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Verbannungs- / Lagerhaftbericht von Andrej Samuilowitsch Zikler

 Geboren 1954. Sohn der repressierten Deutschen

Bis zur Deportation lebten sie im Gebiet Saratow, Dobrinsker Kreis, in dem Dorf Keller.

Die Familie bestand aus 7 Mitgliedern:

Sie lebten dort ab Herbst 1940. Im Jahre 1941 wurde Großvater Iosif Zikler (geb. 1879) zur Front einberufen – 1944 kam die Nachricht von seinem Tode.

Im September 1942 (wahrscheinlicher ist 1941 – AB) kam nachts ein ortsansässiger Brigadeleiter mit Mitarbeitern des NKWD zu ihnen ins Haus und befahl, sich unverzüglich zum Mitkommen fertigzumachen. Zu dieser Zeit besaß die Familie in ihrer Bauernwirtschaft ein eigenes kleines Grundstück, ein Haus, drei Kühe, zwei Pferde und eine Schafherde. Von allen aufgelisteten Sachen gelang es der Großmutter lediglich zwei Kissen mitzunehmen.

Über den Strafverbüßungsort war der Familie Andrej Samuilowitschs nichts bekannt, bis zu dem Zeitpunkt, als sie selbst dort ankamen. Die Fahrt von der Region Saratow bis in das Omsker Gebiet (Poltawsker Kreis, Dorf Syrowatka, Kolchose Rosa Luxemburg) nahcm zwei Wochen in Anspruch. Man transportierte sie in Viehwaggons, in denen die schlimmsten hygienischen Verhältnisse herrschten. Viele wurden unterwegs krank (vor allem Kinder) und starben, weil es an Nahrung fehlte (mitunter auch an Wasser).

An den Bahnstationen erlaubte man ihnen auszusteigen. Wer es schaffte, nahm irgendwo etwas Wasser auf. Man hatte ein wachsames Auge auf die Menschen, damit auch alle, die ausgestiegen waren, wieder in die Waggons zurückkehrten. Die Waggons waren dermaßen überfüllt, dass die Menschen praktischdie ganze Zeit im Stehen zubrachten, während die Leichen auf dem Boden liegenblieben.

An irgendeiner der Stationen verlor die Großmutter Tante Katja, aber am Andpunkt der Reise, an der Station Isilkul fand sie sie wieder. Es stellte sich heraus, dass, nachdem sie einander verloren hatten, eine Militärperson, welche die Leute bewachte, das Mädchen mitgenommen hatte, und sie die ganze restliche Strecke nur durch drei Waggons getrennt zurückgelegt hatten. Am Endhaltepunkt hörten sie dann, wie der Soldat rief: wer hat ein Kind verloren?

Von der Station Isilkul bis zur Kolchose Rosa Luxemburg gelangte jeder, womit es ihm gerade möglich war. Die Familie Zikler mußte den halben Weg zufuß zurücklegen. Dann nahm ein Lastwagen sie auf und brachte sie bis an ihren Bestimmungsort.

In der Kolchose gab es beim Dorfsowjet eine Kommandantur, in der sie sich einmal pro Woche melden und registrieren lassen mußten. Bis zur endgültigen Rehabilitation war ihnen jeglicher Umzug an einen anderen Ort verboten, sie durften überhaupt nirgends hinfahren. (Hier wurde die vermeintliche Rehabilitation, wie gewöhnlich, mit der Freistellung von der Kommandantur-Meldepflicht verwechselt).

Am neuen Ort zeigte man ihnen ein Stück Land und gab ihnen zu verstehen, dass sie von nun an hier leben würden. Innerhalb kurzer Zeit gelang es ihnen irgendwie eine Erdhütte auszuheben, Nachbarn halfen ihnen dabei. In den ersten Jahren schlugen sie sich mit dem Erbetteln von Almosen durch. Nach den Erzählungen der Mutter mußten sie verfaulte Kartoffeln und Brot aus Sägemehl essen. Später schafften sie es, sich Arbeit in der Kolchose zu beschaffen, denn dort wurden Arbeitskräfte benötigt. In der Kolchose wurde der Lohn in Naturalien gezahlt (Brot, Getreide, usw.). Nach einiger Zeit fand Andrej Samuilowitschs Mutter Arbeit als Hebamme und Krankenschwester.

In dem Dorf Solowewka lebten außer ihnen noch 67 andere deutsche Familien, sowie Litauer, Ukrainer, Tataren und Russen. Die ursprünglichen Einwohner verhielten sich gegenüber den Neuankömmlingen tolerant und halfen ihnen so gut sie konnten.1960 bekam die Familie ein Haus mit einer Wohnung zugeteilt.

Zu Beginn der 1990er Jahre entschlossen sich zahlreiche deutsche Familien in die Heimat zurückzukehren – in die BRD und die DDR. Insgesamt blieben 15 Familien zurück. Die Familie Zikler beschloß dort zu bleiben, vor allem dadurch motiviert, dass sie hier ihre eigene Wirtschaft besitzen, ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen. 1998 wurden ihnen als Kompensation für den konfiszierten Besitz eine Geldzahlung in Höhe von 15 Millionen Rubel zugesprochen (was nach unserem heutigen Kurswert etwa 10000 Rubel entspricht – AB), aber die Familie lehnte die Annahme des Betrages ab und übergab ihn stattdessen an ein Heim für behinderte Kinder in der Stadt Omsk.

Die Familie Zikler war bereits mehrmals in ihrer Heimat (olgagebiet? – AB) und hat es nie bereut, dass sie weiterhin in der Kolchose gearbeitet hat. Bis zum heutigen Tage ist es ihnen gelungen, Kultur und Sprache zu bewahren. Da lediglich Andrej Samuilowitsch und seine Schwester am Leben geblieben sind, wurden ihnen keine Vergünstigungen bewilligt (tatsächlich wurden beide geboren, nachdem die Familie sich bereits nicht mehr in der Sonderzwangsansiedlung befand).

Nach den Worten Andrej Samuilowitschs war es seiner Mutter und den Kindern sowie Onkel und Tante schwergefallen, sich an die vergangenen Jahre zu erinnern; sie vermieden dieses Thema gänzlich. Dennoch hielten sie den Staat weder für bösartig, noch empfanden sie Haß.

Das Interview führten: Wjatscheslaw Dwornikow, Jelena Koslowa (Jenisejsker Fachschule für Pädagogik) im Juli 2005.
(AB – Anmerkungen von Alexej Babij, Krasnojarsker Gesellschaft „Memorial“)
Zweite Expedition für Geschichte und Menschenrechte, 2005


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