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Die Deutschen

Die Geschichte der deutschen Kolonisation Sibiriens umfasst einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren. Deutsche befanden sich unter den ersten Umsiedlern nach Sibirien, zusammen mit Russen waren sie aktiv an der Besiedlung der Sibirischen Region beteiligt. Die ersten Beschreibungen der Region Sibirien sind den deutschen Wissenschaftlern und Forschungsreisenden Daniel Messerschmidt, Friedrich Müller, Simon Pallas und anderen zuzuordnen. Es gab zahlreiche Deutsche unter den sibirischen Beamten und Offizieren, Geistlichen und Lehrkräften, Architekten und Musikern, Kaufleuten und Handwerkern. Nach den Ereignissen des Jahres 1825 gerieten viele Dekabristen deutscher Herkunft nach Sibirien. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts tauchten im Jenisseisker Gouvernement auch die ersten deutschen Bauern-Siedler auf. Umsiedler aus der Zeit der Stolypin-Reform, Flüchtlinge und Kriegsgefangene des Ersten Weltkriegs ließen die Zahl der Deutschen im Jenisseisker Gouvernement zum Jahr 1920 auf beinahe 5000 anwachsen.

Die anschließende Periode in der Geschichte der Deutschen in der Region entfiel auf die Deportation während des Großen Vaterländischen Krieges. In dem traurig-berühmten Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 «Über die in den Wolga-Rayons lebenden Deutschen», hielt man es für unabdingbar, die gesamte in m Wolgagebiet lebende deutsche Bevölkerung in andere Bezirke umzusiedeln. Die neu eingetroffenen Umsiedler wurden in der Region Krasnojarsk auf die verschiedenen Bezirke verteilt. Alle arbeitsfähigen Erwachsenen sollten auf jeden Fall Arbeitsplätze erhalten, die Kinder – zur Schule gehen. Nur ihr Fleiß und die Liebe zum Leben retteten die Wolgadeutschen in jenen Jahren. In ihrer überwiegenden Mehrheit handelte es sich bei ihnen um Dorfbewohner, die mit bäuerlicher Arbeit vertraut waren – Traktorfahrer, Pferdezüchter, Schlosser, Schmiede.

Am 10. Januar 1942 traf das Staatliche Komitee der Verteidigung (GKO) die Anordnung «Über den Arbeitseinsatz der deutschen Umsiedler im Alter von 17 bis 50 Jahren». Man begann mit der Mobilisierung der Männer im arbeitsfähigen Alter in Arbeitsarmeen. Zusammen mit den Sonderumsiedlern holte man auch die ortsansässigen Deutschen in die Arbeitsarmee. Unter maximaler Belastung, unter Bedingungen, die praktisch der Zwangsarbeit gleichkamen, überlebten die Deutschen und arbeiteten im Akkord. Der Leiter der NKWD-Behörde der Region Krasnojarsk, I.P. Semjonow, schrieb in einer Berichtsnotiz an die Abteilung für Sonderumsiedlungen des NKWD im Februar 1946: «Viele der Sondersiedler erfüllen und übererfüllen die Normen, sie leisten gute Arbeit».

