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«Sie bezeichnen die Verbrechen als Fehler»: großes Interview mit dem Leiter des krasnojarsker «Memorial» über die Repressionen

Am Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen sprechen wir darüber, was in den Jahren der stalinistischen Regierung in Krasnojarsk geschah


Aleksej Babij sammelt seit mehr als 30 Jahren Informationen über die Opfer der politischen
 Repressionen auf dem Territorium der Region Krasnojarsk
Foto: Aleksej Babij

30.Oktober — Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen. Bereits seit mehr als 30 Jahren sammelt die Gesellschaft «Memorial» Erinnerung an diejenigen, die zu Opfern dieser Repressionen auf dem Territorium des gesamten postsowjetischen Raums wurden, es versammelt die Allgemeinheit— sie halten aufklärende Lektionen, veranstalten Ausstellungen, rekonstruieren die Namen derer, denen man sie einst genommen hat, indem man sie gegen seelenlose Ordnungsnummern austauschte, die auf die Lager-Steppjacken genäht wurden.

Zum Gedenktag nahm wir ein großes Interview mit dem Leiter des krasnojarsker «Memorial» Aleksej Babij auf. Im Folgenden Material zu den schrecklichsten Zahlen, Fakten und Orten.

— Welchen Platz nahm die Region Krasnojarsk in der Geschichte der Repressionen ein?

— Wir werden über das Territorium der Region Krasnojarsk sprechen, weil es die Region als solche vor 1934 nicht gab. Wir haben alle möglichen Arten von Unterdrückung festgestellt, die sich in der UdSSR ereigneten: nach dem Bürgerkrieg gab es sowohl den Entzug der Wahlrechte als auch die Entkulakisierung (Enteignung der Großbauern; Anm. d. Übers.), die man heute zu Recht als «Entbäuerung» bezeichnet, den Großen Terror, die Deportation der Deutschen sowie ganze Ströme verbannter Balten, Griechen und Kalmücken, die auf diese Weise hierher gerieten. Im Großen und Ganzen wurden nur Krim-Tataren, Tschetschenen und Inguschen nicht zu uns verbannt, alle anderen schon.


Den Beschluss darüber, wem das Wahlrecht entzogen werden sollte, fasste das Bezirks-Exekutivkomitee
Foto: Aleksej Babij

Die Besonderheit der Region Krasnojarsk besteht darin, dass es hier eine große Anzahl Verbannter gab, sie zählten mehr Menschen, als die politischen Gefangenen in den Lagern, vielmehr als die Zahl der Verhafteten und Erschossenen.

Wichtige Zahlen: in den 20 Jahren der Existenz der Rehabilitationsabteilung der Staatlichen Behörde für innere Angelegenheiten der Region Krasnojarsk wurden 545000 Personen rehabilitiert. Das heißt, es handelt sich lediglich um diejenigen, welche die dazu notwendigen Dokumente fanden und ein Rehabilitationsgesuch stellten, faktisch waren es noch viel mehr.

Es gibt da noch so eine Feinheit, dass nämlich 1959 Dokumente bezüglich der Enteignung von Sondersiedlern vernichtet wurden. Das gibt uns Anlass zu der Vermutung, dass allein die Zahl der Sondersiedler etwa eine Million betrug.

— Gab es in der Region Krasnojarsk politische Gefangene?

— Selbstverständlich. Sowohl im KrasLag als auch im NorilLag und am Bauprojekt-503, und es gab eine Menge kleiner Lager; deswegen wurden überall dort Lager eingerichtet, wo irgendetwas gebaut werden musste. Alles wurde mit den Händen von Häftlingen gebaut.

Ich schätze die Zahl der politischen Gefangenen auf 400000. Diese Zahlen kann ich begründen: im NorilLag gab es etwa 300000 Häftlinge, von denen 40% politische waren, 40% — Kleinkriminelle, weitere 20% — Verbrecher. Das heißt: allein im NorilLag gab es ungefähr 100000 politische Gefangene. Im KrasLag — etwa 80000, in anderen Lagern kamen ungefähr ebenso viele zusammen.


Hinweistafel zum Projekt «Letzte Anschrift» am Haus in der Perenson-Straße 32 — die
 Geschichte der beiden zu Unrecht erschossenen Krasnojarsker haben wir bereits früher erzählt
Foto: «Letzte Anschrift»

— Erzählen Sie von der Geografie der Repressionen in der Region Krasnojarsk. Welche Bezirke sind auf dieser schrecklichen Karte vermerkt?

