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Werden die Archive mit den Opfern der politischen Repressionen vernichtet? Wer tut das und warum? Wir klären das mit der Gesellschaft «Memorial»

Zu Beginn des Sommers tauchte die Information auf, dass, laut eines angeblich geheimen Befehls, in Russland die Akten der politischen Häftlinge vernichtet würden. Die Nachricht löste einen Sturm der Entrüstung aus. Sollte man jetzt die Wahrheit über die Verfolgungen nicht mehr finden können und würden die Opfer des stalinistischen Terrors jetzt für immer spurlos verschwinden? Wie es sich damit in der Region Krasnojarsk verhält, erzählte der Zeitung «Prospekt Mira» (Friedensalle; Anm. d. Übers.) der Vorsitzende der Krasnojarsker «Memorial»-Organisation Aleksej Babij – ein Mann, der seit mehr als 30 Jahren die Schicksale von Repressionsopfern rekonstruiert und der wie kein anderer den Wert dieser Dokumente zu schätzen weiß.


Aleksej Babij

Woher stammt diese Information überhaupt?

Der Forscher Sergej Prudowskij, der sich mit dem Sammel von Informationen über die Repressionsopfer befasst, konnte im Frühjahr dieses Jahres weder die Registrierkarte noch die persönliche Akte des verfolgten Bauern Fjodor Tschasow finden, der eine Strafe im Gebiet Magadan verbüßte. Er richtete eine Anfrage an die MWD-Gebietsbehörde. Dort bekam er die Antwort, dass die Dokumente vernichtet worden seien – und zwar entsprechend einem Befehl vom 12. Februar 2014. Wie man ihm erklärte, werden laut diesem Gesetz alle Registrierkarten sämtlicher Gefangenen vernichtet, die inzwischen das 80. Lebensjahr vollendet haben, mit Ausnahme derer, die aus «politischen» Motiven nach §58 eingesessen hätten. Tschasow jedoch wäre als sozialgefährliches Element inhaftiert gewesen.

Was ist das für ein Befehl, worum geht es darin und weshalb ist er geheim?

Er ist selbstverständlich nicht geheim, sondern lediglich für dienstliche Nutzung bestimmt, was für derartige Strukturen durchaus nicht verwunderlich ist. Aus dem, was mir bekannt ist, gibt es darin sowohl Vor- als auch Nachteile.

Das Plus liegt darin, dass mit diesem Befehl ein Prozess der vollständigen Digitalisierung von Dokumenten der Repressierten in Gang gebracht wurde. Soweit ich weiß, läuft dieser Prozess in Krasnojarsk seit dem Jahr 2000. Digitalisiert wird das Archiv der GUWD (Staatliche Innen-Behörde; Anm. d. Übers.). Das ist ein sehr großer Fortschritt. Vor 20 Jahren haben wir mit dieser Arbeit erst begonnen und gemeinsam mit der GUWD die Datenbase der Gefangenen des NorilLag aufgearbeitet. Lediglich die Karten wurden von den Archiv-Mitarbeitern per Hand in die Datenbase übertragen, von einem Einscannen war überhaupt keine Rede. Und im NorilLag, beispielsweise, gab es 274000 solcher Karten. Eine schwierige Arbeit. Jetzt, da die Möglichkeit des Scannens besteht, ist alles etwas einfacher und zuverlässiger — beim Umschreiben passieren häufig Fehler, denn einige der Karten sind fast unleserlich.

Das Minus liegt darin, dass das Kriterium «zur Vernichtung», soweit ich es verstehe, unklar vorgeschrieben wurde. Es heißt, dass man die Akten vernichten will, die eine gewisse Frist überschritten haben (sofern die Leute das 80. Lebensjahr erreicht haben), mit Ausnahme derer, die nach einem «politischen» Paragrafen verurteilt wurden. Aber es ist unverständlich, wenn sie als «Politischen» einordnen. Jener Tschasow wurde als sozial gefährliches Element verurteilt. Doch eine derartige Formulierung gibt und gab es im Strafgesetzbuch nicht. Nach dem Paragrafen „Sozial gefährliches Element“ wurden auch die Kinder der Eltern, die nach § 58 verurteilt wurden, oder auch einfach nur Rowdys, ausgewiesen. Verurteilt wurden sie von Troikas oder Dwoikas ohne jegliche Gerichtsverhandlung, ohne Ermittlungsverfahren.

