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Verbannungs- / Lagerhaftbericht von Emma Filippowna Abich

Geburtsdatum 23.09.1927
Deportiert aus dem Großdorf Grimm, ASSR der Wolgadeutschen am 10.09.1941

Lebensgeschichte bis zur Umsiedlung

Mutter: Margarita Jakowlewna Kaiser (1905-12.12.1942)
Vater: Filipp Abich (1907-1964)

Der Vater diente drei Jahre lang in Krasnojarsk und Tomsk und konnte daher gut Russisch. Die Mutter dagegen hatte sogar nach der Umsiedlung erhebliche Schwierigkeiten mit der russischen Sprache. Die Eltern arbeiteten in der Kolchose, verdienten nur wenig. 1933 machten Sie eine schreckliche Zeit des Hungerns durch. In der Familie gab es fünf Kinder.

1941 wurde die gesamte Familie in das Großdorf Malobeloe in der Region Krasnojarsk verschleppt. Der Weg nach Malobeloe war beschwerlich und qualvoll, denn sie hatten all ihre Sachen zuhause in Grimm lassen müssen. Zum Glücl lag ihr Haus unmittelbar an der Straße, so daß der Vater schnell noch einmal zurücklaufen und den Speck holen konnte. Außerdem nahmen sie die Eisentruhe mit verschiedenen Sachen mit. Auf deren Boden legten sie die Kacheln des alten Ofens, um ihn am neuen Wohnort wieder aufbauen zu können. Man hatte ihnen auch gesagt, daß sie Säge, Axt und Spaten mitnehmen sollten. Aber am schrecklichsten war die Tatsache, daß man ihnen nicht sagte, weswegen sie eigentlich umgesiedelt wurden und – wohin.

Mit Fahrzeugen vom Typ SIS-5 und zu Pferde fuhren sie bis zur Wolga; dort ließ man sie an Bord eines hölzernen Lastkahns (Leichter) gehen und brachte sie nach Saratow, wo sie in „Vieh“-Waggons umgeladen und nach Krasnojarsk transportiert wurden. Dort verfrachtete man sie erneut auf ein hölzernes Lastschiff und fuhr mit ihnen nach Jenisejsk. Von da aus gingen sie zufuß, mit Pferden oder Ochsen bis ins Dorf Nalobeloe.

Das Leben in Malobeloe

Alles nahm seinen Gang. Man nannte sie Faschisten – na und? Was ist schon dabei? Trotzdem kam das Leben irgendwie in Ordnung. Die Menschen verhielten sich ihnen gegenüber wohlwollend, halfen ihnen so gut sie es vermochten. Die Deutschen konnten sehr gut nähen, weben, stricken und spinnen – d.h. alles, was mit Handarbeiten zusammenhing, gelang ihnen ausgezeichnet. Auch Emma Filippownas Mutter war in solchen Dingen sehr geschickt. Häufig half sie den Nachbarinnen. Und die Nachbarinnen verweigerten ihre Hilfe ebenfalls nicht, waren oft zu Tauschgeschäften bereit. So tauschte Emma Filippownas Mama beispielsweise einmal große Daumenkissen gegen einen Eimer Kartoffeln ein, dabei teilte sie das Kissen in drei Teile. Hier führten sie ein Hungerdasein, und deshalb taten sie alles, was nötig war, um die Familie irgendwie durchzufüttern. Es gab so ein Gericht, das sich „Kompott mit Mehlklößen“ nannte. Wie es dazu kam? Einfach so! Das war ganz gewöhnliches Kompott mit Mehlklößen. Allerdings meinte Emma Filippowna dazu: „Ganz schrecklich, man konnte das nicht essen! Wenn du schon den Saft trinken willst, dann nur den Saft, ohne Mehlklöße. Aber wenn du Mehlklöße willst, dann iß sie ohne den Saft“. Die Menschen sammelten die Kartoffeln des Vorjahres von den Feldern und machten daraus Fladen, die sie im Ofen rösteten.

Aber so gut die Deutschen auch kochen konnten, backen konnten sie nicht. Und da ging dann auch gleich das Sich-Austauschen los. Die Deutschen erklärten den Ortsansässigen viele Kochrezepte, und diese wiederum brachten den Deutschen bei, wie man backt. So fing beispielsweise Margarita Jakowlewna an, ihr Brot auf ganz andere Weise als bisher zu backen. Früher hatte sie lediglich gewartet, bis der Teig hochgegangen war, hatte dann eine Kugel daraus geformt und sie im russischen Ofen gebacken. Aber jetzt buk sie das Brot in unterschiedlichen Holzformen mit verschiedenen Mustern.

Auch an die Sprache mußten sie sich gewöhnen. Anfangs konnten sie kein Russisch und sprachen untereinander weiter Deutsch, was den Ortsansässigen ganz und gar nicht gefiel.

