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Eine vergessene Vergangenheit birgt das Risiko in sich, sie noch einmal zu erleben

Am 30. Oktober gedenken Angehörige und Hinterbliebene von Repressionsopfern all derer, die in den zwanziger bis vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unschuldig erschossen wurden oder in sowjetischen Lagern durch Folter, Krankheit, Hunger und Kälte ums Leben kamen, die aus ihren heimatlichen Häusern geworfen und in niedrige, rechtlose Sklaven verwandelt wurden, denen man das Etikett „Volksfeind“ aufgedrückt hatte.

Es ist bekannt, dass der Terror der Bolschewiken gegen die riesigen Volksmassen sofort nach der Revolution des Jahres 1917 begann und sich auf dem gesamten Territorium des Landes über mehrere Jahrzehnte fortsetzte.

Am 20. Dezember 1917 wurde beim Rat der Volkskommissare der RSFSR ein Sonderorgan gegründet, welches die Bezeichnung "Allrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage" erhielt, im Volk eher bekannt als "Tscheka".

Der Plan für die vorliegenden Strukturen wurde von F.E. Dserschinskj entworfen, und am 5. September 1918 erging die Anordnung des Rates der Volkskommissare "Über den roten Terror". Darin ging es darum, dass "die Sicherstellung des Hinterlandes durch Erhöhung des roten Terrors eine unmittelbare Notwendigkeit“ wäre und "es ebenfalls notwendig ist, die Sowjetrepublik vor Klassenfeinden durch deren Isolierung in Konzentrationslagern zu schützen".

So gingen im sowjetischen Russland die ersten Konzentrationslager in Betrieb, und die Anordnung für ihre alsbaldige Organisierung wurde, wie heute mit Sicherheit bekannt ist, vom "menschlichsten aller Menschen", "dem Führer des Welt-Proletariats und Freund aller Werktätigen", W.I. Uljanow-Lenin, höchstpersönlich unterzeichnet.

Zum Kompetenzbereich der Allrussischen Tscheka gehörten hauptsächlich die Gegenspionage und der Kampf gegen politische Gegner der Sowjetmacht. Seit Beginn seiner Gründung führte die „Tscheka“ einen unerbittlichen Kampf gegen alle, die mit der Politik der neuen Staatsmacht nicht einverstanden waren, unter anderem auch mit den Methoden außergerichtlicher Repressalien.

Einen ganz besonderen Höhepunkt erreichten die von den Bolschewiken angewendeten außergerichtlichen Repressalien, nach dem Herausbringen der Direktive der Sowjetregierung „Über den roten Terror“ im September 1918. Dieses Dokument gewährte der Allrussischen Tscheka unbegrenzte Vollmachten: die Organe konnten jede beliebige Person „liquidieren“ - unter dem Vorwand, „die Feinde der Revolution ausschalten zu wollen“.

Auf Beschluss des neunten Kongresses der Sowjets im Februar 1922 wurde die Allrussische Tscheka zur Besonderen Staatlichen Politischen Verwaltung, der OGPU, umorganisiert. In ihre Kontrolle wurden sämtliche Haftverbüßungsorte aller Häftlingskategorien in der RSFSR übergeben. Im Verlauf von eineinhalb Jahren, von Anfang 1922 bis Mitte 1923, betrug die Anzahl der durch die OGPU-NKWD-Organe verhafteten Personen in einem einzigen Quartal durchschnittlich 2557, und um die Mitte 1924 war ihre Zahl auf 353191 Gefangene gestiegen.

Nach dem Ende des Bürgerkrieges verkündete die Sowjetmacht im Land die NÖP – die "neue ökonomische Politik" und fing zur selben Zeit damit an, den fleißigen Bauern und Unternehmern unterschiedlicher Art die Etiketten "Kulak" (Großbauer; Anm. d. Übers.) oder "Nepman" (Kaufmann, Ladenbesitzer zur Zeit der NÖP; Anm. d. Übers.) anzuheften.

Gegen Ende der zwanziger Jahre verschärfte sich diese politische Parteilinie noch mehr, die Staatsmacht begann, die Einzelbauern gewaltsam in kollektive Agrarunternehmen – die Kolchosen – zu treiben. Und 1930, am 2. Februar, erging der offizielle Befehl der OGPU N 44/21 über die Entkulakisierung (Enteignung der Bauern; Anm. d. Übers.).

Den Menschen, die sich vor Ort diesen Veränderungen widersetzten, wurden sofort alle politischen und wirtschaftlichen Rechte entzogen, man verhaftete oder erschoss sie mitunter sogar. Die Familien solcher Personen wurden zusammen mit ihren kleinen Kindern in entlegene Bezirke deportiert, ihre Häuser und Hofwirtschaften – enteignet.

1937, am 30. Juli, kam der operative Befehl des NKWD N 00447 "Über die Operation zur Verfolgung ehemaliger Großbauern, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente" heraus. Kein einfacher Zeitraum – die Jahre 1937 bis 1938; später bezeichnen Historiker diese Zeit als „Großen Terror".

