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Verbannungs-, Lagerhaftbericht von Iwan Josifowitsch Dinkel

Iwan Josifowitsch DINKEL (1907) wurde in dem deutschen Dorf Graf, Kanton Marienthal, ASSR der Wolgadeutschen, geboren (in den 1920er Jahren gab es im Dorf etwa 250 Höfe), wo er auch die Schule beendete. Nach der Schule lebte er in Engels, später ließ er sich in Saratow nieder und arbeitete dort als Tischler bei den Flugzeugwerken. In den Jahren 1937-38 gab es in diesem Werk Festnahmen, allerdings nicht sehr viele, und von den Leuten, die Iwan Josifowitsch bekannt waren, wurde niemand verhaftet.

In ENGELS wohnte Iwan Josifowitschs Schwester Amalia Josifowna ULRICH (geb. 1905). Ihr Ehemann, Petr Petrowitsch ULRICH (geb. etwa 1904) war ebenfalls Deutscher und Mitglied der WKP (B). Er arbeitete als Ausrüster in der Militärgarnison in ENGELS. Er wurde im Herbst 1937 verhaftet und gemäß § 58-10 eingesperrt. Er geriet anschließend in die Schachtanlagen von WORKUTA, wurde jedoch 1940 freigelassen und sogar rehabilitiert. Über sein weiteres Schicksal siehe weiter unten.

Im Sommer 1941 befand sich Iwan Josifowitsch dienstlich am Bauprojekt der Flugzeugwerke in Nikolajewsk am Amur. Als er im September nach Saratow zurückkehrte, waren bereits alle Deutschen von dort verschleppt worden. Man bestellte ihn zur Miliz, nahm ihn jedoch nicht fest, sondern befahl ihm lediglich, innerhalb von 24 Stunden nach Kasachstan abzufahren. Er erhielt eine Buchstaben-Kennung. Er nahm einen gewöhnlichen Personenzug und fuhr fort. Als er an Ort und Stelle angekommen war, stellte sich heraus, daß alle Deutschen zum Arbeiten auf die Kolchosen getrieben hatte. Da Iwan Josifowitsch bereits erfahren hatte, daß seine Schwester L.I. ULRICH, zusammen mit ihrem Ehemann und der Tochter Erna Petrowna ULRICH (1924-1978), in die Region Krasnojarsk gelangt war, bat er in der Kommandantur darum, ihn an deren Aufenthaltsort zu verlegen.

Man erlaubte ihm die Fahrt, und so gelangte er, ebenfalls mit einem ganz normalen Personenzug nach Krasnojarsk. Hier, an der Evakuierungsstelle, gab man ihm die Adresse: Bezirk USCHUR, Ortschaft MICHAJLOWKA. Nachdem er bei seiner Schwester angekommen war, überzeugte er sich davon, daß es in der Kolchose für ihn keine Arbeit gab, und fuhr wenige Tage später nach ABAKAN. Dort wandte er sich an die Evakuierungsstelle und erhielt eine Arbeitszuweisung für das Abakansker Holzverarbeitungskombinat.

Im Januar 1942 begann man mit den „Mobiliserungen in die Arbeitsarmee“. Man zwang die Deutschen aus ABAKAN in Viehwaggons einsteigen, wobei sie von MP-Schützen und Hunden bewacht wurden, die auf den Bremsplattformen standen. Und dann wurden sie gen Westen abtransportiert. Der Zug hielt an der Station JAR (Udmurtische ASSR). In der Nacht setzte er sich wieder in Bewegung und fuhr nun offenbar schon Richtung Norden. Am Morgen bemerkten die „Arbeitsmobilisierten“, daß der Waggon während der Fahrt so merkwürdig von Seite zu Seite schaukelte. Sie öffneten selber die unverschlossene Tür und sahen, daß Schienen und Schwellen direkt auf dem Schnee verlegt worden waren. Entlang der Strecke war Stacheldraht gespannt, die Türme eines Lagers ragten heraus.

Es handelte sich um die Bahnstation LESNAJA, , - der „Hauotstadt“ des WJATLAG. Der Zug wurde am 12. Lagerpunkt abgeladen und die etwa 600 neuen Häftlinge sogleich zufuß in eine 7 km entfernte Lagernebenstelle getrieben (ihre Sachen wurden auf Fuhrwerken befördert). Dort in der Zone standen zwei gerade erst errichtete, noch im Rohbau befindliche Baracken mit durchgehende, zweistöckigen Pritschen, einer Küche und einem Klubraum.

Alle bekamen eine dreitägige Erholungszeit zugesprochen. Danach trieb man sie zum Bäumefällen in den Wald. Es war Februar 1942.

Laut Tagesnorm mußten 2 qm Holz gehackt und aufgeschichtet werden. Für die Erfüllung der Arbeitsnorm erhielten die Arbeiter eine Brotration von 700-800 Gramm; schafften sie die Norm nicht – 300 Gramm. Außerdem erhielten sie eine Wassersuppe aus weißem Mehl oder Nudeln, ungesalzen. Ab März 1943 bekam sie auch gesalzenen Fisch.

Man nahm von den „Arbeitsarmisten“ Fingerabdrücke. Es gab keine freien Tage; es durften keine Pakete empfangen, keinerlei Briefwechsel geführt werden. Etwas später gelang es einem Gefangenen einen Brief an das Zentralkomitee der WKP (B) zu richten, und 1944 oder 1945 wurder der Briefverkehr dann erlaubt.

