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Nadeschda Georgiewna Golych

Nadeschda Georgiewna Golych (Mädchenname Diener) wurde im Gebiet Saratow in der Familie eines landwirtschaftlichen Agronomen geboren. 1937, als die Eltern bereits in die Stadt Engels umgezogen waren, wurde der Vater erschossen (aus welchem Grund ist nicht bekannt). Aber es ist nicht schwer, sich das vorzustellen – schließlich schrieb man das Jahr 1937, das Jahr des Großen Terrors; und so blieb die Mutter, Taisia Iwanowna Burluzkaja, eine ehemalige Dorfschullehrerin, allein mit ihren vier Kindern am Rockzipfel zurück.

In der Stadt Engels lebten sie in einer Dreizimmer-Wohnung, sie hatten ihre eigene, wenn auch nicht sehr große Wirtschaft, aber immerhin – 15 Hühner und einen Hund an der Kette, einen fruchtbaren Garten mit 15 Apfel- und 10 Kirschbäumen.

Nadeschda Georgiewna erinnerte sich: „Als 1941 der Krieg begann, brachten sie uns Schüler und Schülerinnen der 6. und 7. Klassen in die Ortschaft Jaruslan zur Heuernte, anschließend auch zur Getreideernte – Weizen, Roggen. Ich wurde mit meinen knapp 16 Jahren zum Koch für 37 Leute – alte Menschen und uns, die wir noch zur Schule gingen. Wir säuberten die Mähdrescher, arbeiteten mit Schaufeln und Besen. Es ist heiß, wir haben August, und ich bin ganz verschwitzt unter meinem Kopftuch – die ganze Zeit in der Nähe von zwei Kochkesseln, die in die Erde eingegraben sind. Der Brigadeleiter, ein alter Mann, brachte Lebensmittel. Ich nahm sehr stark ab, denn ich stand früh auf, um vier oder fünf Uhr morgens…“. Und so arbeitete Nadeschda Georgiewna von früh bis spät, ohne die Hände in den Schoß zu legen. Obwohl sie noch so jung war, sprach man von dieser Köchin im Radio und schrieb sogar in der Lokalzeitung über sie.

In demselben Sommer wollte Nadeschda Georgiewna sich eigentlich an der medizinischen Fachschule einschreiben, und sie hatte auch schon alle notwendigen Dokumente abgegeben; aber am 28. August kam ein Dekret heraus, und die gesamte Familie Diener wurde, zusammen mit anderen deutschen Familien, in der Nacht vom 1. Auf den 2. September gewaltsam aus Engels ausgesiedelt. Nadeschda Georgiewna erinnert sich noch an das hastige Zusammenpacken der Sachen: „Am Tor stand ein Fuhrwerk; es gelang uns gerade einmal drei Bündel mitzunehmen, Lebensmittel auf gut Glück und eine Nähmaschine – ein Geschenk von Mamas Vater… Sie fuhren uns auf eine große Waldwiese unweit des Friedhofs. Stöhnen, Kinderweinen, Kuhgebrüll, Hundegebell. Bis heute höre ich dieses Grauen noch in meinen Ohren, sobald die Erinnerungen mich wieder einholen. In der Nacht auf den 2. September traf eine Lokomotive ein, „Kälber“-Waggons wurden angekuppelt. Wir waren lange unterwegs, mehr als zwei Wochen“.

Zunächst kam die Familie in die „Spartakus“-Kolchose in der Nähe von Minusinsk; hier, in der Ortschaft Malaja Minusa, lebten sie ein Jahr lang. Von den Bewohnern des Ortes wurden sie freundlich aufgenommen, sie waren ihnen dabei behilflich sich einzurichten – gaben ihnen einen Tisch, Stühle, ein Bett, und Nadja bekam sogar eine Unterziehjacke, die jede Woche einmal mit Sackleinen ausgebessert werden musste. Nadeschda Georgiewna erinnert sich: „Wir arbeiteten in der Kolchose, schelferten Sonnenblumen mit Stöckchen auf ein Vehikel, ernteten Gemüse, gruben Kartoffeln aus. Wir droschen auch Getreide: Weizen und Roggen - mit einem Mähdrescher, und wenn er defekt war, gingen wir zur nicht weit entfernt stehenden Dreschmaschine. Es war kalt und windig, aber man sagte uns: „Ihr müsst der Front helfen, damit der Feind schneller besiegt wird“. Und wir, die 14-16 jährigen Schüler, arbeiteten die ganze Woche hindurch auf den Feldern, lebten in einem 15-30 km von Zuhause entfernten Amtsbezirk. Wir fuhren in den Wald zum Brennholzholen, holzten ein Birkenwäldchen ab… und dabei lernten wir auch, wie man Pferde anspannt…“.