Alle naslang hörte man den Satz: „Was tuschelt und lacht ihr denn da?“ – Und dann eigneten sie sich nach und nach die russische Sprache an.

Auch mit der Behausung war es sehr schwierig. Als die Familie nach Malobeloe kam, wohnten sie zunächst in einem Haus mit zwei Zimmern: drei Familien, 19 Personen. Aber nach zwei Monaten fand der Vater für sie ein kleines Häuschen mit einem Eisenofen. Sie brachten es ein wenig in Ordnung und zogen um.

Aber dann wurde die Familie von einem Unglücksfall heimgesucht: der Vater und dessen Bruder wurden in die Trudarmee geholt. Amma Filippownas Ehemann sagte: „Die Trudarmee ist schlimmer als das Konzentrationslager“. Auf die Frage „warum?“ antwortete er nur: „Es ist ein Alptraum“. Die Arbeitsarmee befaßte sich mit dem Bau von Rüstungsbetrieben, Beobachtungstürmen (???) usw. Und im Winter schickte man die Menschen zum Bäumefällen. Und dabei wurden sie verhöhnt und gedemütigt.

So blieb die Familie ohne hilfreiche Männerhände zurück. Und nur kurze Zeit nachdem sie den Vater in die Trudarmme geschickt hatten, schenkte die Mutter dem kleinen Jascha das Leben. Er wurde am 20. Oktober 1942 geboren. Zwei Monate darauf brach neues Unheil über die Familie herein. Die Mutter starb.

Der Tod der Mutter

An Margarita Jakowlewnas Hals hatte sich plötzlich ein kleines Pickelchen gebildet. Sie dachten es wäre ein Furunkel. Sie drückte ihn aus und kühlte die Stelle. Sie bekam eine Entzündung mit nachfolgender Blutvergiftung. Ganz zum Schluß war das Geschwür im Hals dermaßen groß, daß sie daran erstickte. All das geschah buchstäblich innerhalb von drei Tagen. Als der Vater später nach Hause kam, sagte er: „Wieso habt ihr sie nicht wieder gesund gemacht? Man hätte lediglich ein Tabakblatt auflegen brauchen. Das hätte alles Schlechte aus dem Körper, alle Krankheitserreger herausgesogen“.

Dies waren die schlimmsten Tage im Leben der Emma Filippowna. Drei Tage verbrachte sie neben der Mutter.

So blieben sie nun also zu viert zurück. Emma war die älteste, dann gab es noch ein kleines Brüderchen und eine weitere Schwester sowie das jüngste Brüderchen. Da sie keine Mutter mehr hatten, teilte die Kolchose ihnen Milch zu.

Alle sollten zur Schule gehen. Zuerst verstanden die deutschen Kinder in der Schule kein einziges Wort, denn der Unterricht wurde auf Russisch abgehalten. Die Lehrerin erzählte Emma: „die Schulstunde ist zuende, und ich sitze hier und denke: was soll ich ihnen beibringen? Sie verstehen doch überhaupt kein Russisch. Ich gehe in den Korridor, und was sehe ich – die russischen Kinder sind für sich, und die deutschen auch. Im Laufe der Zeit fanden sie aber alle zusammen!“ – Kein Wunder: denn bis zur Schule, die sich in Jelan bafand, mußten sie immerhin einen Weg von 7 km zurücklegen und den Fluß Kem überqueren. Da war nichts zu machen; und so gingen sie dann zur Schule. Schon sehr bald beendeten sie die siebte Klasse. Zwei Jahre waren seit der Geburt des kleinen Jascha bereits vergangen. Es waren Hungerjahre. Emma arbeitete im Winter in der Holzfällerei. Zuhause war es kalt. Als Emma einmal nach Hause zurückkehrte, entdeckte sie, daß der kleine Junge gestorben war.

Emmas Mutter stammte aus einer reichen Familie, sie besaß eine Menge schöner Kleidung, die Emma nach und nach in brot umtauschte.

Auf die Frage, welche Traditionen und Feiertage es denn bei ihnen gab, antwortete Emma Filippowna: die Festtage waren sehr ähnlich; es gab keine besonderen Unterschiede“. Nach der Umsiedlung freuten sie sich genauso über die Festtage der Ortsbewohner und die Kolchos-Feiertage. Niemandem fielen darin grundlegende Unterschiede auf.

Das einzige, das von ihrer ehemaligen Kultur noch übrigblieb, waren die Feierlichkeiten zu Weihnachten (das haben sie immer gefeiert, auch als es verboten war, und sie begehen den Tag heute noch). Und sonst nichts.

