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Ehemaliger Vorsteher des Irbejsker Bezirks hat ein Buch über deutsche Umsiedler und die Kolchose "Iljitschs Vermächtnis" herausgebracht


Foto von Anton Romanowitsch Boos

Anton Romanowitsch Boos schrieb, nachdem er von seinem letzten Amt als Leiter des Bezirks Irbej in den Ruhestand gegangen war, ein Buch mit dem Titel "Es darf nicht dem Vergessenwerden anheimfallen".

Der Nachname Boos ist deutsch. Daher habe ich ehrlich gesagt erwartet, dass das Hauptthema der Geschichte die Zwangsumsiedlung der Wolgadeutschen im Jahr 1941 nach Sibirien und Kasachstan und der Groll, den sie seit langem gegen die sowjetische Regierung und Josef Stalin persönlich hegten, sein würde.

Aber ich habe mich geirrt. Wenngleich der Autor dem tragischen Abschnitt im Leben seiner Landsleute und Vorfahren viele Seiten widmet, liegt der Schwerpunkt auf der Geschichte seiner Familie und der Arbeiter der Kolchose "Iljitschs Vermächtnis". Das Buch handelt vom konstruktiven Leben der deutschen Einwanderer in Sibirien, auf den Bauernhöfen der Bezirke Irbej und Rybinsk.

Dabei erzählt die Geschichte auch sehr viel über die Kolchosbauern anderer Nationalitäten: Russen, Ukrainer, Balten, aber wer kann sie alle aufzählen?

Es ist einfach erstaunlich, wie viel Kraft, Zeit und Ausdauer es Anton Romanowitsch gekostet hat, die notwendigen Informationen in den Archiven zu finden und so gewissenhaft über die Geschichte nicht nur der Familie Boos, sondern auch anderer Umsiedler aus der Wolga-Region zu berichten.

Natürlich wissen viele Menschen, woher die Deutschen in unserem Land kamen. Im Jahr 1762, während der Herrschaft Katharinas der Großen, wurde ein Manifest veröffentlicht, in dem Ausländer aufgefordert wurden, sich dauerhaft in Russland niederzulassen. Es wurden verschiedene Gefälligkeiten versprochen, aber in der ersten Zeit kamen nicht viele Leute.

Die Zarin musste ein Jahr später ein zweites Manifest mit noch größeren Vorteilen veröffentlichen. Dies zeigte Wirkung. Fünf Jahre später lebten bereits rund 30.000 Deutsche in Russland. Sie ließen sich in der Nähe von St. Petersburg und Tschernigow nieder, vor allem aber in den Provinzen Saratow und Samara.

Bis 1914 war die Zahl der Russen mit deutschen Wurzeln auf 650.000 gestiegen, und sie besaßen 2 Mio. 200.000 Dessjatinen an Land.

Nach der Revolution ging die neue Regierung sogar noch weiter als das zaristische Regime. Durch ein Dekret des Rates der Volkskommissare, das Wladimir Lenin und Wladimir Bontsch-Brujewitsch, der Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, unterzeichneten, wurde am 14. Oktober 1918 die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen mit dem Zentrum in der Stadt Engels gegründet.

Interessant ist, dass damals nicht nur Deutsche, sondern auch Franzosen, Niederländer und andere Nationalitäten dort lebten. Laut Anton Boos wurde das Territorium der Republik häufig von schrecklichen Dürreperioden heimgesucht, so dass es oft zu Hungersnöten kam, aber das Leben wurde allmählich besser.

Doch das Glück war nur von kurzer Dauer. Im zweiten Monat des Großen Vaterländischen Krieges, am 28. August 1941, wurde die Wolgadeutsche Republik aufgelöst und ihre Bewohner als nicht vertrauenswürdiges Volk deportiert.