1942 wurde die Familie Diener in das Dorf Nasimowo im Bezirk Jenisejsk umgesiedelt, und als sie aus Malaja Minusa abfuhren, übergab man ihnen für die in der Kolchose geleistete Arbeit 250 kg Weizen und 50 kg Zucker. Nach Nasimowo gelangten sie und sieben weitere Familien mit einem Motorschiff. Im Hinblick auf das Leben und die Arbeit in Nasimowo kann Nadeschda Georgiewna sich noch an folgendes erinnern: „Im Winter hackten und sägten wir, 8 km von Nasimowo entfernt, Brennholz – „Holzstöße“ für die Schiffe; wir lebten in einem Holzhäuschen, wuschen uns die ganze Woche nicht… Wir arbeiteten bis zur Gürtellinie im Schnee: zuerst musste man den Schnee an jedem Baum, den man fällen wollte, niedertrampeln. Im Frühling fuhren wir zum Jenisej hinüber und pflückten Bärlauch, den wir später kleinhackten, einsalzten und an den Beschaffungsleiter abgaben…“.

Der Krieg brachte ihrer Generation alles bei. Sie wurden vorzeitig erwachsen, begriffen, worauf alles hinauslief. Sie Verstanden, dass man arbeiten musste, um überleben zu können – und das war das Wichtigste. Aber Nadeschda Georgiewna hatte einen sehnlichen Wunsch – lernen, eine Ausbildung machen. Aber sie konnte ihr Leben erst Ende 1944 verwirklichen, als sie das 19. Lebensjahr vollendet hatte und sich zum Lernen an die pädagogische Fachschule in Jenisejsk begab.

„Ich kam dort an, hatte aber keine Papiere dabei. Ich erzählte das dem Schulleiter Pjotr Matwejewitsch Saizew. Die Direktorin hieß Jelisaweta Matwejewna Korschunowa. Mit der Ausbildung fing ich nicht am 1. September, sondern erst am 17. Oktober an, bis die gesamte Ernte eingefahren war: Kartoffeln in dem Dorf Borki, Kohl und Wurzeln hinter dem Flüsschen Mjelnitschnaja. Mit einer Sichel mähten wir Hafer in dem Dörfchen Gorskoj, denn die Kühe und Pferde befanden sich an der Schule. Zur Heumahd fuhren wir nach Schelesnaja Gora. Milch bekamen diejenigen Studenten, deren Gesundheitszustand geschwächt war. Brennholz und Wasser wurde zum Wohnheim und dem Unterrichtsgebäude gebracht, und zwar entweder mit den eigenen Pferden - oder man trug es selber vom Ufer des Jenisej oder aus Mjelnitschnaja herbei. In den Stamm schlugen wir aus zwei-drei Holzklötzen Pinne hinein, banden Draht herum, und den zogen jeweils zwei Mädchen den Baum aus dem Wasser den Berg hinauf – zum Wohnheim und Lehrgebäude. Dort wurde er sogleich zersägt, getrocknet und dann der Ofen damit beheizt. Abwechselnd halfen wir auch beim Einsalzen des Kohls für die Studentenkantine…“

Nachdem Nadeschda Georgiewna die pädagogische Fachschule beendet hatte, heiratete sie und bekam einen Ausweis, aber sie ging auch weiterhin regelmäßig zur Kommandantur, um sich dort zu melden und registrieren zu lassen. Dieser Meldeprozess war sehr unangenehm und erniedrigend. Ihre berufliche Tätigkeit begann Nadeschda Georgiewna an der Schule N° 11. Und 1958 wurde sie Erzieherin im Kinderheim. 1975 ging Nadeschda Georgiewna dann in den wohlverdienten Ruhestand.

 

O. Kruschinskaja. Unfreiwillige Sibirjaken


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