Der „Wolfspaß“

- Das ist ein Dokument von der Größe 20x20 cm, welches die Identität einer Person bestätigt. Es wurde anstelle eines Ausweises benutzt. Seine Farbe – kaffeebraun. Eine Arbeit bekam man bei Vorlage eines solchen Dokumentes nicht. Menschen, die ein solches Papier besaßen, wurden von den anderen großes Mißtrauen entgegengebracht: es bedeutete erhebliche Einschränkungen der Rechte. Im Jahre 1956, als die Deutschen aus dem Status der Sonderumsiedler entlassen wurden, brachte der Kommandant diese Art von Ausweis mit. Normale Pässe erhielten sie erst 1967.

Kleidung

Anfangs, nach dem Tod der Mutter, kleideten sie sich sehr schlecht. Aber bald änderte sich alles. Mamas Schwester wurde ausfindig gemacht. Sie wohnte in Kemerowo und lebte sehr gut. Sie schickte ihnen oft Pakete mit Kleidung. Auch Fausthandschuhe fanden sich darin, die ihnen sehr gut zustatten kamen.

Der Kommandant

Im gesamten Jenisejsker Bezirk gab es nur einen einzigen Kommandanten ( ??? - A.B.). Er war mit seinen Aufgaben völlig überlastet. Emma Filippowna berichtete über ihn, daß er ein sehr guter und hilfsbereiter Mann war. Weil er soviel zu tun hatte, ernannte er in jedem kleinen Ort einen zum Dorfältesten. In Malobeloe hatte Emmas Vater diesen Posten inne. Emma beobachtete mehrmals, wie der Kommandant zu ihm nach Hause kam. Er besuchte das Dorf einmal im Monat. Und einmal monatliche begaben sich die Repressierten ins Gebäude des Dorfsowjets und trugen sich dort ine ine Liste ein. Manchmal brauchten sie auch icht hinzugehen. Es kam vor, daß sie den Kommandanten auf der Straße trafen, dann ließ er sie sich bei ihm an Ort und Stelle registrieren, und demzufolge brauchten sie nicht mehr extra zum Dorfrat laufen.

Leider kann sich Emma Filippowna nicht mehr daran erinnern, wie der Kommandant hieß und wie er aussah.

Aber irgendwann wurde der Kommandant seines Amtes enthoben. Man entfernte ihn von seinem posten wegen seiner Güte und Barmherzigkeit. Einmal hatte er jedem Familienmitglied ein ganzes Kilo Brot übergeben. Das gab dann auch den Anlaß für seine Absetzung.

1964 kam neues Unheil über die Familie. der Vater starb an Lungenkrebs. Alles lag nun in Emmas Verantwortung. Sie arbeitete in der Kolchose, versorgte den Haushalt. Sie fuhr zur Heumahd. Im Winter brachte man sie in die Holzfällerei – dort mußten sie Bäume abholzen, Äste hacken. Die Arbeit wurde äußerst schlecht bezahlt,

Ende der 1960er Jahre beschlossen zwei Kolchosen ihren Zusammenschluß – die von Malobeloe und Marilowzewo. Emmas zukünftiger Ehemann kam häufig zu Besuch, aber Emma wollte ihn nicht heiraten. Jakob Karlowitsch Stoll war vier Jahre jünger als sie. Die beiden zogen ihre Kinder groß; es gibt auch Enkel, von denen der älteste inzwischen 33 Jahre alt ist. Sie leben jetzt alle in Deutschland. Emma Filippowna und Jakob Karlowitsch fahren oft zu ihnen zu Besuch. 1997 stellten sie den Antrag zur Ausreise nach Deutschland; dann erhielten sie die Einladung. Sie verpachteten ihr Haus und fuhren nach Deutschland. Ein Jahr darauf riefen die Mieter in Deutschland an und sagten, daß sie ausziehen und wegfahren würden. Da mußten Emma Filippowna und Jakob Karlowitsch nach Rußland zurückkehren.

Verhältnis zur heutigen Gesellschaft

Emma Filippowna spricht davon, daß die Gesellschaft um vieles schlechter geworden ist. Schuld daran sind ihrer Meinung nach die Perestrojka und die Herzlosigkeit der Menschen.

„Es wird Krieg geben, aber gebe Gott, daß wir ihn nicht erleben müssen! Die perstrojka hat die Menschen auseinandergebracht!“ – Und dann sagte Emma Filippowna noch: „Jetzt bin ich froh, daß sie uns damals umgesiedelt haben, denn an der Wolga haben wir viel schlechter gelebt, und niemand weiß, was aus uns geworden wäre, wenn wir nicht umgezogen wären“. Heute lebt Emma Filippowna in der Siedlung Ust-Kem und nutzt die Vergünstigungen für kostenlose Beförderung und Preisermäßigungen auf kommunale Dienstleistungen.

Die Befragung erfolgte durch Pawel Kolesow und Ksenija Kontschewa.

(AB – Anmerkungen von Aleksej Babij, Krasnojarsker „Memorial“)

Vierte Expedition für Geschichte und Menschenrechte, Ust-Kem 2007


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