— Man kann sagen, dass es das gesamte Territorium der Region Krasnojarsk umfasst. Du kannst in jedes beliebige Dorf gehen, dich mit Ortsansässigen unterhalten und von ihnen erfahren, dass es dort Sondersiedler gab, und viele der heute noch dort lebenden Menschen — sind deren Nachfahren. Besonders viele verbannte Deutsche sind noch verblieben, weil sie selbst nach ihrer Freilassung aus dem Sondersiedler-Status nicht in ihre Heimatorte zurückkehren durften. Die Balten verließen aber zum größten Teil die Verbannungsorte.


Bau der Eisenhütte in Norilsk
Foto: Krasnojarsk — Berlin. 1941–1945, 2009

Die mächtigsten und bekanntesten Punkte — das NorilLag, das über Abteilungen in Atamanowo und im Schuschensker Bezirk verfügte, das große KrasLag, welches den gesamten Osten der Region Krasnojarsk einnahm. Die Leitung des KrasLag befand sich anfangs in Kansk, später wurde sie nach Reschoty verleg (genauer gesagt, nach Nischnaja Paima). Im Wesentlichen befasste sich das KrasLag mit Forstwirtschaft, aber nicht nur: gebaut wurde beispielsweise auch die Straße von Reschoty nach Karabula. Außenlager gab es in den Kansker, Sajansker, Ilansker und Nischneingaschsker Bezirken. Es war ein großes Lager: von 1938 bis 1956 verbüßten dort etwa 160000 Häftlinge und 20000 Angehörige der Arbeitsarmee ihre Haftstrafen.

Es gab das berühmte Bauprojekt 503, wo die Bahnlinie von Salechard nach Igarka verlegt wurde; die Verwaltung befand sich in Jermakowo, unweit Igarka, und es gab alle 12 Kilometer ein Lager. Menschen gab es dort genug, doch die Bahnlinie wurde, wie bekannt, nicht zu Ende gebaut.


Foto vom Bauprojekt 503 in Jermakowo — heute verlassen
Foto: Aleksej Wengin

Zahlreiche Lager gab es im Süden der Region Krasnojarsk, einschließlich Chakassien, dort befanden sich Bergwerke. Man muss auch an den Bau der heutigen Städte Schelesnogorsk und Selenogorsk denken, wo ebenfalls hauptsächlich Gefangene arbeiteten, wenngleich es dort keine politischen Häftlinge gab. Der Einsatz von Häftlingen galt als effektiv im Hinblick auf die Wirtschaft, doch es handelte sich dabei um ein fehlerhaftes Urteil. Als Stalin starb, begann man das alles zu schließe, und zwar nicht aus Menschenliebe, nein – sondern vielmehr aus wirtschaftlichen Beweggründen.


Zentrum von Norilsk — Stalin-Prospekt. Rechts sieht man einen Lager-Wachturm
Foto: Memorial.krsk.ru

— Und was ist mit Krasnojarsk selbst?

— In Krasnojarsk wurde in den vierziger Jahren das gesamte rechte Flussufer von Lagerzonen eingenommen, dort baute man Fabriken, unter anderem auch evakuierte Fabriken aus den westlichen Regionen.

Ein interessantes Objekt — die sogenannte Scharaschka (Sonderlager für geheime Forschungs- und Entwicklungsaufgaben; Anm. d. Übers.), sie tauchte auf, als das Uran-Projekt in der Region Krasnojarsk entwickelt wurde; man hatte auf dem Territorium des Bezirks Uran gesucht, und in dieser Scharaschka wurden zahlreiche Geologen und Chemiker untergebracht. Man holte sie aus allen Lagern zusammen, verhaftete etliche von ihnen – dort saßen berühmte Wissenschaftler und Gelehrte. Die Stelle liegt — etwa in Höhe des Zentralen Isoliergefängnisses in der Majertschak-Straße, ein rechteckiges rotes Haus, das mit der Ecke au f den Platz der Republik mündet. Und das gesamte Territorium bis zur Lida Pruschinskaja-Straße war Lagerzone.

Unter solchen Orten in Krasnojarsk befindet sich auch ein Militärstädtchen in der Malinowskij-Straße. Dort gab es ein Konzentrationslager, in dem während des ersten Weltkrieges Kriegsgefangene der österreichisch-ungarischen Armee festgehalten wurden und später — gefangen genommene Koltschak-Anhänger und Leute, die von der Sowjetmacht für nicht loyal gehalten wurden.