Anton Romanowitsch erzählt die Geschichte seiner Großmutter Maria Georgiewna Boos, wie ihre große Familie aus dem Dorf Obermonjou im Gebiet Saratow vertrieben wurde. Sie hatten vierundzwanzig Stunden Zeit zum Packen, dann wurden alle auf einen Kahn verladen und die Wolga flussabwärts fortgebracht.

Anschließend waren sie fast einen ganzen Monat in Güterwagen unterwegs, bis sie endlich in Kansk eintrafen, wo es einen Transitpunkt gab. Einige wurden in den Tassejewsker Bezirk geschickt, andere in den Nischneingaschsker, und die Familie Boos kam in das Dorf Tschuchlomino im Bezirk Irbej.

Während des Winters waren alle sehr hungrig. Ohne die Hilfe der Einheimischen, die manchmal ihr letztes Stück Brot mit ihnen teilten, hätten sie eine sehr schwere Zeit gehabt. In der Familie spricht man noch heute gern von der Familie Ponamarjow, die Milch spendete und im Frühjahr bei der Aussaat von Kartoffeln und Gemüse half.

Als das Frühjahr 1942 anbrach, waren die Umsiedler überwältigt von der Schönheit der sibirischen Natur. Schließlich gab es so etwas in der Wolgaregion nicht. Und die Hauptsache - mit dem Aufkommen der Wärme erschien zusätzliche Nahrung in Form von Türkenbundlilien, Sauerampfer, Bärlauch und anderen Gaben der Natur.

Zu diesem Zeitpunkt war die Familie jedoch ohne ihren Haupternährer Romelus Boos, der in der Kolchose als Roman registriert war, auf sich allein gestellt. Er wurde zur Arbeitsarmee eingezogen, und zwar ins "Kraslag", das sich in Reschoty, Bezirk Nishneingaschsk, befand.

Im Sommer hielt es seine Frau nicht mehr aus und ging mit einer Freundin zu Fuß los, um nach ihrem Mann zu sehen. Ohne den zufällig vorbeifahrenden Wegbegleiter, der sie auf dem Karren mitnahm, hätten die Frauen wohl kaum eine so lange Reise hinter sich gebracht. Und Maria sah ihren Roman. Bis zur Erschöpfung gequält, aber am Leben. Während des zweistündigen Besuchs reichte sie ihm einen Sack mit Lebensmitteln und machte sich mit ihrer Freundin auf den Rückweg.

Erst an einem frostigen Abend im Jahr 1946 trafen sich Mann und Frau wieder. Roman, der nur noch fünfzig Kilogramm wog, hatte kaum seinen Fuß auf die Türschwelle gesetzt, als er auch schon, erschöpft von der langen Reise, zusammenbrach.

Interessanterweise wurde der fleißige Deutsche bald zum Brigadier ernannt, und 1954, als man zwei Kolchosen zu einer einzigen zusammenlegte, wurde Roman Romanowitsch Mitglied der Betriebsleitung.

In meiner Schilderung ist die Geschichte der Umsiedler - der Wolgadeutschen - so lang, aber im Buch nimmt sie nur sehr wenig Platz ein. Die Haupterzählung handelt vom Leben und der Arbeit der Menschen, die in der Kolchose "Iljitschs Vermächtnis" zu Zwangsarbeitern wurden, und stellt die Familien ausführlich vor.

"Die Deutschen und Einheimischen haben unter der Führung des Vorsitzenden und Frontkämpfers Maxim Burmakin nach Stachanow-Manier gearbeitet und damit zur Verteidigungsfähigkeit des Landes beigetragen. "

Nach der Lektüre des Buches kam ich zu dem Schluss, dass die Wolgadeutschen keinen Groll hegten, schon gar nicht gegen die Sowjetmacht. Wenn es einen gab, behielten sie ihn für sich, aber jeder arbeitete in der Kolchose für drei, das können wir mit Sicherheit sagen.

Und was die Sowjetmacht betrifft, so gibt Anton Romanowitsch ein sehr typisches Beispiel für die Loyalität der Einwanderer ihr gegenüber, indem er von seiner Großmutter Maria Georgiewna erzählt.