Ein weiterer wichtiger Moment, ist, dass in der RSFSR der «politische» Paragraf der Paragraf 58 war. Und in der Ukraine war es der Paragraf 54, in Belarus gleich mehrere unter völlig anderen Nummern — und so verhielt es sich in jeder der 15 Republiken.

Als wir die einheitliche Datenbank über die Repressierten erstellten und alle darin zusammenführten, zogen wir Geschichtswissenschaftler heran, und das war keine leichte Aufgabe. Ich bin nicht überzeugt davon, dass es bei den Archivmitarbeitern ein ähnliches rechtliches Layout zu den Gesetzen der Unionsrepubliken gibt.


KrasLag. Foto: «Memorial»

Aber wenn es wahrscheinlich ist, dass zusammen mit den Dokumenten der Kriminellen auch die Akten der «Politischen» vernichtet werden sollen, wozu werden sie dann überhaupt vernichtet?
Es ist wichtig, dass die Informationen bleiben, unwichtig, in welcher Form, aber auf elektronische Weise ist es einfacher und weniger aufwendig sie zu erhalten. Diese Karten sind aus sehr festem Karton, aber auch sie fransen aus und verbiegen sich. Sie können aufweichen, wie es beispielsweise in den siebziger Jahren mit der NorilLag-Kartothek geschah, als sich bei der Behörde für innere Angelegenheiten ein kommunaler Unfall ereignete, bei dem ein Teil des Archivs unter Wasser stand und die Tinte verschwamm. Genauso gut könnten sie auch bei einem Feuer verbrennen.

Alles in Papierform aufbewahren ist schon aus Prinzip nicht möglich, die Daten sind zu umfangreich. Ich denke, dass dies nur einer der Gründe ist, weshalb sie all das arrangiert haben. Die Archivaufbewahrungsräume, sowohl die behördlichen wie die staatlichen, müssen ständig erweitert werden. Als zum ersten Mal die Frage der Übertragung der bei den Behörden eingelagerten Dokumente über die Repressionsopfer (Archiv-Ermittlungs-Akten, Personenakten der Gefangenen usw.) an die staatlichen Archive aufkam, betraf eines der allerersten Dekrete Jelzins nach 1991 — die Forderung nach mehr Platz.

Angaben zu den Repressionsopfern können sich an drei Stellen befinden – dem Staatlichen Archiv der Region Krasnojarsk, dem FSB und der GUWD? Wenn sie dort nicht vorliegen, heißt es dann, dass sie nicht mehr aufbewahrt werden?

Ja, aber man muss berücksichtigen, dass es die Region Krasnojarsk bis 1934 nicht gab, doch es gab Verhaftungen. Heute entdecken wir zum Beispiel einen Teil der Akten, die die östliche Gruppe der Bezirke betreffen — in Irkutsk, die westlichen – in Nowosibirsk, die südlichen — in Chakassien. Wenn man sie also in Krasnojarsk nicht finden kann, macht es Sinn, es dort zu versuchen.

Was für Informationen enthalten diese Karten?

Zu einer Person, die im Lager inhaftiert war, wurde eine Personen-Akte angelegt – ein Ordner, in den Berichte, Beschwerden, Abschriften aus Befehlen und derartiges mehr abgeheftet wurden. Gleichzeitig wurde eine Registrierkarte ausgefüllt, in der die wichtigsten Informationen eingetragen waren. карточка, где коротко сообщались основные сведения. По ним теперь ищутся личные дела заключенных в архивах. Карточки бывают трех типов. Учетная карточка ФСБ на арестованного, учетная карточка ссыльного и заключенного — они по содержанию немного разные. Но в том или ином виде там три важные вещи. Установочные данные: фамилия, имя, отчество, дата рождения, место рождения, место проживания, профессия или должность. Кем и когда осужден и статья. На обратной стороне указано: когда прибыл, каким этапом и перемещение по лаготделениям.




Registrierkarte von Jekaterina Maksimowa — der Ehefrau des bekanntesten Spions während
des Großen Vaterländischen Krieges Richard Sorge. Verhaftet wurde sie am 4. September 1942
wegen des Verdachts der Spionage; man siedelte sie in die Region Krasnojarsk aus.