Wo sich seinerzeit das Konzentrationslager für Kriegsgefangene befand, steht heute das Militärstädtchen
Foto: Artjom Lenz / NGS24.RU

— Erzählen Sie von der Zeit des Großen Terrors in der Region Krasnojarsk. Was geschah hier in den Jahren 1937–1938?

— In dieser Zeit wurden 24000 Menschen verhaftet, von den 16000 erschossen wurden, und wenn man berücksichtigt, dass insgesamt in allen Jahren ungefähr 18000 den Tod durch Erschießung fanden, dann ist offensichtlich, dass der Großteil der Hinrichtungen in diesen beiden Jahren stattfand, genauer gesagt, in etwas mehr als einem Jahr — von August 1937 bis November 1938.

Besonders tat sich der operative Sektor in Minussinsk hervor. Dort gingen grauenhafte Dinge vor sich. Es gab Folterungen mit elektrischem Strom, und Leiter Aleksejew ordnete an, die Verwundeten im Verlauf ihrer Hinrichtung mit einer Brechstange zu erledigen, um nicht unnötig Patronen zu verschwenden.

Dort gingen grauenhafte Dinge vor sich. Später brachte man diesen Aleksejew wegen Amtsmissbrauch und antisowjetischer Aktivitäten hinter Gitter, aber nach ein paar Jahren kam er bereits wieder frei und wurde sogar rehabilitiert. Aber ins Buch zum Gedenken an die Opfer der Repressionen wurde er selbstverständlich nicht aufgenommen.


Gebäude des Minussinsker operativen Sektors
Foto: Foto-memorial.org

Auskunft
Nach Angaben der «Memorial»-Organisation, wurde Ende 1959 beim Bau des Krasnojarsker Aluminium-Werks etwa 100 Meter von der heutigen Kantine entfernt ein Massengrab von Erschossenen gefunden. Die Toten wurden unter einer dünnen Erdschicht entdeckt — 20–30 cm. Später wurden beim Bau weitere Begräbnisstellen gesichtet, an der gleichen Stelle, als der Bagger auf die Grabstelle stieß und sie in der Baugrube freilegte. Leichen wurden auch beim Ausheben der Baugrube für das Technikum entdeckt. Die alten Einwohner von Korkino berichteten, dass 1937–1938 beinahe jede Nacht Schüsse und Schreie zu hören waren.

— Auf Ihrer Web-Seite gibt es Informationen über das Massengrab Erschossener im Bezirk des Krasnojarsker Aluminium-Werks. Erzählen Sie, worin die Schwierigkeit besteht, auf irgendeine Art und Weise diesen Ort zu verewigen und eine Gedenktafel aufzustellen.

— Es gibt darüber in Krasnojarsk keine Dokumente, denn, wenn der KGB gewusst hätte, dass die Aluminium-Fabrik auf einem Grab gebaut wird, hätte er den Bau an der Stelle nicht gestattet. Doch auch für den KGB kam das in den sechziger Jahren vollkommen unerwartet. Ich denke, dass sich Dokumente zu diesen Begräbnisplätzen in Moskau befinden.

Die Sache ist die, dass es vor 1937 und nach 1938 nicht so viele Menschen gab, die den Tod durch Erschießung fanden; sie wurden auf den städtischen Friedhöfen bestattet, aber während des Großen Terrors, als täglich 200–300 Personen umgebracht wurden, war klar, dass man nicht alle auf den Friedhöfen bestatten konnte. Man erteilte den Befehl nach größeren Arealen zu suchen, und die fand man am Stadtrand, wo man große Gräben ausheben konnte. So wurde diese Stelle als Massengrab genutzt.

Heute bekräftigen weder der FSB noch die Staatliche Innenbehörde, dass es dort diese Leichen gegeben hat, und wir können dort auf gesetzlichen Grundlagen keine Gedenktafel aufstellen.

— Wie sammeln sie Informationen über Repressionsopfer? Worin besteht die Hauptschwierigkeit dieser akribischen Arbeit?

— Man kann sagen, dass wir beim Sammeln von Informationen das Staubsauger-Prinzip anwenden, weil wir jede Information aufsaugen, aber die eigentliche Grundlage bilden die Archiv-Dokumente. Wir begeben uns auf Studienreisen, halten Interviews, erarbeiten uns Informationen im Internet, schauen die Presse durch — mit einem Wort, alles, was möglich ist. Anschließend überprüfen wir das mit den Angaben aus dem Archiv und, in der Regel, bestätigen sich die Informationen dann. So haben wir beispielsweise Menschen in Uspensk im Rybinsker Bezirk befragt, uns mit Großmütterchen unterhalten; nachdem wir von ihnen Informationen bekommen hatten, wurden diese von den Archiven des FSB bestätigt und Vor- und Nachnamen durch Lebensjahre und Strafparagraphen ergänzt. Das ist eine ungewöhnliche Arbeitsweise, aber wir gehen genau diesen Weg.


