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Bericht von Jekaterina (Katharina) Jakowlewna Bekker (Becker)

Jekaterina Jakowlewna Bekker wurde im Januar 1938 in der Autonomen Republik der Wolgadeutschen geboren. Ihre Familie lebte unweit der Stadt Engels in dem Dorf Knanfeld (Gnadenfeld, heute Talowka). Ihren Eltern – Jakob und Amalia Kisselman(n) sowie anderen Wolgadeutschen wurde im August 1941 verkündet, dass sie ausgesiedelt würden.

arüber, wie die Umsiedlungsaktion verlief, kann Jekaterina Jakowlewna nichts sagen, aber ihre Mutter Amalia erzählte, dass der Vater und noch ein weiteres Dutzend deutscher Burschen direkt aus dem Zug geholt und mit unbekanntem Ziel verschickt wurden. Es gingen unterschiedliche Gerüchte – unter anderem auch darüber, dass man sie in die „Trudarmee“ geholt hätte. Die Gerüchte waren deswegen entstanden, weil von Jakob Kisselman nach der Trennung von seiner Familie im Zug keinerlei Nachrichten mehr von ihm kamen. Auch heute, siebzig Jahre später, weiß Jekaterina Jakowlewna nichts Genaues über sein Schicksal. Im fernen Sibirien traf die kleine Katrin (genau so wurde die von uns Befragte von ihren Eltern genannt) nur mit ihrer Mutter ein. Der Endbestimmungsort zur Ansiedlung wurde für sie das Dorf Belaja Retschka (Weißes Flüsschen; Anm. d. Übers.) im Kasatschinsker Bezirk, Region Krasnojarsk.

Am neuen Wohnort ließen sich Amalia und ihre Tochter in einer Erd-Hütte nieder, Licht erhielten sie durch eine kleine Kerosin-Lampe. Außer Kleidungsstücken war es ihnen nicht rechtzeitig gelungen, noch weitere Sachen von der Wolga mit hierher zu nehmen. Sie wussten nicht, wohin man ihre anderen Verwandten gebracht hatte. Einige Jahre später stellte sich heraus, dass ein Teil der Verwandtschaft nach Kasachstan geraten war. Die Mutter arbeitete in der Kolchose: sie pflanzte Kohl und Kartoffeln, erntete Heu usw. Neben den Deutschen lebten in Belaja Retschka auch Vertreter anderer Volksgruppen, die man nach Sibirien verschleppt hatte: Weißrussen, Kalmücken, Ukrainer usw.

Die Schule befand sich zehn Kilometer vom Wohnort der siebenjährigen Katrin entfernt, und sie hatte nichts zum Anziehen, um diesen Weg zurücklegen zu können. Deswegen konnte sie nicht den Unterricht besuchen. Sie lernte erst viel später Lesen und Schreiben – als sie bereits selber Mutter war und ihre eigenen Kinder in die Schule gingen. Seit ihrer Jugendzeit hatte sie in der Sowchose gearbeitet: Heu eingelagert, Brennholz gesägt.

1958 г. heiratete Jekaterina Jakowlewna den jungen Deutschen Iwan Augustowitsch Bekker, der ebenfalls aus einer Umsiedler-Familie aus der ehemaligen ASSR der Wolgadeutschen stammte. So zog sie nach Kasatschinskoje um, wo sie eine Arbeit in der Ziegelfabrik aufnahm: sie stand an der Schneidemaschine, schob Loren und brannte Ziegel. Nach der Geburt der Kinder fing Jekaterina Jakowlewna an, sich mit dem Haushalt und ihrer kleinen Hofwirtschaft zu befassen. Sie zog fünf Söhne groß. Es gab niemanden, der ihr helfen konnte: die Eltern des Ehemannes lebten sehr bescheiden, und Mutter Amalia war bereits Ende der 1950er Jahre aus dem Leben geschieden. Amalia Andrejewna hinterließ ihrer Tochter nichts – sie hatten, wie sie sagt, in ärmlichen Verhältnissen gelebt. Das wichtigste, an das Jekaterina sich erinnert, ist das Mandat der Mutter „auf sein Gewissen zu hören und nicht zu schwindeln“. Auch Iwan Augustowitschs Eltern lebten nicht lange. Sein Vater litt unter den Verletzungen, die er sich in der „Trudarmee“ zugezogen hatte.

Jekaterina Jakowlewna spricht überhaupt kein Deutsch. Sie scherzt, dass man sie eigentlich gar nicht als Deutsche bezeichnen kann, weil sie die Sprache nicht kennt. Wahrscheinlich führten das Leben in deinem anderssprachigen Milieu und das Fehlen unmittelbarer Verwandten zum faktischen Verlust der Muttersprache. Auch der Tatbestand, dass sie in die Familie ihres Mannes kam, in der Deutsch gesprochen wurde, konnte die Sprachkenntnisse nicht wiederherstellen. Im Umgang mit ihrem Ehemann wurde die russische Sprache benutzt, die auch für Iwan Augustowitschin Sibirien zur Hauptsprache wurde, wenngleich er, im Unterschied zu seiner Ehefrau, auch seiner Muttersprache mächtig war.

Jekaterina Jakowlewna hat ein schwieriges Leben gehabt. 1980 starb ihr Mann, danach zog sie die Kinder allein groß. In Kasatschinskoje verstarben in verschiedenen Jahren zwei ihrer Söhne. Jekaterina Jakowlewna arbeitete als Technikerin in Kinderkrippen und in der Redaktion der Lokal-Zeitung. Doch der Wunsch, das Dorf zu verlassen und in die historische Heimat zu reisen, kam bei der von uns Befragten, trotz all der schwierigen Lebensverhältnisse, nicht auf – obwohl der Bruder ihres Mannes ihr eine entsprechende Einladung schickte, nachdem er selber 1990 nach Deutschland ausgereist war.

1980 reiste Jekaterina Jakowlewna an die Wolga, wohin einer ihrer Söhne umgezogen war. Damals war sie am meisten darüber erstaunt, dass es die deutschen Ortsbezeichnungen dort nicht mehr gab.

Seitens ihres Mannes gibt es nur noch eine einzige Verwandte – eine Kusine namens Nina Nikolajewna Saifulina. Sie ergänzte Jekaterina Jakowlewnas Erzählung noch ein wenig, obwohl sie nicht allzu viel berichten konnte. Ihre Mutter – die aus dem Wolgagebiet verschleppte Deutsche Maria Adamowna Bekker, sprach zu Lebzeiten nur wenig und selten über das Leben an der Wolga und die Aussiedlung. Dafür haben sich im Haus der Mutter oft ihre Verwandten zusammengefunden, sich in ihrer Muttersprache unterhalten und Lieder gesungen.

Jekaterina Jakowlewna Bekker erinnert sich jetzt viel häufiger an ihre Kindheit, das schwierige Leben der Mutter, die mit der kleinen Tochter ohne jegliche Existenzmittel nach Sibirien geriet. Die deutschen Wurzeln sind praktisch aus dem Gedächtnis fortgewischt, das Schicksal der von uns Befragten ist fest verschnürt mit dem sibirischen Dorf Kasatschinskoje, in dem sich fast ihr gesamtes Arbeitsleben abspielte.

(AB – Anmerkungen von Aleksej Babij, Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft ) Neunte Expedition des Krasnjarsker "Memorial“ und des Pädagogischen College in Jenisseisk, Worokowka-Kasatschinskoje-Roschdestwenskoje 2014 .

 

 


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