tatsächlich bemerkenswerte Menschen. Der Ingenieur für Verkehrswege Michail Potapow, der vor seiner Verhaftung einen Kreis von Rationalisten und Erfindern geleitet hatte, zeigte im Kerker selber erstaunliche erfinderische Fähigkeiten — er erarbeitete ein effektives System zum Schutz von Schienenwegen und Straßen vor Schneewehen, wofür er vorzeitig entlassen wurde und den Spitznamen „Opa Schneeweh“ erhielt. Der herausragende Historiker Lew Gumiljow, Sohn von Nikolai Gumiljow und Anna Achmatowa, verbrachte aufgrund der Anklage wegen konterrevolutionärer Propaganda fünf Jahre im Norillag. Seine Arbeit beschrieb er mit einem maximalen Grad an Optimismus – ein zugänglicher Mensch unter ähnlichen Umständen: «Der Stollen kam uns wie eine wohlige Unterkunft vor, denn dort herrschte dauerhaft eine Temperatur von minus 4 Grad. Im Vergleich zu den Frösten um minus vierzig Grad oder den verfluchten Schneestürmen draußen, die einem den Boden unter den Füßen wegzogen, verlief der Arbeitstag im Stollen schmerzfrei». Obwohl er keinen Zugang zu irgendwelchen Informationsquellen und zur Literatur hatte, ließ Gumiljow nichts unversucht, sich mit wissenschaftlicher Arbeit zu befassen. Als Mitautor verfasste er zusammen mit seinem Lagerfreund, dem Schriftsteller Sergej Snegow, die scherzhafte «Geschichte des Abfalls der Niederlande von Spanien», die vollständig in Rotwelsch geschrieben wurde. Viele Jahre später erinnerte sich Sergej Snegow an seine Streitgespräche mit Gumiljow in den seltenen Minuten, in denen sie sich am Ufer des Kohlenbachs ausruhen konnten: über den Pragmatismus des James Joyce, die Überlegenheit von Kaspar Schmidt gegenüber Friedrich Nietzsche. Snegow selbst war Autor der berühmten «Norilsker Erzählungen», die neben den Werken von Aleksander Solschenitzyn, Warlam Schalamow, Lew Rasgon und Jewgenij Ginsburg eine Vorstellung vom rauen Lagerleben vermitteln.

Das Schicksal in der Person eines NKWD-Ermittlungsrichters brachte auch den Volksschauspieler der UdSSR Georgij Schschonow nach Norilsk. Zum ersten Mal wurde er 1938 verhaftet — wegen einer Unterhaltung die er mit einem amerikanischen Diplomaten im Zug geführt hatte. Man schickte ihn in die Goldbergwerke des Dalstroj. 1949, vier Jahre nach seiner Freilassung, wurde er erneut festgenommen und nach Norilsk gebracht. Georgij Stepanowitsch entging dem Norillag — er arbeitete am örtlichen Dramaturgie-Theater, wo er übrigens Innokentij Smoktunowskij kennenlernte.

Das Norillag durchliefen der Schriftsteller Aleksej Garri, im Bürgerkrieg Soldat unter Kotowskij, der Ingenieur Michail Kim, der sich ausgedacht hatte, Häuser im Hohen Norden auf Pfählen zu errichten, wodurch es beim Städtebau gelang, mit dem ewigen Frost fertig zu werden, der Journalist und Schriftsteller Abram Agranowskij, der eine ruhmreiche Journalisten-Dynastie begründete, und sogar Nikolai Urwanzew höchstpersönlich, der zu Beginn der 1920er Jahre die Nickelfundstätte im Taimyr- Gebiet eröffnet hatte. Die Geschichte Nikolaj Nikolajewitschs ist besonders bezeichnend. 1938, als er bereits ein berühmter Forscher im Norden war, verhaftete man ihn aufgrund einer wahnhaften Beschuldigung wegen Schädlingstätigkeit und Gründung einer konterrevolutionären Organisation. Zwei Jahre später wurde das Urteil aufgehoben, doch schon bald darauf wurde er erneut festgenommen und ins Norillag gesteckt. Trotz schlechter Behandlung durch die «kompetenten Organe», gab der Häftling Urwanzew all sein Wissen und seine Erfahrung zum Nutzen der allgemeinen Sache her, indem er an der Spitze des geologischen Dienstes des Kombinats stand. Auch nach seiner Freilassung verließ er das Taimyr-Gebiet nicht, sondern setzte auch die folgenden zwanzig Jahre seine Forschungstätigkeit in der Arktis fort. Der Wissenschaftler hinterließ den Wunsch, seine Asche in Norilsk beizusetzen.

Quellen

Umschlagfoto: Sergej Gorschkow
Text: Grigorij Wolf
Die Ausgabe konnte mit Unterstützung der Offenen Aktiengesellschaft „Bergbau- und Metallhütten-Komplex Norilsk-Nickel" 2017 realisiert werden.
Fotos: Jekaterina Frolowa sowie aus dem Archiv des Presse-Dienstes «Nornickel"
Zeichnungen: Natalia Oltarschewskaja

„Dilettant“, 01.10.2018


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