Auf der Ausstellung «Platz des Friedens» im Museumszentrum fand eine Frau die Strafeakte ihres Urgroßvaters
Foto: «Platz des Friedens» / Vk.com

Erzählen Sie - welche Geschichte hat Sie am meisten verblüfft?

— Na, zum Beispiel die Geschcihte von Dmitrij Tjurikow. Er lebte in Bessarabien, wo 1945 die sowjetischen Truppen einmarschierten, mit denen Tjurikow ganz frei umging, wobei er sich sehr pro-sowjetisch verhielt. Irgendwie schaute der Hauptmann ihn einmal an und meinte: «Du bist zu wenig sowjetisch, man muss dir gehörigen Verstand beibringen. Und er verpasste ihm 10 Jahre Lagerhaft. Er saß die Zeit ab und sagte dann folgenden Satz: «Dankeschön diesem Hauptmann, dass ich tatsächlich begriffen habe, was es mit der Sowjetmacht auf sich hat. Mein Bruder, der Dummkopf, der nicht verhaftet wurde, glaubt bis heute an diese Sowjetmacht».

Oder die Geschichte eines jungen Mädchens, das Schriftsetzerin bei der Zeitung «Krasnojarsker Eisenbahner» war. Sie irrte sich einmal bei der Auswahl der Buchstaben in einer Rede Stalins, und sie und der Chefredakteur wurden verhaftet. Sie saß zwei Monate in der Zelle, und plötzlich ließ man sie wieder frei. Als ich ihre Geschichte erfuhr, erkannte ich nicht gleich, wie verwunderlich sie war, — das hatte sich 1937 abgespielt, und es gab rigorose Pläne für Verhaftungen und Erschießungen. Das gab es schlichtweg nicht, dass jemand entlassen wurde, aber in ihrem Fall taten sie es. Sie hatte unheimliches Glück.


Am 26. Mai 1953 erhob sich im GorLag in Norilsk ein Aufstand, der bereits vor Stalins Tod herangereift war.
Mit den Gefangenen wurden sogar Verhandlungen durchgeführt, die aber reine Fiktion waren, doch sie blieben bis zum Schluss,
 bis Juli 1953 bei ihrer Meinung. Alles endete mit einem Sturmangriff, bei dem 57 Personen getötet wurden.
Aber diese und andere Aufstände bereiteten eine gute Grundlage für die Dissidenten-Bewegung in der UdSSR
Foto: Archiv der FSB-Behörde / Memorial.krsk.ru

Eine weitere Frau gerieten aus der Ortschaft, in der Stepan Bandera gewohnt hatte, in die Region Krasnojarsk. Sie kannte seine Familie, wobei zwei seiner Schwestern ebenfalls die Verbannung im Suchobusimsker Bezirk verbrachten. Mich verblüffte ihr Bericht über das Sonderlager: dort verloren die Menschen ihre Namen und erhielten dafür Lager-Nummern, die auf die Kleidung genäht wurden. Die Nummer wurde auf ein großes Stück Stoff geschrieben. Als die Sonderlager abgeschafft wurden, begannen die Häftlinge als allererstes, diese Stoffstücke abzutrennen, die sie als sehr kränkend empfanden. Und wenn auch die übrige Wattejacke völlig verschmutzt und ausgeblichen aussah, so war das Stück und dem aufgenähten Stoff absolut sauber und schwarz geblieben. Die Nummern wurden abgetrennt, aber die Spuren blieben. Und diese Frauen weinten und schluchzten bitterlich. Dieses Detail hat mich sehr in Erstaunen versetzt, eine Metapher, dass dieses Quadrat mit der Nummer immer beim Menschen bleibt, selbst wenn er versucht, sich dessen zu entledigen.

Noch eine Geschichte: ein vom Hunger gequälter Todeskandidat ließen sie frei und schickten ihn zum Sterben hinter die Lagergrenze, um die Statistik nicht zu verderben. Irgendwie hatten sie zwei solcher Todeskandidaten zum Sterben zu den Lagertoren geschleppt (sie konnten schon nicht mehr aus eigener Kraft gehen), und zwei Frauen sahen sie und trugen sie zu sich nach Hause. Sie pflegten sie gesund und heirateten sie später. Buchstäblich eine Geschichte darüber, wie man einen Mann auf der Straße findet. Mehr als 1–2 Tage wären ihnen nicht geblieben, aber die Frauen retteten ihnen das Leben.