Als die alte Frau das Porträt von Lenin an der Wand des Büros der Kolchose sah, war sie unsagbar überrascht: Es stellt sich heraus, dass man sogar in Sibirien diesen angesehenen Mann kennt.

Und wenig später wurde sie von einem vorbeifahrenden Auto auf die Straße gerufen:

- "Oma, kannst du mir sagen, ob das die Kolchose 'Lenins Weg' ist?"

- Ja, ja, es ist tatsächlich Leningrad, - antwortete sie in perfektem Deutsch und ging stolz weiter.

- Das Echo hat uns weit mit sich fortgeweht! - lächelte der Mann am Lenkrad.

Doch die Umsiedler hatten tatsächlich keinen Grund, gekränkt zu sein. Während des Krieges internierten die USA beispielsweise Hunderttausende ihrer Einwohner japanischer Nationalität auf dieselbe Weise. Es gibt auch weitere Beispiele für die Grausamkeit der Behörden gegenüber einem bestimmten Teil der Bevölkerung.

Was die Arbeitsarmeen anbelangt, so kehrten trotz allem viele der Betroffenen lebend nach Hause zurück, aber diejenigen, die an der Front gekämpft hatten, blieben oft für immer in der feuchten Erde zurück.

Aber selbst das ist meiner Meinung nach nicht das Wichtigste. Die sowjetischen Behörden gaben den Kindern und Enkeln der Migranten die Chance auf eine gute Arbeit und oft auch auf eine gute Ausbildung. Die Eltern von Anton Boos zum Beispiel hatten sechs Kinder in ihrer Familie, die alle ihren Platz im Leben gefunden haben.

Der Autor des Buches, den ich recht gut kenne, da er am Krasnojarsker Landwirtschaftsinstitut studiert hat, hat sich vom Chefingenieur der "Landwirtschaftstechnik" und Leiter der Irbejsker Landwirtschaftsabteilung zum Leiter dieses Bezirks hochgearbeitet.

Zweifellos zeichnen sich die Sibirer deutscher Nationalität durch besonderen Fleiß aus, aber es ist auch eine unbestreitbare Tatsache, dass die Behörden ihnen reichlich Gelegenheit zu hervorragenden Leistungen gegeben haben.

Wie ich bereits sagte, ist das Buch von Anton Boos nicht nur eine Schilderung des schweren Schicksals der Einwanderer aus der Wolgaregion. Der Autor sprach ausführlich über die vielen Familien, die in der Kolchose "Iljitschs Vermächtnis" gearbeitet haben, über ihre Kinder und Enkelkinder.

Nach ihren Nachnamen zu urteilen - Schneider, Waljuschkin, Ponamarew, Lukjanow, Bruhl, Malitzki, Sidorenko, Stoll, Simonow, Bosserdt, Martynenko und so weiter - war dies eine freundschaftlich verbundene Familie, die auf den Feldern und auf dem Hof arbeitete, wie man sagt, nicht aus Angst, sondern aus Gewissensgründen.

Es war die Arbeit, die die verschiedenen Nationalitäten zu einer einzigen verschmolz - den Sibiriern. Nicht zufällig entschieden sich nur wenige deutsche Familien im Kreis Irbej, ihre zweite Heimat für immer zu verlassen, als sich die Möglichkeit ergab, in ihre historische Heimat in Deutschland zu ziehen.

Boos' Buch "Es darf nicht dem Vergessenwerden anheimfallen" enthält so viel Material, dass dem Autor großer Respekt gebührt. Anton macht im Übrigen keinen Hehl daraus, dass seine Enkelin Ljudmila die Haupthelferin bei der Entstehung des Buches ist, ohne deren Mitwirkung das 414 Seiten starke Werk kaum hätte entstehen können.

Victor RESCHETEN.
Bezirk Irbej.

"Krasnojarsker Arbeiter", 16.02.2019


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