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Verbannungs- / Lagerhaftbericht von Elvira Antonowna Dudina

Elvira Antonowna Dudina, geb. 1937 in Jenisejsk. Sie war das 5. Kind in der Familie; beendete 1955 die Schule N° 1 in Jenisejsk und begann am pädagogischen Institut, an der Fakultät für Physik und Mathematik, zu studieren. 1960 war sie mit dem Studium fertig und wurde anschließend als Lehrerin für Mathematik und Physik in den Makowsker Bezirk geschickt.

Манылова Ольга ПавловнаEltern:
Mutter – Olga Pawlowna Manylowa (geb. 1897 in Jenisejsk), ohne Schulbildung, 4erledigte zuhause Näharbeiten)
Vater – Anton Franzewitsch Koch (geb. 1888 in der Stadt Linz, Österreich), Kriegsgefangener im 1. Weltkrieg, 1920 nach Jenisejsk verschleppt (es gabnicht wenige von solchen Menschen: Gagel, Konnich). Die beiden ließen sich 1920-21 in der örtlichen Roschdestwensker Kirche trauen.

In der Familie waren 5 Kinder: 1921 – Ljubow, 1924 – Elisabeth, 1927 – Viktor, 1934 – Albert.

Im „schwarzen“ Jahr 1937 wurde der Vater nach § 58 verhaftet und bis Februar 1938 ins Jenisejsker Gefängnis gesteckt; danach sagten sie, dass er von dort abgeschrieben worden sei.
An jenem Tag kam der NKWD, um den Vater zu holen. Erstaunlicherweise ließen sie Güte walten – sie warteten eine ganze Stunde lang, bis die Kinder aus der Schule gekommen waren, damit man sich voneinander verabschieden konnte. Nach dieser Begebenheit wurde die Familie von allen schief angeschaut; sie waren der Meinung, dass man ihn für eine konkrete Tat eingesperrt hatte und nicht einfach nur so. Sogar von den kleinen Kindern wurden sie als Volksfeinde beschimpftt. Sie brachten dem Vater Pakete und Bündel und steckten sie durch eine kleine spezielle Fensterklappe. Er wurde abgemeldet, niemand weiß wohin, und erst 1953, als die Rehabilitationen von Opfern stalinistischer Repressionen begannen, erfuhren sie, daß man die Häftlinge hinter die Gefängnis-Einzäunung gebracht, einen Graben ausgehoben, alle am Rand hatte Aufstellung nehmen und dann erschossen hatte.
Sie wurden dort an Ort und Stelle begraben. 1953 kam ein Dokument aus Moskau, in dem es hieß, dass der Vater aus Mangel an Tatbeständen rehabilitiert sei.

Informationen aus dem Buch der Erinnerung: KOCH, Anton Franzewitsch, geb. 1889 in Österreich. Deutscher, stammte aus einer Bauernfamilie, absolvierte 5 Klassen an der deutschen Schule. Lebte eine Zeit lang in Jenisejsk. Verkäufer beim „Krastorg“ (Krasnojarsker Handelsgesellschaft; Anm. d. Übers.). Am 11.02.1938 verhaftet. Angeklagt nach § 58-6 des Strafgesetzes der RSFSR. Am 23.05.1938 von einer Kommission des NKWD und der Staatsanwaltschaft der UdSSR zur Höchststrafe verurteilt. Am 06.09.1938 in Jenisejsk erschossen. Am 28.05.1957vom Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR rehabiltiert (P-7009).

Auch alle fünf Kinder wurden als rehabilitiert anerkannt. Der Bruder arbeitete ab 1924, mit 14 Jahren, in der Stadt als Drechsler; er war Stachanow-Arbeiter. Albert wurde in die Armee einberufen, aber sie brachten ihn nur bis nach Krasnojarsk und dann aus nicht bekannten Gründen wieder zurück. Bei der Ausbildung der Kinder gab es keine Einschränkungen: Sie wurden problemlos als Pioniere aufgenommen, im Komsomol allerdings nicht gleich beim ersten Mal. In der Schule feierten sie das neue Jahr (es gab einen Ball, eine Tanne, „Life“-Musik, Kostüme, Masken, Tanz zu den Klängen eines Bajan, Gedichte und Lieder), den 8. März und den 7. November. Elvira Antonowna selbst begeisterte sich fürs Schlittschuhlaufen, nahm 1954 an Wettkämpfen teil. Am Institut spielte sie gern Tischtennis und Volleyball. Mehrfach fuhren sie zu Wettbewerben nach Krasnojarsk. Schwester Ljubow absolvierte die Schule und arbeitete ihr Leben lang im Kindergarten, zuerst als Erzieherin und dann als Leiterin. Elisabeth absolvierte 9 Schulklassen, machte eine Ausbildung zur Buchhalterin und nahm beim Staatrat eine Stelle als Buchhalterin an; später war sie als Buchhalterin bei der pädagogischen Fachschule tätig. Der Lohn wurde pünktlich bezahlt. Ljubow, Elisabeth und Viktor wurden für heldenmütige Arbeit in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges mit Medaillen ausgezeichnet. Nach der Verhaftung des Vaters mußten sie sich nirgends melden und registrieren lassen und konnten sich frei in anderen Ortschaften bewegen. Die Familie fühlte sich aufgrund des ihr von der örtlichen Bevölkerung zugeschriebenen Status benachteiligt. Festtage wurden nicht gefeiert, sie lebten in ärmlichen Verhältnissen, und als es später etwas leichter wurde, da begingen sie dann auch die im Kalender rot markierten Feiertage und die Geburtstage. Eine eigene Hofwirtschaft unterhielten sie nicht; sie erhielten Brot auf Marken und teilten es unter sechs Personen auf.

Sie erinnert sich an folgende Verbannte in Jenisejsk:

Interessante Fakten:

Die Schwester der Mutter, Klaudia Pawlowna Manylowa, heiratete einen Italiern mit demNachnamen Minapace (es gibt eine Tochter), später (1921) fuhr sie nach Italien, als der Gefangenenaustausch im Gange war. Beide Schwestern wären mit ihren Ehemännern ins Ausland gereist, als der Gefangenenaustausch erlaubt wurde, aber Olga Pawlowna änderte ihre Meinung und fuhr nicht. Die Schwester dagegen reiste aus und blieb in Italien. Sie korrespondierten bis 1947 miteinander. Auf diesem Foto sieht man Olga Pawlownas italienische Nichte:

Als das Kraftwerk auf dem ehemaligen Gefängnis-Gelände gebaut wurde, fand man die Knochen unbekannter Toter; sie wurden anschließend zum Friedhof gebracht, dort in einem Gemeinschaftsgrab bestattet, und man stellte auch einen Gedenkstein für sie auf.
In Jenisejsk gab es 13 Kirchen, sie wurden alle zerstört und ihre Glocken in der Erde vergraben; nur vier davon sind bis heute erhalten geblieben.

Die Befragung erfolgte durch: Julia Kalentschuk, Darja Bondarenko, Aleksej Babij

(AB – Anmerkungen von Aleksej Babij, Krasnojarsker „Memorial“) – Achte Expedition für Geschichte und Menschenrechte, Jenisejsk, Podtjosowo, 2011


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