Gerade in diesen Jahren erreichten die Repressalien ihren Höhepunkt. Es genügt zu sagen, dass im gesamten Jahr 1936 in der Sowjetunion 1118 Menschen erschossen wurden, während die Zahl der durch die Todesstrafe umgekommenen Personen 1937-1938 im Lande auf 681692 anstieg.

Diese Repressionsmaßnahmen erhielten im Volk die bildliche Bezeichnung "Jeschowschtschina" – nach dem Namen des Volkskommissars des NKWD der UdSSR Jeschow. In eben diesen Jahren hatte die höchste Anzahl vollkommen unschuldiger Sowjetbürger unter der großen Säuberung zu leiden. Ihre ganze "Schuld" bestand lediglich darin, dass sie in den Verdacht der "peitschenschwingenden Meister" des NKWD geraten waren, und viele von ihnen aufgrund erlogener Denunziationen, welche, das muss man hier anmerken, äußerst vielfältig waren...

Im Juli 1937 wurde an die regionalen Strukturen des NKWD ein verschlüsseltes Telegramm versendet, mit dem die Erlaubnis erteilt wurde, bei Verhören Foltermethoden anzuwenden. Auch zuvor hatten die Ermittlungsrichter sich nicht davor gescheut, doch nun begannen sie regelrechte Gräueltaten zu verüben. Untersuchungsrichter und Gerichte hörten damit auf, nach Schuldbeweisen zu suchen. Das Geständnis des Verhafteten wurde zur Zarin aller Beweise.

Kam es in den ersten Jahren der Sowjetmacht hin und wieder, wenn auch selten, zu Freisprüchen, weil kontroverse Gerichtsverfahren noch gewahrt wurden, so wurde nun innerhalb kürzester Zeit dieses "Relikt der Zarenzeit" in der RSFSR abgeschafft.

Man führte ein beschleunigtes Überprüfungsverfahren durch sogenannte „Troikas“ ein, die aus einem leitenden Mitarbeiter des NKWD, der Partei und des Exekutivkomitees der Region bestanden. Es gab keinen Verteidiger, und oft lud man noch nicht einmal den Verhafteten selber zur Verurteilung vor Gericht. Dem Verurteilten wurde lediglich der Beschluss über seine Strafe übermittelt – Erschießung oder die Dauer der Haftzeit, für die er in ein Besserungs-/Arbeitslager (ITL) weggesperrt werden sollte.

Am 15. August 1937 kam der operative Befehl des NKWD N 00486 "Über die Verhaftung der Familienmitglieder von Volksfeinden" heraus. Das Familienoberhaupt erhielt nun bei seiner Verhaftung eben diese Bezeichnung. Gleichzeitig mit ihm verhaftete man seine nächsten Verwandten, die mit ihm zusammenwohnten.

Dabei wurden Kinder bis zum 3. Lebensjahr in Kinderheimen und -krippen untergebracht. Kinder zwischen dem 3. Und 15. Lebensjahr wurden in sogenannte „Sonderverteilungsstellen“ geschickt, im Grunde genommen ehemalige Gefängnis-Kolonien für minderjährige Kriminelle. Die Gruppen wurden so zusammengestellt, dass „Kinder, die miteinander verwandt oder bekannt waren, nicht in ein- und demselben Heim untergebracht wurden“.

Über alle Kinder von Verurteilten wurde eine Aufsicht organisiert. Ab dem 15. Lebensjahr zählten sie zu den für die Staatsmacht "sozial gefährlichen Elementen“ und sie unterlagen der geheimen Aufsicht durch das NKWD.

Praktiziert wurde die Aufstockung der Strafe durch eine erneute Haftdauer bei zahlreichen Kategorien politischer Häftlinge, die nach § 58 verurteilt worden waren. Das war für das Regime einfacher, als die Leute immer und immer wieder neu zu verhaften, sich für sie Anklagen auszudenken und sie auf Gefangenenetappen zu schicken...

Sie gingen auf andere Art und Weise vor: am Lagerhaftverbüßungsort bestellte man den Gefangenen (Soundso) zur Verwaltung des ITL (oder Gefängnisses), wo man ihm mitteilte, dass „seine Haftstrafe zusätzlich auf soundso viele Jahre verlängert" worden sei.

Aus den Gerichtsaufzeichnungen des Staatsanwaltes der UdSSR Wyschinskj an den Volkskommissar des NKWD Jeschow vom 19.02.1938, in denen er insbesondere den Stand der Dinge in den fernöstlichen Lagern festhielt:

"Die Ankömmlinge besitzen keine Wäsche,, nichts außer Fetzen. Und das Schreckliche ist, dass es im Bamlag keinerlei Vorräte ab einem Satz Wäsche, Stiefeln, Kleidung gibt... Viele Häftlinge besitzen nichts, in dem sie zur Arbeit gehen können..."