Einmal erzählte eine Deutsche mir ihre Geschichte, ich zeichnete ihr Interview auf und bemerkte, dass sie ständig vom Essen sprach. Sie konnte sich in allen Einzelheiten daran erinnern, aus wieviel Gramm Brot die Ration in den verschiedenen Jahren bestanden hatte; im Wesentlichen ging es in ihren Berichten darum, wie sie Essen beschaffte — sowohl an der Wolga als auch in der Verbannung, im Lager und wieder in der Verbannung und schließlich — zu Zeiten Chruschtschows und Breschnjews. In den dreißiger Jahren litt sie schrecklichen Hunger, später, 1941, deportierte man sie nach Sibirien, wo sie ebenfalls am Hungertuch nagten. Einmal, im Oktober, sah sie im Schnee auf dem Feld Ähren liegen. Sie sammelte sie auf, kochte sie, und dafür sperrte man sie für 2 Jahre ein – wegen des Diebstahls von Kolchos-Eigentums. Als sie vom Lager erzählte, erinnerte sie sich immer wieder daran, wie sie dort nach Essen suchte. Und dass die Frauen beim Abladen Getreidekörnchen in ihrer Scheide verbargen und sie auf diese Weise mit in die Lagerzone hineinbrachten. Und später, als die Haftzeit dem Ende zuging, fragte man sie, was sehr selten war, wohin sie in die Verbannung geschickt werden wollte. Sie sagte, in die Region Krasnojarsk, — denn sie hatte gehört, dass es dort viele ländliche Areale gäbe. Sie fuhr dorthin, um immer in der Nähe von Nahrungsmitteln zu sein. Hier, sagt sie, hat sie sich mit Rüben wieder aufgepäppelt, die sie noch auf dem Feld aufbrach, so dass alle sie die Dicke Lida nannten.


Seltenes Foto, aufgenommen im NorilLag, — Panorama der Lagerabteilung.
Jegliche Fotoaufnahme auf dem Lagerterritorium war verboten, sämtliche Fotoapparate waren registriert
Foto: Memorial.krsk.ru

— Aleksej Andrejewitsch, was meinen Sie, warum unser Staat diese von ihm begangenen schrecklichen Fehler nicht anerkennt? Wie schätzen sie den Grad des Bewusstseins des Staates in Bezug auf die Repressionen ein?

— Sie bezeichnen das als Fehler, was in Wirklichkeit Verbrechen waren. Der Staat will diese Verbrechen nicht einsehen und geht deswegen genau den gleichen Weg, auf dem man bereits gegangen ist: der Staat ist alles, der Mensch ist — nichts. Sie sagen: «Ja, Fehler sind passiert, sie waren so eine Art Naturkatastrophe, die Menschen erschossen sich selbst, ins Gefängnis kamen sie wegen nichts, wir werden eine Träne darüber vergießen – und gut ist es». Aber warum das alles geschehen ist, wer die Schuld an diesen Verbrechen trägt, das will der Staat auf keinen Fall zugeben. Und das bedeutet, dass die Geschichte sich wiederholen kann. Und genau das tut sie leider bereits.

— Haben Sie denn keine Angst, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen, all das auszusprechen? Besonders wenn man berücksichtigt, was mit Jurij Dmitrijew geschehen ist.

— Ich lebe schon so lange, dass alles bereits hinter mir liegt. Und deswegen kann ich in jedem beliebigen Moment abtreten. Angst ist kein Anlass das aufzugeben, dessen ich mich 30 Jahre lang gewidmet habe. Egal was passiert, diese Arbeit wird fortgesetzt, solange wir am Leben sind.

Jura Dmitrijew, den sie erwähnen, hat den Mut gehabt, zusammen mit seinem Kameraden Anatolij Rasumow das nächste Buch der Erinnerung zu schreiben, während er im Zentralgefängnis saß. Sie nahmen miteinander Rücksprache, während man sie durch die Korridore zum Sitzungssaal brachte, sie erörterten dabei, wenn man ins Buch aufnehmen sollte, wen nicht… Und so schrieben sie ein ganzes Buch, können Sie sich das vorstellen? Die Memorialer sind alle verrückte Leute.

Sascha Simutina
NGS24.ru 10.30.2020


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