Im Bolschemurtinsker Bezirk trafen vorwiegend Deutsche aus dem Gebiet Saratow und den Wolga-Bezirken Gmelin, Seelmann und Engels ein – mit 2611 Personen mehr, als in den anderen Rayons der Region. Die Repressierten wurden mit Pferden oder Lastkähnen in die einzelnen Dörfer gebracht. Von Wolgadeutschen besiedelt wurden hauptsächlich Bolschaja Murta, Prediwinsk, Juksejewo, Michailowka, Krutinka. Sie wurden in Behausungen untergebracht, die für ein Familienleben ungeeignet waren – in Pferdeställen, Kellerräumen, und falls sie in Häuser kamen, dann stets in großer Zahl: jeweils mehrere Familien. Das eingetroffene Sonderkontingent bedeutete eine große Unterstützung für die Leiter der Kolchosen: Mähdrescherfahrer, Maschinenschlosser, Traktorfahrer aus den Reihen der Wolgadeutschen ersetzten die zur Front einberufenen ortsansässigen Männer. Im Herbst 1941 machten die Deutschen in einigen Kolchosen des Bolschemurtinsker Bezirks bis zu 50 % der verfügbaren Arbeitskräfte aus. Im Rechenschaftsbericht des Bezirkskomitees wurden sie als gewissenhafte Arbeiter vermerkt. Etwas besser war die Lage bei einigen deutschen Lehrern und Ärzten, die sich im Herbst 1941 Arbeit entsprechend ihrer Berufsausbildung suchen durften. Nach Mitteilung der Abteilung für Volksbildung des Bolschemurtinsker Bezirks wurden deutsche Lehrkräfte an den örtlichen Schulen eingestellt, was besonders wichtig war, weil viele deutsche Kinder kein Russisch konnten. Bei der Rekrutierung deutscher Lehrer und Ärzte handelte es sich um eine Zwangsmaßnahme, denn es fehlte an entsprechendem Personal. Sie befanden sich unter besonderer Kontrolle seitens der örtlichen Behörden und erregten bei jeder beliebigen Gelegenheit Verdacht.

Berufszweige der eingetroffenen wolgadeutschen Sonderumsiedler (punktuell)

Bezeichnung des Bezirks Fahrer Traktoristen Schlosser Zimmerer Buchhalter Ärzte Lehrer
B.-Murtinskij 15 48 5 7 24 -- 22

Plan zur Finanzierung der Ausgaben für die Ankunft der Umsiedler 1941

Bezeichnung des Bezirks Anzahl der Personen Beförderung Verpflegung Wohnungen Post, Telegraphenamt Gesamtsumme der Ausgaben
1 2 3 4 5 6 7
B.-Murtinskij 2000 -- 11400 2850 1140 116950

An die gegenseitigen Beziehungen mit den Ortsbewohnern erinnern sich die Verfolgten ganz unterschiedlich. Doch es ist offensichtlich, dass sie sich nicht einfach gestalteten. Einige Einwohner halfen den bedürftigen Umsiedlern und fütterten sie mit durch, manche nannten sie Faschisten, bespuckten und schlugen sie. Außerdem wurde die Annäherung zwischen Ortsansässigen und Verbannten durch die Sprachbarriere behindert, denn die meisten Deutschen konnten kein Russisch. In den ersten Jahren nahm die verbannte deutsche Bevölkerung den Status einer bettelarmen Randgruppe und ungelernter Arbeiter ein.

Aus den Erinnerungen verfolgter Deutscher

Erika Jakowlewna Rau. «Sie haben uns aus unserem Heimatdorf in das uns unbekannte Dorf Chmelowo gebracht. Wir fuhren mit einer Fähre, sie haben uns wie eine Herde Schafe abgeladen. Wir hausten in einer kleinen Holz-Hütte. Nach ein paar Monaten fand unsere Mama Arbeit beim Industriekombinat. Sofort bekamen wir ein kleines Zimmer in einem großen Gemeinschaftshaus, und weil wir drei Kinder waren, hatten wir es sehr schwer, denn die Mama arbeitete allein – der Vater kehrte aus dem Krieg nicht mehr zurück… Die Leute verhielten sich uns gegenüber so, wie es sich für Menschen gehört, die verstehen, dass hier ein großes Leid geschehen ist. Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis zu den Russen; unter ihnen fand ich sogar meine erste Liebe».

Luisa Kenrikowna (Henrichowna?) Warkentin. «Aus dem Dorf Friedenhain im Gebiet Saratow brachten sie uns nach Krasnojarsk, von dort mit einem Lastkahn auf dem Jenissei nach Juksejewo, und dann verteilten sie uns mit Pferden weiter in die einzelnen Dörfer. Ich kam in das Dorf Michailowka. Sie gaben uns weder ein Haus, noch Arbeit; wir wanderten wie die Nomaden herum. Ich denke bis heute mit großer Dankbarkeit an die russischen Menschen, die mir beim Überleben halfen, die Mitleid mit mir hatten, denn ich trug doch auf meinen Armen meine fünf Monate alte Tochter».