Allerdings machte Genosse Wyschenskij diese Aufzeichnungen nicht mit dem Ziel, das Los der Menschen zu erleichtern (gerade er war es gewesen, der seinerzeit vorgeschlagen hatte, die Rechtsmittel gegen sämtliche Urteile abzuschaffen, um die Arbeit der sowjetischen Straforgane zu erleichtern und zu beschleunigen), sondern damit das GULAG-System auf dem Höhepunkt der Verhaftungswelle durch den riesigen Arrestanten-Strom, der durch die sowjetischen Gefängnisse und Lager lief, nicht, wie beinahe 1937-1938 geschehen, zum Erliegen kam.

Überflüssige "Krepierer" – so nannte man Häftlinge, die durch ständigen Hunger, Kälte und die alle Kräfte übersteigende Schwerstarbeit völlig geschwächt waren – wurden in einigen Lagern nachts von den Wachen dem eisigen Frost ausgesetzt. Und hier überließ man sie der Willkür des Schicksals – die durch Hunger und schwerste Arbeit ohnmächtigen, unglücklichen Menschen waren zum unvermeidlichen Sterben verurteilt.

Und lediglich ein kleiner Teil dieser Menschen, dem es gelang, in den Lagern zu überleben, fiel unter die "Abmeldung", das heißt die vorzeitige Freilassung aus einer weiteren Strafverbüßung aufgrund des Gesundheitszustandes.

Es existiert noch ein Telegramm von J.W. Stalin an alle regionalen Leiter der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewisten) und NKWD-Behörden der Regionen und Gebiete:

"Dem Zentralkomitee der AKP (B) wurde bekannt, dass die Sekretäre der Gebiets- und Regionskomitees den Mitarbeitern der NKWD-Behörden bei deren Überprüfung die Anwendung physischer Gewalt gegenüber Verhafteten wie etwas Kriminelles zur Last legen. Das Zentralkomitee der AKP (B) erklärt, dass die Anwendung physischer Gewalt in der Praxis des NKWD seit 1937 mit Erlaubnis des ZK der AKP (B) zulässig war. Das ZK der AKP (B) ist der Ansicht, dass die Methode der physischen Gewalt unbedingt auch künftig zur Anwendung gelangen sollte, und zwar als völlig korrekte und zielgerichtete Methode vor allem im Hinblick auf eindeutige Volksfeinde und solche, die ihre Waffen nicht ablegen wollen".

Die Repressivpolitik des sowjetischen Staates gegenüber dem russischen Volk setzte in den ersten Tagen der Machtübernahme durch die Bolschewisten im Oktober 1917 ein und dauerte, mal an-, mal abschwellend, bis Mitter der fünfziger Jahre.

Nach dem Tod des Führers aller Zeiten und Völker im März 1953 wurden die politischen Repressionen zunächst ausgesetzt und nach und nach eingestellt. Die ganze Schuld an ihrer Durchführung während der Sowjetperiode wies man J.W. Stalin und einigen anderen ihm nahestehenden Personen aus seiner Parteiführung sowie dem NKWD-MGB zu.

Um einen Anschein der Wiederherstellung der mit Füßen getretenen sozialistischen Legalität zu schaffen, wurden einige der abscheulichsten Figuren aus dem Führungskader des NKWD und MGB der UdSSR verurteilt, doch es waren nur wenige.

Alle übrigen Personen aus dem mittleren und jüngeren kommunistischen Personal der Organe, die an der Durchführung des wahren Genozids am russischen Volk in den 1920er bis 1950er Jahren Schuld waren, lebten, so kann man wohl sagen, ziemlich gut bis ans Ende ihrer Tage, bis ins hohe Alter. Ihnen blieben ihre speziellen Titel, Auszeichnungen, Bewilligung von Vergünstigungen als Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges sowie gute Kriegsrenten erhalten. Manche von ihnen traten sogar als persönliche Pensionäre UF Unions- und Republikebene in Erscheinung.

Beider Wende Ende der fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts setzte im Lande die selektive post-mortem-Rehabilitation unschuldiger Opfer des totalitären Regimes ein, von denen viele zu diesem Zeitpunkt nicht mehr am Leben waren.
Die Staatsmacht unternahm den nächsten Versuch, das Ausmaß der in unserem Lande durchgeführten Repressivmaßnahmen zu verbergen; deswegen zog sich die Rehabilitierung der Repressionsopfer über Jahre und Jahrzehnte hin, so dass viele der Bürger, die unschuldig gelitten hatten, ihre Rehabilitation gar nicht mehr erlebten.

Es fällt nicht leicht, sich jener Dinge zu erinnern und über sie zu schreiben. Bisweilen möchte man all die Gräuel der unmenschlichen politischen Verfolgungen in der UdSSR vergessen, aber das darf niemals sein, denn dann besteht das Risiko, dass man die vergessene Vergangenheit noch einmal erlebt.

Sergej BAIKALOW.

Abakan, 26.10.2018


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