In der Lagernebenstelle unterrichtete der ukrainische Meister Iwan Petrowitsch KRUNITZKIJ (geb. etwa 1915). Er stammte aus DNJEPROPETROWSK, wurde 1937 verhaftet und erhielt ewegen § 58-10 eine zehnjährige Lagerstrafe. Er berichtete, daß man 1941 Litauer, Letten und Esten zum 12. Lagerpunkt gebracht hätte. Im Winter kamen sie alle während der Waldarbeit ums Leben, kein einziger überlebte.

Unter den Häftlingen der Lagernebenstelle befand sich auch der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der ASSR der Wolgadeutschen, Genrich (Heinrich) Petrowitsch GEKMAN (HECKMANN?), geb. etwa 1885. Er war von Beruf Elektroingenieur. 1943 versetzte sie ihn als Spezialisten irgendwohin in den Ural, zum Bau eines Wasserkraftwerks.

In der Lagernebenstelle befanden sich auch viele leitende Persönlichkeiten aus der ASSR der Wolgadeutschen – die Sekretäre des Zentral- und der Bezirkskomitees, NKWD-Beamte u.a., aber es gab auch eine Menge einfacher Kolchosbauern.

P.P. ULRICH geriet ebenfalls ins WJATLAG, - zuerst in den 13., etwas später in den 14. Lagerpunkt. Er überlebte und wohnte später in KIROW.

Seine Ehefrau und Tochter wurden im April 1942 nach EWENKIEN verschleppt, in die Siedlung TURA. Dort blieben sie bis 1955 in der Verbannung.

Ende Mai 1943 kam der Leiter der WJATLAG-Verwaltung RECHELSON zur Lagernebenstelle. In der Lagerkantine fand eine Versammlung statt, auf der man alle „Arbeitsarmisten“ zusammentrieb. RECHELSON wandte sich mit folgenden Worten an sie: „Warum erfüllen wir das Plansoll nicht? Sabotieren wir ihn? Ihr helft Hitler! Ihr gehört erschossen!“ Keiner der anwesenden Parteisekretäre, die diese Rede mit angehört hatten, gab auch nur einen einzigen Laut von sich. Alle schwiegen. Da erhob sich Iwan Josifowitsch und bat ums Wort. „Herr Vorgesetzter, wenn der Bauer im Frühjahr zum Pflügen und Säen ausfährt, füttert er zuerst sein Pferdchen – und was macht Ihr? Einen salzigen Fisch gebt Ihr ihm, von dem er Durchfall bekommt; jeden Tag begraben sie ein paar Mann!“ Der Leiter erwiderte nichts, löste die Verdammlung in aller Eile auf und sah zu, daß er von der Lagernebenstellt fortkam. Nach drei Tagen rief der operative Bevollmächtigte (kein schlechter Mensch) Iwan Josifowitsch zu sich und sagte: „Da! Sie haben den Befehl für deine Verhaftung geschickt“.

Iwan Josifowitsch wurde am 3. Juni 1943 festgenommen und ins Lagergefängnis am 5. Lagerpunkt, an der Bahnstation LESNAJA, gebracht. Das Ermittlungsverfahren dauerte 7 Monate. In dieser Zeit gaben sie Iwan Josifowitsch 300 Gramm Brot pro Tag und eine Kelle Wassersuppe.

Zweimal fuhr man ihn zum Verhör in die Lagerverwaltung, etwas zwei Kilometer von der geschlossenen Zone entfernt. Der Ermittlungsrichter war Major POLJAKOW. Er verhielt sich ruhig, schimpfte nicht einmal. Beim zweiten Verhör sagte Iwan Josifowitsch zu ihm: „Ich werde nicht unterschreiben; wenn Sie wollen, erschießen Sie mich“. Eine „Trojka“ behandelte den Fall auch ohne Unterschrift und verkündete nach einem Monat das Urteil: § 58-10, 10 Jahre.

Nachdem Iwan Josifowitsch die Haftdauer erfahren hatte, brachten sie ihn zum 7. Lagerpunkt, der sich 7 km von der Station LESNAJA entfernt befand. Aufgrund seines Gesundheitszustandes (nach der Zeit im Lager-Gefängnis) wurde er für eine Arbeit in der Fabrik für Gebrauchsgüter eingeteilt. Dort arbeitete ein Teil der Häftlinge des 7. Lagerpunktes; die anderen waren in der Holzfällerei beschäftigt. In der Zone standen drei Männerbaracken mit durchgehenden, zweistöckigen Pritschen. Matratzen gab es nicht. In jeder Baracke lebten ungefähr 250 Gefangene. Es gab auch eine Frauenbaracke; sie war von der übrigen Zone abgetrennt. Die Frauen arbeiteten hauptsächlich in der Fabrik für Gebrauchsgüter, wo unter anderem Schach- und Damespiele hergestellt wurden. Iwan Josifowitsch arbeitete dort während seiner gesamten Haftzeit. Am 14.02.1953 gaben sie ihm an der Station LESNAJA eine Bescheinigung über seine Freilassung und brachten ihn in einem Stolypin-Waggon mit einem Verbanntentransport nach KRASNOJARSK. Hier blieb er bis 1956 unter Kommandantur-Aufsicht.

1944 wurde vom 7. Lagerpunkt eine Etappe nach INTA geschickt – etwa 500 Häftlinge.

30.03.1993, aufgezeichnet von W.S. Birger, „Memorial“, Krasnojarsk


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