Ihre Akte wird seitdem mit dem Vermerk «geheim» verwahrt — bekannt ist lediglich, dass sie im Krankenhaus in Bolschaja Murta an einer Vergiftung starb.

Könnte es sein, dass Akten auch mit einem böswilligen Hintergedanken vernichtet werden, um Fakten der Repressalien zu verbergen?

Ich denke, dass dies kaum der Fall sein wird. Als man 1959 sämtliche Registrierungsdokumente über verbannte, enteignete Personen vernichtete – da war man ganz einfach der Ansicht, dass niemand sie mehr brauchen würde, denn zu dem Zeitpunkt waren es ja bereits 12 Jahre her, dass man die Menschen entlassen hatte. Als Ende der 1980er Jahre die Archiv-Ermittlungsakten der Personen, die inzwischen rehabilitiert worden waren, in die Vernichtung gingen, war man ebenfalls der Meinung, dass niemand sie mehr brauchen würde.

Erst als 1992 der Massen-Prozess der Rehabilitationen einsetzte, wurde klar, dass es ohne die entsprechenden Schriftstücke unmöglich war zu beweisen, ob jemand tatsächlich verbannt oder inhaftiert gewesen war. Ich denke, dass hier keine kriminellen Absichten zugrunde liegen, sondern grobe Schlampigkeit und Fahrlässigkeit.

Es heißt, dass diejenigen, die an den Verfolgungen der Jahre 1937-1938 beteiligt gewesen waren und in den 1950er Jahren noch im Arbeitsprozess standen, Dokumente vernichtet hätten, die man für Aussagen gegen sie hätte verwenden können. Das ist ein arglistiger Vorsatz.

In unserer Zeit muss man alles ratzekahl vernichten, um etwas zu verbergen. Stellen Sie sich vor, was man in dem Fall für einen Arbeitsaufwand in Gang setzen muss. Wenngleich auch heute, wenn die Akten an Forscher und Verwandte herausgegeben werden, die Vor- und Nachnamen «dritter Personen», unter anderem der Untersuchungsrichter, verdeckt sind.

Im «Memorial»-Archiv ist ebenfalls eine große Anzahl Dokumente und Personenakten zu den Verfolgten gesammelt worden. Wie sind sie geschützt?

Derzeit befinden sich bei uns etwa 500 Akten in elektronischer Form und über 4000 in Form von Papier. Das Papier-Archiv wird nach und nach digitalisiert und geht dann ins elektronische Archiv. In den nächsten zehn Jahren werden wir komplett in den virtuellen Raum übergegangen sein.
In unserer elektronischen Datenbase befinden sich mehr als 200000 Personen. Geführt wird es seit 30 Jahren, seit wir existieren, von Swetlana Sirotinina. In den 1990er Jahren, als es weder USB-Speichersticks noch Cloud-Speicher gab, sicherte sie jeden Abend diese Datenbase auf Disketten – dafür benötigte sie jedes Mal eineinhalb Stunden und etwa 20 Disketten.

Jetzt ist alles, was das Speichern betrifft, viel einfacher. Das Archiv befindet sich in der Cloud und wird an mehreren geographischen Orten synchronisiert. Es gibt eine mehrfache Datensicherung, jeden Monat findet eine vollständige Sicherung statt, einmal im Jahr wird das gesamte Archiv auf Blue-Ray übertragen.

Was macht jemand, der Informationen über einen Angehörigen sucht, an wen muss er sich hauptsächlich wenden?

Die internationale «Memorial»-Organisation hat eine sehr zweckmässige Quelle ermöglicht — ein Leitfaden für alle, die ihre Rechte auf Zugang zu dokumentarischen Zeugnissen über die politischen Repressionen, die in der UdSSR stattfanden, wahrnehmen möchten. Dort findet man buchstäblich Schritt-für-Schritt-Anleitungen, wie wir sie auch benutzen. Er trägt die symbolische Bezeichnung «Jedermanns Personenakte» — dostup.memo.ru. Eine bessere und verständlichere Quelle gibt es nicht.

Swetlana Chustik

„Prospekt Mira, 30. Oktober 2018


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