Galina Aleksandrowna Narutto. «Es war ein sehr schweres Leben, wie viele Beleidigungen und Demütigungen seitens der Ortsbewohner wir ertragen mussten! Die Kinder durften nicht auf die Straße gehen, weil sogleich Ziegel und Steine in die Einzäunung flogen; sie wurden als Faschisten beschimpft, aber was für Faschisten sollten das denn sein – sie waren doch noch ganz kleine Kinder…»

Rosa Jegorowna Werner. «Sie setzten uns in den Zug und transportierten uns nach Sibirien in das Dorf Prediwinsk. Dort gaben sie uns eine Wohnung und Arbeit. Und wir lebten so, wie wir es in der Heimat auch getan hatten, auch wenn es furchtbar schwer war; aber später gewöhnten wir uns daran. Es war nur sehr schlecht, dass wir nicht zur Schule gehen konnten (wir besaßen nichts zum Anziehen), und jemand musste ja auch auf die Kinder aufpassen, währen die Mutter arbeitete. Ich konnte noch nicht einmal mit den anderen Kindern spielen, es war schwer für mich, mit anhören zu müssen, wie sie uns ärgerten: «Faschistin, Faschistin». Ich versuche, an diese Zeit nicht zurückzudenken. Sie ist in meiner Erinnerung ein schwarzer Fleck geblieben…»

Und erst am 28. Februar 1956, auf Grundlage des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 15.12.1955 wurden alle Deutschen aus der Zwangsansiedlung freigelassen. Die Mehrheit von ihnen blieb in Sibirien, weil sie sich inzwischen dort eingelebt hatten. Nachdem die Umsiedler endlich anerkannt worden waren und man sie respektierte, stieg in den 1960er Jahren das Lebensniveau, als die Menschen für ihre Arbeit endlich einen Lohn bekamen, man ihnen Prämien auszahlte, Fotos von Deutschen an die Ehrentafel hing, die sich als Bestarbeiter der Produktion bewiesen hatten, und ihnen wertvolle Geschenke machte. 1972 waren 15 % aller mit Orden und Medaillen ausgezeichneten Personen in der Region deutscher Nationalität.

Nach dem Zerfall der UdSSR setzte im Land eine Ausreisewelle ein. In den 1990er Jahren waren 80-85 % aller Emigranten der Region Krasnojarsk Deutsche. Ihre Zahl sank auch im Bolschemurtinsker Bezirk ganz erheblich.

Die Repressionspolitik des sowjetischen Staates zog einen großen Verlust der nationalen Kultur der Russland-Deutschen nach sich. Es war verboten, die Muttersprache zu benutzen, die Nationalfeiertage zu feiern, und von irgendwelchen religiösen Vereinigungen konnte schon überhaupt keine Rede sein. All diese Probleme förderten den Verlust eines wichtigen Bestandteils jedes beliebigen Volkes – der nationalen Kultur. Faktisch kennt die junge Generation der Deutschen die nationalen Traditionen und Bräuche nicht, und ist auch der deutschen Sprache nicht mächtig. Verloren ging die Kontinuität in den Generationen; Großmütter und Großväter konnten ihre Muttersprache, ihre Kultur nicht an die Kinder und Enkelkinder weitergeben.

Die Deutschen lebten und leben aufrichtig innerhalb der russischen Bevölkerung, gründeten und gründen internationale Familien. Dank ihrer Adhärenz zu Ordnung, Gesetzestreue, Sparsamkeit, Pünktlichkeit und Pedantismus haben die Deutschen die Achtung seitens ihrer Landsleute erreicht.

S.A. Mamatowa
(aus dem Archiv des Heimatkunde-Museums)

Neue Zeit 20.07.2019


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